Überwachung: Wer blickt da durch? | ZEIT ONLINE. (3.11.13)

Niemand weiß, ob er überwacht wird. Und genau dieses Nichtwissen macht uns zu Sklaven des Internets. von 

So zynisch es klingt: Der NSA-Skandal hat auch sein Gutes. Seitdem Edward Snowden den Kontrollwahn der US-Geheimdienste ans Tageslicht gebracht hat, ist es mit der Internet-Lobhudelei vorbei. Die denkfaule intellektuelle Begleitlobby von Google, Facebook und Co. ist kleinlaut geworden. Wer bislang gegen ihre digital correctness verstoßen und es gewagt hatte, dem Jubelchor der Techno-Evangelisten zu widersprechen, der wurde per Mausklick als „Kulturkritiker“ aussortiert. Er war ein analoger Altmensch, der in der Besenkammer seiner Vorurteile die Morgenröte der Zukunft verschläft.

Tatsächlich ist nun eine konkrete Utopie zerplatzt, nicht irgendeine luftige Spinnerei, sondern ein ganz handgreifliches und sehr menschenfreundliches Versprechen. Mitten in dieser kontrollsüchtigen Gesellschaft, so lautete das Versprechen, schaffe das Internet eine Zone radikaler Freiheit. Hier könne sich der Bürger unbeobachtet bewegen; fern von den Argusaugen des Staates, ohne Polizei, Gesinnungskontrolle und den sanften Terror der Mehrheit, kurz: ohne den Großen Anderen, all die unsichtbaren Disziplinarmächte, die den Bürger unter Beobachtung stellen, die sein Reden und Denken regulieren und ihn auf Linie bringen. Das Netz sei ein Geschenk des Himmels, ein machtfreier Raum in der übermächtigen Moderne.

Nachdem sogar die Bundeskanzlerin ins Fadenkreuz der Schnüffler geriet, ahnen auch die Wohlmeinenden: Es war ein Irrtum. Das Internet ist zwar immer noch ein Medium der Freiheit, aber zugleich eine Technologie der Macht; es mag das jüngste Kapitel in der Geschichte der menschlichen Emanzipation sein, doch zugleich ist es auch das allerneueste Werkzeug in der langen Geschichte des Kontrollierens und Überwachens.

(…)

Nun wird es ziemlich gemein. Die Beobachtungsmächte – Internetindustrie und Staatsspäher – sammeln nämlich nicht bloß Daten, sondern verbinden und „konfigurieren“ die Informationen, die sie durch automatisierte Abschöpfung über eine Person gewonnen haben. Auf diese Weise entsteht ein digitaler Zwilling, ein beliebig aushorchbarer Doppelgänger im Netz, eine Chiffrenexistenz, die auch dann noch weiterlebt, wenn der Datenspender längst tot ist.

Dieser „persönliche“ Datenzwilling hat für den Originalmenschen etwas zutiefst Unheimliches, und zwar nicht nur deshalb, weil man ihn nicht sieht, sondern weil er zugleich aus Eigenem wie auch aus Fremdem besteht. Sein „Datenkörper“ verdankt sich der lebendigen Ausgangsperson und ihren Suchbewegungen; doch sein „Charakter“ und seine „Seele“ werden von der Internetindustrie definiert – von fremden Blicken, fremden Interessen, fremden Profilern.

Mit einem Wort: Das Ebenbild im Netz ist ein Wesen, das anonyme Beobachter aus Datenmaterie geformt und mit ihrer paranoiden Fantasie „beseelt“ haben. Das Ich ist wieder ein anderer, doch diesmal ist es kein freies Spiel mit wechselnden Masken, sondern es ist Ernst. Niemals wird man wissen, was das eigene Netzdouble so treibt, und niemals wird man erfahren, was die Beobachter alles erspäht, erkundet und gehortet haben. Es ist so, als habe man seinen Schatten verkauft. Der Ausdruck Entfremdung ist dafür ein recht harmloses Wort.

„Ich habe nichts zu verbergen.“ Das ist die Standardphrase, mit der viele achselzuckend auf den Speicherwahn reagieren, auf all die schmutzigen Geheimnisse, die nun aufgeflogen sind. „Ich fühle mich unbeobachtet. Ich denke nicht einmal dran.“

Aber stimmt das? Kann man sich vornehmen, einen Gedanken erst gar nicht zu denken – oder hat man ihn dann bereits gedacht? Die Perfidie der Überwachung besteht ja gerade darin, dass sich die Beobachter nicht identifizieren lassen; man weiß von ihnen nur, dass man nichts von ihnen weiß. Sie müssen gar nicht drohen und fuchteln, es reicht, wenn sie Ungewissheit erzeugen. „Nie sollst du wissen, wann wir dich beobachten, damit du dich nie unbeobachtet fühlen kannst.“ Die Späher sind einfach „da“, sie schleichen durchs Imaginäre und setzen das Leben des Einzelnen in den Konjunktiv: „Es könnte ja sein …“

Das reicht schon. Es könnte sein, dass man beobachtet wird – schon dieser Gedanke ist eine Nötigung, er macht unfrei und zwingt den Internetbenutzer dazu, sich in daueralarmierter Wachsamkeit mit dem Auge des Beobachters zu beobachten. Was weiß er, was ich nicht weiß? Bin ich verdächtig? Bin ich schuldig? Mit der fröhlichen Naivität des Maskenspiels, mit der oft gefeierten Wiederkehr des „Theatralischen“ im Netz, ist es vorbei. Nichts mehr scheint unschuldig und die gespielte Unschuld schon gar nicht.

Natürlich gibt es jederzeit die Möglichkeit, die Flucht nach vorn anzutreten, alle Masken fallen zu lassen und nichts mehr zu verschlüsseln. „Ich habe nichts zu verbergen, und genau das ist mein Geheimnis.“ Man zeigt sich dem anonymen Auge nackt und verbirgt sich durch Enthüllung. Doch seine alte Souveränität erhält man dadurch nicht zurück, denn schließlich tut man es nicht freiwillig.

„Sein ist Gesehenwerden.“ Dieser Satz des irischen Philosophen George Berkeley (1685 bis 1753) ist in der europäischen Kulturgeschichte eine heilige Formel, und in der Digitalmoderne scheint sich seine Einsicht zu erfüllen, wenngleich ganz anders, als sie einmal gemeint war. Für Berkeley ist es der Blick des Gegenübers, der als verlängerter Blick Gottes den Menschen anerkennt und in seinem Sein bestätigt. Ganz anders im Netz: Der Blick des „Gegenübers“ kann nicht erwidert werden, der weltliche Beobachtergott bleibt anonym, voller Argwohn und Rachsucht. Sein Blick ist panoptische Kontrolle, und der Gesehene wird in seinem „Sein“ durch ihn nicht geschaffen, sondern fragmentiert, gespalten, verunsichert.

Die Kulturgeschichte hält übrigens für einen Beobachter, der sich selbst nicht beobachten lässt, ein schönen abendländischen Ausdruck bereit: Es ist der Teufel. Natürlich könnte man den Teufel aus dem Netz austreiben. Man müsste es nur wollen.

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