Überwachung: Rechtlos? Aber sicher! | ZEIT ONLINE.

Rechtlos? Aber sicher!

Ein Jahr nach dem NSA-Skandal stellt sich die Frage, ob wir ernsthaft etwas gegen unsere Überwachung haben. von 

Zum Skandal, den die Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden vor etwa einem Jahr ausgelöst haben, ist jüngst das Buch Der NSA-Komplex der Spiegel-Redakteure Marcel Rosenbach und Holger Stark erschienen, das man nur als Glücksfall bezeichnen kann (Deutsche Verlags-Anstalt, 384 S., 19,99 €). Nicht nur weil die zahlreichen Verzweigungen der geheimdienstlichen Überwachungsanstrengungen en détail nachgezeichnet werden, was ein kriminologisches Lesebedürfnis befriedigt. Sondern weil man nach der Lektüre schlechterdings weiß, dass das Ausmaß des Skandals nicht im Ansatz ins kollektive Bewusstsein gerückt ist.

Man muss es sich noch einmal deutlich vor Augen führen: Die NSA mit ihren 40.000 Mitarbeitern und einem Etat von 10,6 Milliarden Dollar im Jahr sammelt jährlich Billiarden von Datensätzen, und zwar verdachtsunabhängig. Die Behörde wird nicht aufgrund eines begründeten Anlasses tätig. Sie sammelt Daten, weil jemand in Zukunft verdächtig werden könnte. Und zwar so gut wie in jedem Staat der Welt. Sie hat nicht nur Zugriff auf Metadaten, sondern aufgrund der ungehemmten Spionage der britischen Partnerorganisation GCHQ und ihres berüchtigten Tempora-Programms auch auf die Internetinhalte – auf Mails, Fotos, Gespräche, auf Einträge in Sozialen Netzwerken, kurzum: auf alle Daten, die über das transatlantische Glasfasernetz der Briten gelenkt werden. Die Spionagetätigkeit wird lediglich durch die Speicherkapazität begrenzt, die aber – etwa mithilfe eines riesigen, im Bau befindlichen Rechenzentrums in Utah – derzeit massiv ausgebaut wird.

Rosenbach und Stark zeigen auf, was noch bis vor wenigen Monaten als irre Verschwörungstheorie abgetan worden wäre. Erstens: Unsere Aktivitäten im Netz werden von der NSA umfassend aufgezeichnet. Zweitens: Die Überwachung erfolgt maßgeblich mithilfe eines Mitglieds der Europäischen Union, nämlich Großbritannien. Drittens: Die Bundesrepublik ist, was die Sicherheit der Kommunikation ihrer Bürger anbetrifft, kein souveränes Land. Viertens: Die Telekommunikationsunternehmen kooperieren umfassend mit den Geheimdiensten. Fünftens: Die britischen und amerikanischen Geheimdienste werden von anderen staatlichen Institutionen, wenn überhaupt, nur mangelhaft und nur punktuell kontrolliert. Die NSA verfährt weitgehend autonom, was direkt auf George W. Bush und seinen Antiterror-Krieg zurückgeht: Er hat die Kompetenzen und Zugriffsmöglichkeiten des Geheimdienstes nach dem Anschlag auf das World Trade Center unter Ausschluss der Öffentlichkeit radikal ausgeweitet.

Man muss an all dies erinnern, Punkt für Punkt, um das Missverhältnis zwischen dem tatsächlichen NSA-Skandal und seiner öffentlichen Wahrnehmung zu ermessen. Zwar wird die Datensammlerei durchaus problematisiert, vorzugsweise im Feuilleton der FAZ und im Spiegel, zugleich aber werden die Zunahme der digitalen Vernetzung und das erhoffte demokratiestiftende Potenzial von Facebook und Co. gefeiert – als bestünde gar kein Zusammenhang zwischen einem ungebremsten Ausbau der Vernetzung und einem ungebremsten Ausspähen durch die Nachrichtendienste. Noch die glühendsten Kritiker der geheimdienstlichen Aktivitäten wie Rosenbach und Stark aber bekunden mit einiger Umständlichkeit, dass sie natürlich keine Gegner der digitalen Revolution seien, sondern lediglich den staatlichen und privatwirtschaftlichen Missbrauch von Daten beklagten. Wer die NSA kritisiert, bringt Technikskepsis und Technikeuphorie vorsorglich in Einklang, um nicht den Eindruck des Gestrigen und Unfrischen zu hinterlassen.

Es ist diese Zaghaftigkeit, die der Diskussion um die Digitalisierung fast aller Lebensbezüge letztlich etwas Esoterisches und Unhandliches verleiht. Und womöglich etwas Fatales: Denn so gut wie alle Industriezweige arbeiten derzeit fieberhaft am „Internet der Dinge„, an unserer Vernetzung mit dem Kühlschrank oder dem Auto, der Heizung, dem Fernseher – und damit nicht nur an einer massiven quantitativen wie qualitativen Steigerung des Datenaufkommens, sondern auch an der lückenlosen Algorithmisierung unseres Alltags, die darauf abzielt, unser Verhalten berechenbar, antizipierbar und damit verwertbar zu machen.

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