Byung-Chul Han: Psychopolitik über Neoliberalismus und Macht – SPIEGEL ONLINE.

Gesellschaftskritiker Byung-Chul Han: Wir Facebook-Kapitalisten

Von Björn Hayer

Philosoph Byung-Chul Han: "Neoliberalismus ist der Kapitalismus des Gefällt mir" Zur Großansicht

S. Fischer Verlag

Philosoph Byung-Chul Han: „Neoliberalismus ist der Kapitalismus des Gefällt mir“

„Das Individuum wird zum Geschlechtsteil des Kapitals“: Der Gesellschaftskritiker Byung-Chul Han lässt in seinem jüngsten Buch wenig Gutes am Neoliberalismus. Seine These: Die Freiheit wird missbraucht – um uns alle auszubeuten.

„Du bist Deutschland“ wurde uns noch vor wenigen Jahren im Fernsehen zugerufen – eine Motivationsspritze für den kleinen Mann und die kleine Frau, um als arbeitsames, pflichtbewusstes, stets innovatives und, ach ja, teamfähiges Individuum dem großen Ganzen zu dienen.

Während Michel Foucaults „Disziplinargesellschaft“ noch von klaren Hierarchien ausging, ist in der Projektgesellschaft jeder Einzelne Unternehmer und Arbeitgeber zugleich. Man sollte nun meinen: Die Summe der sich selbst organisierenden Ich-AGs brächte allen mehr Freiheit. Doch dem ist nicht so, wie uns der in Berlin lehrende Philosoph Byung-Chul Han in seinem erhellenden Essayband „Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken“ vor Augen führt.

„Das neoliberale Regime verwandelt die Fremdausbeutung in die Selbstausbeutung“, schreibt er. Wir sind auf ständige Selbstoptimierung getrimmt und treiben Raubbau am eigenen Geist und Körper. Für die Profiteure mag dies weitaus effizienter sein als jener Klassenkampfkapitalismus, den noch Marx beschwor. Gleichwohl verwirft der 1959 in Südkorea geborene Denker das marxistische Konzept nicht, sondern denkt es konsequent weiter. Wo die schrankenlose Konkurrenz den Markt beherrscht, nährt die Freiheit das monetäre Wachstum. „Somit wird das freie Individuum zum Geschlechtsteil des Kapitals degradiert.“

Han spart nicht mit harten Worten, um den Leser vor dem drohenden Untergang des Abendlandes zu warnen. Aus einer Melange aus Heidegger, Foucault und Adorno entwirft er eine kulturkritische Diagnose, die in Zeiten von Cyberspionage und internationaler Überwachung die virulente Krise der Freiheit beschreibt.

Wissen ordnet uns in eine Herde blinder Wiederkäuer

Dabei knüpft er an seine letzten Werke an: Bereits in „Im Schwarm. Ansichten des Digitalen“ (2013) und der „Transparenzgesellschaft“ (2012) untersucht er den Organismus der digitalen Netzwerke und legt pointiert bedenkliche Metastasen frei. Es sind nicht allein die Datensammler der NSA und anderer, die ihm als Bedrohung eines verwesenden Liberalismus erscheinen. Es ist auch unser permanenter Drang zur Selbstausstellung, das stete Füttern von Pinnwänden und Blogs mit privaten Informationen.

Han beschreibt eine Gesellschaft, die ihr Sensorium für Intimität, Geheimnis und allen voran innere Besinnung verloren hat. Darin flottieren Informationen immer seichter. Wissen wird häppchenweise konsumierbar und derartig geglättet, dass es problemlos durch die digitalen Kanäle gejagt werden kann, wodurch unsere Gegenwart immer mehr an Beschleunigung gewinnt. Die Folge: Geistige Verarmung und eine allgemeine Konformisierung der Menschen. Wissen hebt uns nicht mehr ab, sondern ordnet uns in eine Herde blinder Wiederkäuer. Wer sich dem entzieht, den treffen sogleich Denunziation und Ausgrenzung.

Das Gesellschaftsklima ist rau und macht potenziell krank. Dies hatte der Autor auch 2010 in seiner „Müdigkeitsgesellschaft“ bereits festgestellt. Überhaupt erweckt so manches in diesem impulsiven Werk den Eindruck, als wäre es einfach neu aufgewärmt. Wer dies glaubt, unterschätzt Hans Schreibprozess. Er nimmt in seinen Veröffentlichungen immer wieder verschiedene Fäden auf und webt sie stets engmaschiger zu einem einzigen Teppich zusammen.

Ärzte als Optimierer, Manager als Motivationstrainer

In der „Psychopolitik“ verschmelzen Medien- und Kapitalismuskritik zum stimmigen Gesamtbild einer ebenso verblendeten wie durch fremde Mächte gelähmten Gesellschaft. Facebook mutet dafür immer wieder als symptomatisch an. Allen voran der „Like“-Button, von dem doch so viel demokratischer Glanz ausgeht, lässt uns zu Objekten einer subtil agierenden Informationsindustrie verkommen, da Big Data-Unternehmen jedwede Bewertung und Kundgebung zu sammeln und anschließend als Konsumentenprofile zu verkaufen wissen. „Der Neoliberalismus ist der Kapitalismus des Gefällt mir“.

Mit teils polemischer Verve dekliniert Han durch, wie anstelle der körperlichen Kraft die Lenkung der Psyche zur wichtigsten Ressource im Produktionsprozess des 21. Jahrhunderts avanciert. So müssen sich Ärzte zunehmend als Optimierungshelfer und Manager als Motivationstrainer verstehen.

Selbst wenn der Kulturkritiker mithilfe seiner Vergleichs- und Sprachspiele manchmal doch allzu steile Thesensprünge wagt – etwa beim Versuch, dem Handy eine ähnlich reinigende Funktion wie einem Rosenkranz zuzuschreiben – trifft Han mit bestechender Präzision den Nerv der Zeit. Während sich die Geisteswissenschaft wegen ihres vermeintlichen Bedeutungsverlusts in Larmoyanz flüchtet, offenbart Han souverän und wortstark, welch zentrale Rolle sie eigentlich spielen könnte: die des Mahners und kritischen Beobachters ihrer Zeit.

‚Homeland‘ Season 4 Teaser Previews Carrie’s New Life.

‚Homeland‘ Season 4 Teaser Previews Carrie’s New Life

Posted: 07/18/2014 4:32 pm EDT

Carrie’s in for trouble on „Homeland“ Season 4. Showtime debuted the series‘ new teaser and poster at the TCA summer press tour, and the one-minute video shows bits and pieces of what’s to come. Most noticeably, there’s a baby! And Carrie’s holding it! She also throws back pills and chugs wine like nobody’s business, but that’s old news.

From the looks of the teaser and what we already know about Season 4, much of this year’s „Homeland“ was shot in South Africa as Carrie is stationed in Islamabad, Pakistan. Corey Stoll, Michael O’Keefe, Raza Jaffrey and Laila Robins will also join the cast, though it’s unlikely we’ll see any more of the Brody family. Watch the teaser below. „Homeland“ Season 4 premieres on Sunday, Oct. 5 on Showtime.

homeland

Reinhold Messner und Christoph Ransmayr im Interview – Gesellschaft/Leben.

»Man kommt nie wieder wirklich zurück«

Den Extrembergsteiger Reinhold Messner und den Schriftsteller Christoph Ransmayr verbindet seit 25 Jahren eine Freundschaft. Ein Gespräch über gemeinsame Reisen, erfrorene Schmetterlinge und die Sehnsucht nach Grenzerfahrung.

Von Thomas Bärnthaler und Gabriela Herpell (Interview)  Fotos: Robert Brembeck


SZ-Magazin: Herr Messner, Herr Ransmayr, Sie sind seit 25 Jahren befreundet. Wie haben Sie beide sich kennengelernt?
Christoph Ransmayr:
1989 hat mir Reinhold einen Brief geschrieben, der mich gefreut, aber auch verlegen gemacht hat. Er hatte mein Buch Die Schrecken des Eises und der Finsternis gelesen und lud mich ein, seine Expedition zum 8500 Meter hohen Lhotse zu begleiten. Da musste ich die Karten auf den Tisch legen und sagen, ich komme zwar auch aus einer Berggegend, aber ich bin kein Höhenbergsteiger, auch kein Eiswanderer oder Abenteurer.
Reinhold Messner: Ich weiß noch, ich bereitete gerade meine Antarktisdurchquerung vor. Eine neue Welt für mich: keine Berge, nur Eis und Kälte. Dementsprechend kamen Ängste, Zweifel auf. Da drückte mir jemand dieses Buch in die Hand, das mich mächtig aufgewühlt hat. Ich dachte: Wenn Eiswandern so schlimm ist, wie darin beschrieben, mache ich die Reise besser nicht. Aber ich wollte diesen Autor kennenlernen. Ich dachte, Christoph sei die Romanfigur Mazzini, der nach Spitzbergen geht und sich dort auf den Spuren der berühmten Payer-Weyprecht-Expedition in der Wildnis verliert.

Und dann sagt Ihnen dieser Autor, dass er nie im Franz-Josef-Land gewesen war, wo das Buch spielt. Waren Sie nicht enttäuscht?
Messner
: Ich war sprachlos und konnte es nicht fassen. Vor allem die Stellen, in denen der Alpinist und Entdecker Julius von Payer zitiert wird, den es ja wirklich gegeben hat, hatten mich beeindruckt. Ich habe dann Payers Bücher noch mal durchgekaut – und keine so guten Passagen gefunden. Also habe ich Christoph gefragt, wo hast du diese Passagen her? Da hat er mir erzählt, dass er sie leise umgearbeitet hatte. Das ist Christophs Stärke. Das kann nur der Dichter. Die meisten Bergbücher sind ja unlesbar, weil darin Menschen wie Roboter einen Berg rauf und wieder runter gehen und dabei Zelte aufbauen. Der Dichter kommt mit seinen Bildern viel näher an die Wahrheit heran.

Aber waren Ihnen die Fakten nicht immer besonders wichtig, Herr Messner?
Messner:
Ach, die Fakten! Machen wir uns nichts vor: Ich kann doch gar nicht wissen, was mein Gedächtnis behält und was es wegwischt. Oft ist die erfundene Geschichte wahrer als die Tatsache. Verdichten ist Reduktion auf das Wahre.

Wie darf man sich die Freundschaft zwischen einem Extrembergsteiger und einem Dichter vorstellen?
Ransmayr:
Die Welt oder das, was man von ihr erfahren will, wird durch den anderen vielschichtiger, vollständiger. Für mich waren die Gespräche mit Reinhold manchmal, als ob ich mit den Vorbildern meiner Romangestalten – Payer und Weyprecht oder auch jemandem wie Shackleton oder Amundsen – reden würde.
Messner: Wir sind miteinander im Gebirge unterwegs. Wir treffen uns regelmäßig und reden über alles Mögliche. Und nach der zweiten Flasche Rotwein kommen wir auf gute Ideen.
Ransmayr: Irgendwann sind wir auch gemeinsam über die Inseln des Franz-Josef-Archipels gewandert, durch eine Gletscherlandschaft, von der ich da und dort das Gefühl hatte, sie sei meine Erfindung, weil ja mein Roman in dieser hocharktischen Wildnis spielt. Wir waren zusammen im Himalaja, in Brasilien, in Indochina, Südostasien, auf der arabischen Halbinsel, auch in der Südsee, aber nie in jenen Höhen, in denen Reinhold seine Alleingänge gewagt hat.

Was hielt Sie davon ab?
Ransmayr
: Diese Höhen würde ich nicht überleben, weil mir dafür nicht nur die Kraft und die notwendigen Eignungen, sondern auch die Leidensfähigkeit fehlen.
Messner: Inzwischen ist er ein ganz passabler Berggeher.
Ransmayr: Ich habe durch ihn eine Welt wiederentdeckt, von der ich damals dachte, sie läge seit Langem hinter mir: die Berge. Als er mich einlud, mit ihm über die alte Payer-Route auf den Ortler zu gehen, war ich überzeugt, dass das meine Möglichkeiten übersteigen würde. Ich habe mich dann auf den Bergen meiner Kindheit im oberösterreichischen Salzkammergut vorbereitet, im Höllengebirge und im Toten Gebirge. Ich ging dabei in meine eigene Geschichte zurück und nahm so einen Faden wieder auf, der in meinem Leben lange nur lose herumgeflattert war.

Wie wichtig ist echte Erfahrung für einen Schriftsteller?
Ransmayr:
Es ist doch Geschwätz zu sagen, die wahren Abenteuer fänden im Kopf statt. Ohne die Erfahrung, die ein Mensch in der Welt tatsächlich gemacht hat, gibt es keine Gedanken und kein Gedankenspiel, gibt es keine Träume, keine Fantasien. Welt heißt dabei natürlich auch zwischenmenschliche Erfahrung, nicht nur das Erlebnis in der Höhe, in der Wüste, der Einsamkeit. Irgendwann muss sich jemand hinausgewagt und vielleicht sogar sein Leben aufs Spiel gesetzt haben, um Bilder, Empfindungen, Gedanken mitzubringen, an denen auch der Dichter, der Philosoph, der Komponist weiterspinnen kann.

Herr Messner, hatten Sie nie Angst, dass Ihrem Freund auf Ihren gemeinsamen Expeditionen etwas zustößt?
Messner:
Zuerst einmal ist für mich erstaunlich, wie geschickt Christoph wurde mit den Jahren. Als wir über die Tafelberge in Franz-Josef-Land geklettert sind, hatten wir ein Gewehr dabei – wegen der Eisbären. Ein paar
Jahre später sind wir im Osten von Tibet, wo Christophs Roman Der Fliegende Berg spielt, sogar auf richtig hohe Berge gestiegen.

Fühlt man sich eigentlich beschützt an der Seite eines Reinhold Messner?
Ransmayr:
Und wie. Die Durchquerung Osttibets hätte ich ohne ihn nie gemacht, und ich wäre auch nicht ohne ihn durch Franz-Josef-Land gegangen. Die Eisbären sind im arktischen Sommer wegen der vielen Robben auf dem Packeis zwar einigermaßen satt, aber es war mehr als beruhigend zu wissen, dass Reinhold ein Gewehr trug und notfalls auch damit umgehen konnte.

Wer gibt das Tempo vor?
Ransmayr:
Reinhold hat auf unseren Wegen die fürsorgliche Art eines Bergführers, der das Tempo einer Gruppe immer das Tempo des Langsamsten sein lässt. Wenn wir zu zweit sind, ist es mein Tempo.
Messner: Christoph ist sehr gut in Form. Wir reden auch nicht viel. Wenn man richtig geht, durch Tiefschnee, redet niemand viel. Bei Achttausender-Besteigungen rede ich einen Satz am Tag, wenn’s hoch kommt.

Karl Ove Knausgård: Der Entschleuniger | ZEIT ONLINE.

Diese Lektüre ist ansteckend: In den autobiografischen Büchern des norwegischen Schriftstellers Karl Ove Knausgård passiert nichts Spektakuläres – und doch verfallen ihm die Leser weltweit wie sonst nur „Harry Potter“. von 

Der Schriftsteller Karl Ove Knausgård

Der Schriftsteller Karl Ove Knausgård  |  © dpa

Diesem Sog konnte ich mich irgendwann nicht mehr entziehen. Es gibt Bestseller, es gibt von der Kritik gerühmte Bücher, es gibt Skandalbücher – aber manchmal, selten, treten Bücher in dein Aufmerksamkeitsfeld, deren wachsender Ruhm sich wie ein neuartiges Virus per Tröpfcheninfektion und nicht auf den normalen Wegen medialer Vermarktung zu verbreiten scheint. Wie bei einer Grippewelle ist man dann überrascht, wen es im weiteren Bekanntenkreis schon alles erwischt hat. Im Moment geht die Knausgård-Epidemie um. Die unterschiedlichsten Leute aus den verschiedensten Berufswelten (was immer ein interessanter Indikator ist) sprechen einen auf den norwegischen Schriftsteller Karl Ove Knausgård, Jahrgang 1968, an und bitten um professionelle Hilfe: „Was hat dieser Autor mit mir gemacht? Ich kann nicht mehr ohne ihn!“ Da beschreibt einer auf Hunderten von Seiten fast ohne stilistische Effekte und gänzlich ohne dramaturgische Cliffhanger den mehr oder weniger ruhigen Fluss seines unspektakulären Lebens, und die Leute können nicht genug davon kriegen.

Sucht ist die Zentralmetapher, mit der Knausgård-Leser ihr Lektüreverhalten beschreiben. Das gab es zuletzt bei 13-Jährigen mit Harry Potter. Das große autobiografische Projekt von Knausgård heißt im Original Min Kamp und umfasst sechs Bände. Der deutsche Verlag hat aus nachvollziehbaren Gründen davon abgesehen, die Bücher unter dem Titel Mein Kampf in den Handel zu bringen. Die ersten drei auf Deutsch erschienenen Bände heißen Sterben, Lieben und Spielen. Jetzt ist Band vier erschienen: Leben.

Ich bin ein Spätzünder, ich habe die ersten drei Bände nicht gelesen, sondern bin gleich bei Band vier eingestiegen, um das Knausgård-Syndrom am eigenen Leibe zu überprüfen – naturgemäß mit der für Kritiker typischen Skepsis gegenüber angeblichen Hypes …

Es hat auch bei mir funktioniert. Die Droge hat angeschlagen – und es fällt mir nicht leicht zu sagen, welche Wirkstoffe da am Werk sind. Gewiss natürlich der Authentizitätseffekt. Knausgård erzählt in Min Kamp von seinem Leben ohne vorsätzliche Fiktionalisierung und den entsprechenden Kulissenzauber. Deswegen passiert auch nichts Krasses, wie wir es oft in bemüht radikalen Romanen schlucken müssen. Das Krasse als Effekt der poetischen, symbolischen Verdichtung kommt hier nicht vor. Das Krasse baut sich hingegen langsam, aber dann umso mächtiger in der genauen Protokollierung des Alltäglichen unserer Wünsche, Sehnsüchte und Triebe auf.

Bücher, die ihre Wahrhaftigkeit ausstellen, können schnell etwas Ranschmeißerisches haben. Bei Knausgård dagegen stellt sich der Realitätseffekt durch eine extreme, gleichzeitig sanfte Annäherung von erzählter Zeit und Erzählzeit her. Es fühlt sich an, als wäre man plötzlich von der digitalen Datenkomprimierung erlöst und würde das Leben wieder analog, eins zu eins wahrnehmen. Man könnte es eine Entschleunigungskur nennen. Als wäre man endlich bei dem Tempo angekommen, in dem das Leben nicht mehr durch Geschwindigkeit verzerrt an einem vorbeirauscht, sondern in dem man es in seiner Körnigkeit geradezu wie mit den Händen zu betasten vermag. Es ist ein Marketingbegriff geworden, aber Knausgårds Erzählen ist eine Schule der Achtsamkeit.

Aber genügt das, um zu erklären, warum seine Bücher so viele Leser in den Bann ziehen? Langsame Bücher – denken wir an Peter Handke – sind ja meist Bücher, die man nicht verschlingt. Knausgård hingegen schreibt langsame Bücher, die man schnell liest. Wie ist das möglich? Welche artistischen Verfahren setzt der Autor ein?

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Germany’s World Cup triumph a victory for intelligent design | Barney Ronay | Football | The Guardian.

Germany’s World Cup triumph a victory for intelligent design

The diligence of the country’s rebuilding of its football structure found fitting reward in Mario Götze’s winning goal
Germany v Argentina
Germany celebrate their World Cup triumph after the extra-time success over Argentina in Brazil. Photograph: Sipa/Rex

Oh, Germany. You left it horribly late. But then, after 24 years, €1bn invested and several half-cut new dawns along the away, you were always likely to. Welcome to the footballing future. Not only does Europe now have its first champions on South American soil; it also has the most European of all European champions: a sporting triumph of controlled, superbly engineered uber-Europeanism applauded at the end by both Angela Merkel and Michel Platini inside the portable corporate mega-drome that was once the distinctively Brazilian Maracanã.

This was an absorbing, if not quite free-flowing final in which Argentina played with great heart and tactical intelligence, breaking from deep and making enough chances to win the game in normal time. Indeed, as the match crawled through an increasingly fretful second period there was a dawning sense that this simply was not meant to be for Germany, who had seemed anxious at first and enervated at times later on.

There is a depth to this German squad, though, not just of resolve but of high-class attacking talent. What a goal Mario Götze’s winner was when it came, from a player who had been a genuine menace with his subtle passing and swaying, roly-poly lateral movement ever since his introduction as a late substitute. There is evidence even here of Germany’s wealth of talent: the substitute who scored the winning goal in the World Cup final also happens to be a £31m Bayern Munich player, a wonderfully talented No10 who has often found himself crowded to the fringes by the weight of competition in his position.

The finish itself also told a story in miniature. Aged 22, Götze is a product from boyhood of the modern German academy system. His habits are those of the Deutscher Fussball-Bund’s supremely successful coaching programmes, a player who fits not just the technical requirements but the favoured physical type, a short, scurrying, perfectly balanced rubber ball of an inside forward. As André Schürrle’s cross came from the left Götze produced two expert touches. The first on his chest was superbly cushioned, his body angled to drop the ball without breaking stride. The second saw the ball nudged with loving precision across Sergio Romero and into the corner.

If it felt a little like a training-pitch goal, then this was also oddly appropriate, as was the goal’s resemblance to Andrés Iniestas’ winner in the final in 2010. Both goals came from a well-executed finish across the goalkeeper, Iniesta’s in the 116th minute, Götze’s three minutes earlier here. Both were are also products of the kind of hard-won technical skill that looks less and less like luck and more and more like a heavily resourced, intelligently geared sporting system coming to deserved fruition.

At the final whistle Germany’s substitutes rushed on to the Maracanã pitch waving their arms above their heads in shock that tells a great deal about the spirit of this team, the magnitude of the moment and also perhaps just a little bit about the wider pressures of Germany’s position coming into this tournament. Certainly Jogi Löw’s expression at the final whistle was something close to blissful disbelief, Germany’s manager strolling the fringes of the pitch, grinning goofily and looking slightly wild in a moment of triumph that has been eight years and a great deal of wearing expectation in the making.

It has been possible to feel a little sorry for Löw, for all his genius manqué stylings – the polo necks, the highfalutin chat, the attitude, if not before now the medals of a genius. But there is a burden too in being tasked with transforming such concerted, systemic investment into victory on the pitch. Löw has lifted that now. Part of the national structure for a decade, he will feel not just vindicated but overwhelmingly relieved too.

Victory here was always likely to be presented as a triumph of that frictionless German system, and indeed it makes complete sense that Germany should win the World Cup. This is the most perfectly calibrated, most relentlessly first-world system for producing high-class footballers yet devised, a piece of intelligent design that has now flowered to its logical end point.

There is as always a very obvious lesson here for the mismatched Premier League-FA shemozzle that governs English football. If you build it – and spend €1bn on enlightened facilities – they will come. And so they have. Of this current squad 14 players, including the top goalscorer (Thomas Müller) and overall midfielder of the tournament (Toni Kroos) were all under-13 or younger when the DFB reorganised German football. Germany’s top tier has put the bottom line to one side, invested with speculative good sense and ended up hugely in credit. What riches!

And yet despite scooting through to this final on a surge of attacking success Germany found themselves caught up in a tight, gristly but still absorbing match. As the match kicked off on a lovely sunny Rio afternoon there was the thrilling spectacle of Argentina’s fans inside this open, shallow-tiered giant seashell of a stadium singing that great bouncing sing-along of a national anthem but the early pattern was clear: Germany took possession while Argentina broke swiftly when they could, pressing four times with purpose in the first half down Germany’s left. One thing was clear: Argentina were not afraid, as Brazil had apparently been terrified, of this fluid, feather-footed footballing superpower-in-the-making. And yet it seemed inevitable, logical, even a little irresistible that Germany should triumph: and fitting, too, it should come with a show of strength in depth.

Germany’s previous World Cup victories have all had something era-defining about them. In 1954 West Germany were still a middleweight football power prior to a final against Hungary that was decided by Helmut Rahn’s late goal, and captured in the famous, near-delirious commentary (“Tor! … Tor für Deutchsland!”). Twenty years later victory for the great team of Gerd Müller, Paul Breitner and Franz Beckenbauer was the first of an astonishing run of finals over the next 16 years. The 1990 victory against Argentina arrived with a sense of an emerging Germany on the verge of a more substantial dynasty. Or not as it turned out: the intervening 24 years have seen one European Championship win and a generational retrenchment.

This was an utterly merited World Cup victory, reward for the entire spectrum of German football, from clubs to football association, players to coaches. The challenge for the rest of the world is to interrupt the next entirely logical step – which is many more of the same from here.

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Spielanalyse: Deutschland – Argentinien 1:0 n.V. | Spielverlagerung.de.

Deutschland – Argentinien 1:0 n.V.

Deutschland ist Weltmeister! Die DFB-Elf schlägt Argentinien mit 1:0 nach Verlängerung in einer dramatischen Partie. RM, TR, MR und CE haben sich das Spiel angeschaut und sahen eine taktisch vielfältige Rhythmusschlacht

 

Grundausrichtung

 

Beide Teams wollten zunächst ihr Personal im Vergleich zu den vorangegangenen Halbfinalpartien nicht verändern. Jedoch fiel Sami Khedira kurz vor Beginn der Partie aus. Christoph Kramer startete für ihn im Mittelfeld. Joachim Löw setzt wie bei der gesamten WM auf eine bestimmte Form des 4-3-3, was in Details leicht an den Gegner angepasst war. Zunächst war vor allem das Spiel über die rechte Seite etwas breiter angelegt war, wo auch Kramer eine wichtige Rolle einnahm.

 

Grundformation in der ersten halben Stunde

 

Löws Pendant Alejandro Sabella konnte nicht auf Ángel di María zurückgreifen, wodurch Enzo Pérez in der Mannschaft blieb. Allerdings agierte der Profi von Benfica zunächst auf der linken Seite und Ezequiel Lavezzi startete rechts. Sabella beließ es beim 4-4-1-1 und der Freirolle von Lionel Messi hinter dem horizontal beweglichen Gonzalo Higuaín.

 

Spielaufbau der Deutschen

 

Zu Beginn startete Argentinien mit durchaus überraschenden Pressingstichen, bei denen Higuaín aggressiv jagte und die Innenverteidiger abtrennen wollte, während die Außenspieler situativ herausschoben. Das restliche Kollektiv streute einzelne Mannorientierungen ein und Messi positionierte sich eher ballfern. Die deutsche Mannschaft konnte sich wegen der unkollektiven Ausrichtung des Pressing relativ einfach über die Mittelfeldakteure lösen, vor allem den beweglichen Schweinsteiger. Es entstand jedoch ein unangenehmer, unrunder Rhythmus, der sich negativ auf das weitere Angriffsspiel auswirkte. Dadurch wurde die argentinische Mittelfeldkette in der ersten Halbzeit zu hektisch bespielt.

 

Hier rückte vor allem Biglia im Zuge der leichten Mannorientierungen etwas auf Kroos heraus, was Mascherano leicht diagonal dahinter absicherte. Auch die beiden nominellen Außenspieler hielten sich diagonal versetzt sehr nah an ihren beiden Kollegen auf, versperrten mögliche Wege direkt um diese herum und sicherten zusätzlich das Zentrum. Aus dem dominanten Ballbesitz war es für Deutschland schwierig, diese Linie zu knacken. Zwar taten sich immer mal wieder gewisse Lücken in Argentiniens Zwischenlinienraum auf, doch durch die enge und versetzte Staffelung, kamen die Deutschen nur sehr unruhig und unsauber dort hinein.

 

Schweinsteiger und Kroos, der viel Raum vorfand, weil Höwedes ungewohnt hochschob und Lavezzi nach hinten drückte, leiteten die Angriffe ein, die von guten Ansätzen aber Problemen in der Umsetzung geprägt waren. Vieles lief beim DFB-Team im letzten Drittel über die rechte Seite, da Müller sehr aktiv agierte und Rochaden mit Klose sowie dem höheren Achter Kramer zeigte, während Özil weit einrückte. Dabei spielten sie von rechts einige Male gut diagonal an die letzte Linie heran, wo sich um Müller und Kramer herum vielversprechende Dynamiken entwickelten. Meistens agierte einer der Offensivakteure – häufig Kramer – ausweichend und öffnete den Passweg in die Mitte. Klose oder Müller konnten die Zuspiele dort ablegen und je nach Situation stieß ein weiterer Spieler für diese Bälle in die Spitze nach. In den engen Räumen und der unmittelbaren Strafraumnähe waren diese anspruchsvollen Aktionen gegen das starke Herausrücken der argentinischen Abwehr allerdings nicht so einfach zu Ende zu spielen, weshalb viele Szenen knapp vor dem Durchbruch scheiterten.

 

Dass die deutsche Elf vor der Pause nur zu drei Abschlussversuchen kam, lag dann aber auch an der erzwungenen Auswechslung Kramers. Mit Schürrle gab es zwar individuell mehr Offensivpotential, doch veränderten sich auch die Strukturen. Nach einer kurzen Phase mit Özil als Achter wurde nun ein etwas gestreckteres 4-2-3-1 praktiziert. Mit Özil als Zehner und dem neuen Mann auf links fehlten die diagonalen Synergien im rechten offensiven Halbraum, da die Rollenverteilungen nun klarer angelegt waren. Zudem wurden die anfangs so überzeugenden Offensivstaffelungen etwas schwächer. Dies lag nicht allein an der Umstellung, sondern war auch eine generelle schleichende Entwicklung. Das ermöglichte den Argentiniern kurze Phasen, in denen sie den Zwischenlinienraum etwas öffnen und mit der Mittelfeldlinie weiter vorschieben konnten. Deutschland ließ sich in der Phase vor dem Halbzeitpfiff immer häufiger und simpler auf die Seite ziehen, sodass die Angriffe über den rechten Flügel nun zusehends mit Halbfeldflanken oder eher vorhersehbarer Pärchenbildung von Müller und Lahm durchgespielt wurden. Durch die ständige Offensivpräsenz funktionierte aber auch dieses Mittel halbwegs – beispielsweise entstand so die Ecke vor Höwedes´ Pfosten-Kopfball.

 

Argentinischer Defensivrhythmus

 

Grundsätzlich spielte die deutsche Elf eigentlich sehr gut; die Angriffsstaffelungen passten über weite Teile der ersten Halbzeit, waren gut abgesichert und entwickelten trotzdem einigen Zugriff auf das letzte Spielfelddrittel. Zudem war eine intelligente Zirkulationen sowie eine hohe Dominanz im Mittelfeld vorhanden. In einzelnen Szenen hatten sie trotzdem mit Problemen zu kämpfen: Sie ließen sich in unangenehme Strukturen leiten, es gab ein paar Ballverluste vor dem zweiten Drittel und viele strategisch ineffiziente Angriffsabschlüsse trotz vielversprechender Grundstaffelung. Dies lag an dem besonderen, destruktiven Rhythmus, welchen die Argentinier im Laufe der KO-Phase fast perfektioniert haben.

 

Grundsätzlich formierten sie sich in einem 4-4-1-1/4-4-2; sie spielten tief, sie spielten über längere Zirkulationsphasen der Deutschen passiv und hatten diverse Kompaktheitsprobleme. So gab es häufiger eine relativ geringe horizontale Kompaktheit zu sehen, wo die Halbräume unbesetzt oder unsauber strukturiert besetzt waren. Dazu kamen – wie üblich – ihre sehr großen Abstände zwischen Mittelfeld und Angriff, während die Distanz von Abwehr auf Mittelfeld extrem gering gehalten wurde und so den Zwischenlinienraum für Deutschland versperrte.

 

In dieser ungleichmäßigen Kompaktheit strahlte Argentinien aber durchaus etwas Interessantes, aggressiv Drohendes und paradoxerweise Kompaktes aus. Sie hatten sehr viele situative Mannorientierungen, orientierten sich in diesen auf das Zentrum und füllten dadurch die offenen Räume dynamisch und extrem aggressiv. Javier Mascherano und Lucas Biglia rückten häufig nach vorne und attackierten die deutschen Mittelfeldspieler; durch die weiten Wege erhielten sie kaum Zugriff, aber drückten Deutschland auf die Seiten und ließen sich dann wieder zurückfallen.

 

Die Flügelstürmer und Außenverteidiger der Argentinier reagierten darauf und rückten dann aggressiv nach vorne, vereinzelt lief Lavezzi beispielsweise sogar den deutschen Innenverteidiger in passenden Rückpassmomenten an. Ansonsten aber standen sie tief und breit und warteten nur auf diese leitenden Aktionen der zentralen Spieler; wenn sie dann reagierten, beteiligten sich auch die zuvor eher passiv verschiebenden Stürmer explosiv an der veränderten Dynamik. Wenn diese leitenden Elemente nicht ausgelöst werden konnten, weil Argentinien überspielt wurde oder Deutschland diagonal in die offensiven Halbräume gespielt hatte, zogen sich die Außenstürmer weit in die Mitte zusammen.

 

Nun entstand eine extreme horizontale Kompaktheit und das mit einer reagierenden Dynamik, welche die Kombinationen der Deutschen im zweiten Spielfelddrittel unangenehm beschleunigte. Durch diese Bewegung waren manchmal kaum noch saubere Verlagerungen auf die Seiten möglich. Durch die zuvor breiteren Positionierungen hatten die Argentinier auch das Aufrücken der deutschen Außenverteidiger teilweise schon zuvor abgewürgt; dabei wurde die defensive Grundhaltung von Höwedes wie erwartet zu einem Problem für die DFB-Elf. Zentral gab es dann überaus kompakte 4-4-Stellungen am Strafraum. Acht Spieler bewegten sich eng und aktiv abgesichert zum Ball und Deutschland verlor zahlreiche Bälle bei Kombinationsversuchen durch die kleinen Zwischenräume; ansonsten spielten sie nach hinten (garniert mit vielen anschließenden Halbfeldflanken) oder drückten sich in ungünstige Abschlusspositionen um den Strafraum herum durch.

 

Argentinischer Aufbau und Strukturen im Angriff

 

Man durfte bereits vor dem Spiel erwarten, dass die Albiceleste im Spielaufbau keine lange Passzirkulation probieren, sondern einer einfachen Struktur vertrauen würde. Genau in dieser Form verlief das Finale auch, vor allem im ersten Durchgang. In erster Linie war man darauf bedacht, Messi ins Spiel einzubinden. Entweder man schickte den Kapitän, genauso wie häufiger Lavezzi, in Tempodribblings auf der rechten Seite, oder aber der 27-Jährige wurde kürzer im Zentrum angespielt. Messi zog dadurch situativ einen der drei deutschen Zentrumsspieler mit und konnte sich dann aus der Enge befreien oder den Raum öffnen und direkt auf einen Kollegen weiterleiten.

 

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Weiterhin versuchten die Argentinier ihre gewohnten Rechtsüberladungen und banden dort in der ersten Halbzeit vor allem Lavezzi und seine recht linearen Tempovorstöße ein. Interessanterweise stand Höwedes mehrmals etwas eingerückt, wodurch die Außenbahn ein Stück weit offen war und sich deshalb Platz für Tempovorstöße ergab. In diesen Szenen bewegte sich Messi vereinzelt sogar bewusst ballfern, während Lavezzi und Zabaleta einfach den direkten Durchbruch fokussierten.

 

Dass sie die Seite überhaupt anspielen konnten – trotz des starken deutschen Pressings – resultierte entscheidend aus dem unorthodoxen Defensivrhythmus. Dieser verschaffte ihnen einige Ballgewinne in isolierten, unkompakten Räumen oder in Überzahlsituationen; in beiden Fällen hatte Deutschland nicht sofort Zugriff im Gegenpressing, auch wenn sich vor allem Kramer in der Anfangsphase sehr bemühte, diesen möglichst schnell herzustellen. So konnte beispielsweise Lavezzi direkt Tempo für Dribblings aufnehmen oder es gab eben die Befreiungsaktionen per Verlagerung auf die rechte Seite. Vereinzelt konnte auch direkt Messi in unkompakten Situationen angespielt werden, was den Deutschen die größten Probleme bereitete.

 

Ein weiteres Mittel im Konterspiel waren lange Bälle gegen die hohe Viererkette der Deutschen. Dabei wurde teilweise direkt an der Abseitsgrenze gestartet und aus dem aufgerückten Sechserbereich kam ein längeres Zuspiel. Einige Pässe waren sehr gut dosiert, sodass sie nicht den Zugriffsradius von Neuer erreichten, bevor ein Argentinier das Spielgerät aufnehmen konnte. Spätestens im Strafraum kam die DFB-Elf dann aber immer wieder irgendwie hinter den Ball und reparierten die Gegenstöße notfalls mit ihrer gewohnt starken Endverteidigung.

 

Argentiniens Umstellung nach der Halbzeit

 

Sabella stellte seine Mannschaft direkt nach der Halbzeit um; in unserer Vorschau erwähnte Kollege MR, dass eine Rautenformation, also ein 4-3-1-2, eine unangenehme Spielweise gegen die deutsche Nationalmannschaft sein könnte. Die Argentinier spielten in vielen Partien im Qualifikationszyklus mit dieser Formation, interpretierten sie sogar passend asymmetrisch: Di Maria spielte links höher als Fernando Gago auf rechts, wodurch offensiv auch vielfach 4-2-2-2 oder 4-2-3-1-Staffelungen entstanden. Gegen den Ball wechselten sie dann ins 4-3-1-2 oder ins 4-3-3-0 mit zurückgezogenen Stürmern.

 

Auch ohne di Maria und Gago nutzten sie prinzipiell diese Spielweise nach der Halbzeit durch die Einwechslung Agüeros für Lavezzi. Perez spielte offensiv nicht so breit und ausweichend wie di Maria in diesem System, wodurch ihre Angriffe prinzipiell zentrumslastiger und besser abgesichert waren. Agüero und Higuain fungierten als Raumöffner und Kombinationspartner für Messi, Agüero dabei etwas ausweichender. Messi wechselte nun zwischen einer Freirolle im Mittelfeld – häufig kurz vor dem Sechserraum anzutreffen – und der Rolle als nach rechts ausweichender hängender Stürmer. Pérez schob gelegentlich mit dynamischen, intelligenten Läufen nach vorne oder war im Rückraum als pressingresistente Anspielstation frei.

 

Grundformation nach der Halbzeitpause

 

Agüero agierte anfangs als Manndecker von Schweinsteiger, während Higuaín das Aufbauspiel nach rechts und damit von Toni Kroos wegleitete. So musste die DFB-Elf viel über die Seite aufbauen und konnte ihre beiden spielstarken Sechser zunächst kaum mehr wirkungsvoll einbinden. Wenn Deutschland das Aufrücken gelang und sie im letzten Drittel etwas weitflächiger agieren konnten, verließ sich Argentinien auf die effektive 4-3-Stellung vor dem Strafraum. Dabei wurden die aktiven und teilweise mannorientierten Bewegungen der Verteidiger meistens durch die Achter aufgefangen, die sich in den Schnittstellen positionierten. Das war im Defensivrhythmus eine stabile und gleichzeitig griffige Mischung.

 

Vereinzelt kam die DFB-Elf in seitliche Schnittstellen hinein, doch fanden sich Schürrle und Müller oft in schwierigen, isolierten Stellungen wieder, die sie nicht sauber genug lösen und weiterspielen konnten. Das große Offensivproblem der Mannschaft lag in diesem zweiten Spielabschnitt darin, dass sie sich gegen die Formation der Argentinier und deren gelegentliches Leiten des Aufbaus zu leicht auf die Seiten ziehen und dort festnageln ließen. Dies gelang Argentinien, indem ihre 4-3-1-2-Staffelung sehr oft zu einem 4-3-3-0 wurde, in welchem sich die Mittelstürmer zurückzogen und das zentrale Mittelfeld für Deutschland mit ihren Deckungsschatten zusätzlich versperrten sowie mit ihrer engen Breitenstaffelung das deutsche Aufbauspiel auf die Seite lenkten. Teilweise standen die Deutschen am Flügel dann horizontal ungestaffelt mit Außenverteidiger, Mittelfeldspieler und Außenstürmer, was durch den Drang der ballfernen Offensivleute in die Spitze nicht aufgebrochen werden konnte.

 

Interessant war die leichte Asymmetrie der beiden argentinischen Ketten hinter der tiefen Sturmreihe: Das Mittelfeld war leicht in Richtung Lahm verschoben, der linke Halbspieler orientierte sich sehr aggressiv an Lahm, während auf der anderen Seite teilweise auch Zabaleta auf Höwedes schob oder Höwedes vom rechten Halbspieler nur passiv attackiert wurde. Die Dreierkette verschob außerdem intensiv ballorientiert, die Viererkette dahinter hingegen spielte deutlich zentrumsorientierter und weniger weiträumig im Verschieben. Deutschland reagierte darauf mit größeren Vertikalabständen und einer verstärkten Einbindung der Flügel, wobei es zuerst einen klaren Rechtsfokus gab.

 

Pérez wechselte darum gar von links auf rechts, weil er dynamischer ist als Biglia und die offenen Räume nach Verlagerungen besser ausfüllen konnte; später kam der frische Gago für den ermüdeten Star von Benfica. Dazu gab es einen weiteren Wechsel von Sabella: Rodrigo Palacio kam für Higuaín. Beide brachten andere Bewegungsmuster in die Partie, grundsätzlich blieb die Spielweise aber gleich. Zentrumsfokussierte Durchbrüche, Messi-Fokus mit Ausweichen auf rechts oder nach hinten, durchgehend hohe Absicherung und mehr Präsenz durch mehr Offensivanspielstationen sowie die positiven Nebenwirkungen gegen den Ball.

 

Heatmap Toni Kroos - Quelle: Squawka

 

Entsprechend schien die deutsche Mannschaft nach dem Kabinengang aus dem Rhythmus. Im Angriff wurde vertikaler und schneller in die Spitze gespielt. Die Breitengebung durch das offensive Band blieb bestehen. Toni Kroos verließ zugleich die Doppelsechs und rückte halblinks auf, Özil blieb verstärkt halbrechts. Folglich entstand ein klareres 4-1-4-1; wohlgemerkt blieb es nicht beim 4-2-3-1, das kurzzeitig vor der Pause gespielt wurde. Löw reagierte allerdings vorerst nicht gezielt auf die Rautenumstellung der Argentinier, wodurch die Albiceleste die wichtigen Aufbauräume Deutschlands abschirmte und insgesamt die Zirkulation und Dominanz der DFB-Elf schwächer wurde. Kroos und Özil wurden durch die argentinische Zentrumskompaktheit etwas isoliert und waren insgesamt wesentlich schwächer eingebunden.

 

Die Deutschen passten sich nach einiger Zeit an, indem sie gezielter versuchten ihre Flügelangriffe in Kombinationen und Überladungen zu strukturieren. Sogar Schweinsteiger versuchte einige antreibende, weiträumige Läufe auf die Seiten. Rechts setzte man vor allem auf die Stärke von Lahm. Über links gestaltete sich der Aufbau schwieriger. In dieser insgesamt gestreckteren Formation waren die Passwege weiter und risikoreicher. Allerdings bespielte man dafür die Raute durch den Flügelfokus besser, wenngleich die gesamte Partie in der zweiten Halbzeit zerfahrener war und die Dynamik nicht mehr gut kanalisiert wurde.

 

Veränderungen in der Offensivstruktur der Albiceleste

 

Im Aufbau schienen die Argentinier mit drei zentralen Mittelfeldakteuren ebenfalls etwas besser ins Spiel zu kommen. Zwar konnte sich Deutschland mit einem oftmals 4-1-4-1-haft angelegten Pressing durch herausrückende Bewegungen von Özil und Kroos relativ einfach an diese Strukturen anpassen, doch war Argentinien damit nicht durchgehend zu kontrollieren. Einige Male fiel Pérez geschickt zurück und kurbelte das Spiel mit weitläufigen Dribblings an, ansonsten setzten die Argentinier gerne auch auf lange Bälle, für die das Offensivtrio sehr hoch stand. Entweder wollten sie ihre Präsenz an der letzten Linie nutzen und profitierten dabei einige Male vom teilweise zu weit vorgerückten deutschen Mittelfeld sowie dem entsprechend etwas geöffneten Zwischenlinienraum – hier mussten vor allem Boateng, der in Schnittstellen rückende Lahm und einige Rückwärtsdefensivaktionen Schweinsteigers retten.

 

Eine andere Möglichkeit bestand darin, die langen Bälle direkt hinter die deutsche Abwehr zu bringen, was auch etwas Gefahr verströmte. Insgesamt gelang es den Südamerikanern in dieser Phase zumindest, die Partie bei eigenen Offensivaktionen mit nur leicht erhöhtem Risiko offener zu machen und die deutsche Formation ein wenig aufzureißen, was defensive Schwierigkeiten zutage förderte. Bis zur Verlängerung wehte immer etwas Unsicherheit – mal mehr, mal weniger – durch das DFB-Defensivdrittel.

 

2014-07-13_Deutschland-Argentinien_Schussstatistik

 

Die Schlussphase

 

Taktisch und strategisch gab es nur kleinere Veränderungen in der Verlängerung, allerdings äußerten sich diese im Spielgeschehen und im Spielrhythmus sehr deutlich. Philipp Lahm begründete dies nach dem Spiel damit, dass man schlichtweg “mehr Körner” hatte; und irgendwo dürfte diese Begründung wohl am treffendsten sein. Zum Schluss war die siegreiche Elf dann auch zehn Kilometer mehr gelaufen. Deutschland spielte sehr hoch, griff aggressiv an und versuchte die Entscheidung in der Verlängerung zu erzwingen, während die Argentinier das Gegenteil taten. Sie zogen sich zurück, agierten tiefer denn je in dieser Partie und konzentrierten sich auf den Lucky Punch im Konterspiel.

 

Hier gab es durchaus einige gefährliche Situationen und potenziell durchschlagende Möglichkeiten, aber alles in allem verteidigte Deutschland das hervorragend. Das Gegenpressing funktionierte gut, war stabil und die offensive Ballzirkulation drückte die Argentinier noch weiter nach hinten. Besonders beeindruckend war das Nachstoßen Jerome Boatengs, der sich häufig aggressiv in den Zwischenlinienraum vorbewegte und Konter stark abfing, doch auch die Ausgeglichenheit der Bewegungen der Außenverteidiger und im Mittelfeld überzeugten.

 

Zusätzlich fanden die Deutschen mit den erweiterten zentralen Räumen und erhöhten Verlagerungsmöglichkeiten wieder in den alten Rhythmus, während bei Argentinien die horizontale Kompaktheit, die Sauberkeit der Staffelungen, das Versperren der offenen Räume und damit die Defensivpräsenz zusehends nachließen. Götze konnte diese Probleme als Mittelstürmer mit ausweichenden Bewegungen noch etwas fokussieren. So schuf er vor seinem Siegtreffer selbst den Raum für Schürrles Dribbling entlang der Seitenlinie, indem er nach links rochierte und auf dem “Rückweg” Zabaleta entscheidend in die Mitte zog. Anschließend bolzten die Argentinier, um den Ausgleich zu erzwingen, doch Deutschland stand stabil.

 

Fazit

 

Das Finale war an vielen Stellen ausgeglichener, als man es womöglich erwarten konnte. In der ersten Halbzeit versuchten die Argentinier über Messi und mit steilen Pässen die hohe Abwehrreihe der DFB-Elf zu überrumpeln. In der zweiten Halbzeit passte Sabella sein Team an und die Mittelfeldraute zerstörte zunächst das deutsche Spiel etwas.

 

Der neue Weltmeister musste sich über kleinere Veränderungen und eine etwas andere Spielweise zurückkämpfen. Zum Ende der regulären Spielzeit war das Finale von der Angst vorm Versagen geprägt. Schlussendlich setzte sich einmal Schürrle auf der linken Seite durch und bediente den freistehenden Götze im Strafraum. Die Basis des Erfolgs war trotz aller Mühe vor allem die defensive Stabilität: Manuel Neuer musste keinen einzigen Schuss parieren.

 

Deutschland hat den vierten Titel, den vierten Stern. Die Generation Lahm belohnt sich auf der Zielgeraden ihrer Karriere mit dem größten aller Titel im Weltfußball. Für die Hummels, Müllers und Götzes kann es erst der Auftakt sein.

Es war am Ende auch ein Sieg der flachen Hierarchien, der modernen Typen, der Systemfußballer, der Kollektivität, der Taktik, des intelligenten Fußballs, des modernen Torhüters und der deutschen Nachwuchsausbildung. Und: Joachim Löws.

 

Spielanalyse: Brasilien – Deutschland 1:7 | Spielverlagerung.de.

Das 7:1

Kneifmichmalwer zu eins. Deutschland steht sowas von im Finale. Ohne Thiago Silva bricht das brasilianische Chaos in sich zusammen. Wir erklären ein unfassbares Spiel.

Es war eine Partie, vor der es wenige Anhaltspunkte gab, wie die Teams agieren werden und welche Spieldynamik sich entwickelt. Besonders die brasilianische Elf war nach den Ausfällen von Neymar und Thiago Silva eine Wundertüte. Dennoch zeigte sich die deutsche Mannschaft auf die wenigen Konstanten gut eingestellt. Vor allem aber demonstrierte sie ihre klare Überlegenheit in Sachen Abgeklärtheit und Organisation. Zum historischen Kantersieg kam dann alles zusammen.

Risikoreiches Aufrücken von Brasilien

Brasilien - Deutschland

Scolari blieb seinem System und seiner Spielweise treu und versuchte, die Ausfälle weitestgehend Eins-zu-Eins zu ersetzen. Dante übernahm die Innenverteidiger-Position neben David Luiz und Bernard kam für Neymar ins Team. Er spielte allerdings vorerst Rechtsaußen und Hulk agierte wieder als Flankengeber links; nach dem 4:0 tauschten sie dann. Oscar rückte auf die Zehnerposition und tauchte als Verbindungsspieler überall auf.

In dieser Aufstellung suchte der Gastgeber erneut nach dem sehr aggressiven Rhythmus, der die letzten brasilianischen Partie schon so kennzeichnete. Im Pressing und Gegenpressing orientierten sie sich stark nach vorn und suchten mannorientiert die Zweikämpfe. Bei eigenem Ballbesitz agierte die Selecao wieder mit vielen, aggressiven Verlagerungen und langen Bällen, um dann mit schnellen Einzelaktionen durchzubrechen. Vor allem Marcelo rückte häufig sehr weit auf. Gustavo schob dann oft in eine absichernde Position nach links und überließ Fernandinho das Zentrum.

Das deutsche Pressing überragt ein weiteres Mal

Im Aufbauspiel Brasiliens.

Wie schon gegen Portugal und Frankreich konnte die deutsche Mannschaft ein ambitioniertes Aufbauspiel aber im Keim ersticken. Das kollektiv leitende Verschieben gegen den Ball mit dem hervorragend anpassungsfähigen Herausrücken der Achter war erneut nicht zu knacken. Auch deshalb, weil es wieder gut an den Gegner angepasst war: Während Portugal und Frankreich durch eine engere Position Müllers häufig auf den Linksverteidiger gelenkt wurden, stellte Müller seinen nominellen Gegenspieler Marcelo dieses Mal enger zu. Der verkappte Spielmacher der Brasilianer konnte sich dadurch nur selten im Spielaufbau einbringen.

Klose orientierte sich indes wieder am rechten gegnerischen Innenverteidiger – David Luiz – und leitete das Spiel von Özil weg. Der große Raum zwischen Müller und Klose wurde von den beiden Achtern gefüllt: Je nach brasilianischer Staffelung rückten Kroos und Khedira nacheinander auf. Häufig war Kroos der erste und konnte das Spiel damit vom spielstarken Fernandinho weghalten. Durch das weitere Durchschieben gab es sogar ein paar sehr unorthodoxe Szenen, bei denen der linke Achter Kroos plötzlich als rechte (!) Sturmspitze verteidigte. Mit dem Nachschieben des zweiten Achters ergaben sich häufig aggressive 4-1-3-2-Staffelungen. Die Brasilianer konnten das mit ihrer rudimentären Nutzung des Zentrums überhaupt nicht bespielen und mussten bolzen. Das überragend gute Herausrücken wurde dann beim Treffer zum 0:4 auch bilderbuchhaft mit einem Tor belohnt:

BRA GER Min 26

Trotz des hohen Aufrückens wurden die langen Bälle der Brasilianer kaum gefährlich. Das lag zum einen an ihrer Staffelung: Die Flügelspieler standen sehr breit, Gustavo hing in der Abwehr und somit wurde die große Zone im Zentrum nur von Fernandinho und Oscar besetzt. Die Deutschen kontrollierten diesen Bereich mit mehr Personal: Wenn die Achter aufrückten, zogen sich die Flügelspieler in eine etwas kompaktere Haltung Richtung Schweinsteiger zurück. Zudem rückten die Innenverteidiger bei Bedarf gut abgesichert heraus. Durch das disziplinierte Verschieben zum Ball bekamen sie dann die meisten zweiten Bälle oder konnten den gegnerischen Angriffsspieler in klarer Unterzahl isolieren.

Gegenpressingresistenz und Kontermöglichkeiten

Aus dreierlei Gründen zündete das brasilianische Gegenpressing nicht, welches bisher die Ballverluste des aggressiven Angriffsspiel meistens gut absichern konnte: Erstens leitete und verschob Deutschland besser als die meisten anderen Gegner der Selecao. Dadurch hatten sie bei Balleroberungen meist eine komfortable Überzahl und konnten sich gruppentaktisch leichter lösen.

Zweitens agierte Deutschland höher und Brasilien kam kaum dazu, mal Angriffe zu Ende zu bringen oder zumindest in Strafraumnähe. So waren die Ballverluste im Mittelfeld zum einen häufiger als sonst und zum anderen war Brasilien oftmals nicht so kontrolliert hinter dem Ball formiert wie üblich; Gustavo kam manchmal einfach nicht dazu, weit genug aufzurücken. Hinter ihm fehlte außerdem Thiago Silva zur Kontrolle der großen Räume.

Drittens demonstrierte die deutsche Elf all ihre technische und taktische Souveränität. Fast alle Positionen – vor allem die des zentralen Mittelfelds – sind sehr pressingresistent besetzt. So wurden die eroberten Bälle beispielsweise häufig auf Schweinsteiger prallen gelassen. In seiner absichernden Position hatte er etwas Raum, löste sich sauber in diesen und verteilte den Ball in offenere Zonen. Auch Lahm, Hummels, Kroos und Neuer konnten sich je nach Höhe der Balleroberung effektiv einbringen und auch Khedira erwischte in spielerischer Hinsicht einen Sahnetag.

Vor dem 0:1: Obwohl Brasilien mit einem weiten Diagonalball eröffnet, kommt Deutschland schnell kompakt hinter den Ball. Durch ein Abstimmungsproblem (Oscar läuft weg) spielt Marcelo den Ball in Khediras Fuß. Er und Müller attackieren sofort den Raum, Khedira überläuft dabei Gustavo.

So konnte sich die DFB-Elf immer wieder in Konter lösen. Die Ecke zum 0:1 und der Einwurf zum 0:2 resultierten jeweils aus Gegenstößen in den Raum hinter Marcelo. Auch in der zweiten Halbzeit, als die deutsche Mannschaft tiefer stand, bekam Brasilien nur unkonstant Zugriff im Gegenpressing und kassierte gefährliche Konter wie beim 0:7. Oh Gott, wenn man zum WM-Halbfinale „wie beim 0:7“ schreibt muss man sich unwillkürlich die Hand vor den Mund halten.

Oh, Thiago Silva, schenk ihnen Ordnung

Liebe Selecao, was hast du da nur angestellt? Zu all der deutschen Dominanz im Mittelfeld kam auch noch eine immense Durchschlagskraft in Strafraumnähe hinzu, die man aber kaum der deutschen Mannschaft als Verdienst anrechnen kann. Die Abstimmung und Disziplin in der brasilianischen Defensive schwankte zwischen instabiler Improvisation und hanebüchenem Chaos.

Das ganze Verschiebeverhalten der Doppelsechs und der Viererkette war stark durch Mannorientierungen aufgeweicht, sodass in der Horizontale immer wieder große Lücken entstanden (siehe Grafik zum 0:2), für die sich niemand wirklich verantwortlich zeigte. Kroos, Khedira, Özil und Müller stießen dort immer wieder hinein und verursachten panische, ungeordnete Reaktionen der brasilianischen Hintermannschaft. Thiago Silvas weiträumige Raumkontrolle fehlte, um diese unkompakten Szenen in den richtigen Momenten zu unterbrechen oder in abgesicherte Zonen zu leiten. Oftmals reagierten die Abwehrspieler im besten Wortsinne orientierungslos auf das große Chaos. Wie Luiz und Dante beim 0:2 einfach an der Strafraumgrenze stehen blieben ist die beste Illustration davon.

Vor dem 0:2:

Das Spiel demonstrierte außerdem, welche Meisterleistung Thiago Silvas es war, stets das extrem aggressive und häufig kopflose Herausrücken von Luiz abzusichern, gerade in diesem instabilen Rahmen. Dante konnte das nur selten liefern, meist verließ er sich zu sehr auf die Vernunft seines Nebenmanns. Maicon konnte gar nichts beisteuern. Der verrückte Treffer zum 0:5 fasst relativ gut zusammen, was in Luiz’ Kopf so schief läuft. Wirrer zu verteidigen als die eigene Frisur aussieht, das war vielleicht bei Jaap Stam akzeptabel, bei Luiz hingegen…

Vor dem 0:5:

Nach der Torflut zwischen der 20. und 30. Minute war die Disziplin dann ohnehin dahin. Im zweiten Gang konnte sich die deutsche Mannschaft dann immer mal wieder durchkombinieren. Das riesige Loch zwischen Flügel und Zentrum, aus welchem Lahm das 0:6 vorbereitete, war nur ein Beispiel für die zahlreichen taktischen Fehler.

Fehlerhafte Planung der defensiven Flügelrollen

Neben der schlechten Abwehrorganisation, kann man Scolari aber auch taktische Fehler in der Spielvorbereitung vorwerfen. Von Anfang an waren die diversen Mannorientierungen ein großes Problem. Vor allem Bernard und Hulk orientierten sich stark an ihren Gegenspielern und schoben selten kompakt ins Mittelfeld ein. Im Pressing gegen Deutschlands Spielaufbau war das erst einmal ineffektiv, da die Außenverteidiger dort ohnehin kaum eingebunden werden. In späteren Phasen wurde es richtig destruktiv: Auf der aktiveren Lahm-Seite verteidigte Hulk mehrfach individuell sehr schlecht (0:2, 0:3)…

Vor dem 0:3:

…und auf der anderen Seite stand der defensivstärkere Bernard zu unkompakt. Durch seine Orientierung am defensiven Höwedes positionierte er sich recht hoch und breit. Özils weites Einrücken im Offensivspiel und die fehlende Breite auf der linken Seite wurde dadurch nicht bestraft – eigentlich kann ein Gegner dadurch ohne Risiko sehr weit nachschieben, blöd also, wenn er es einfach nicht tut, weil er lieber am Außenverteidiger hängt. In dem Loch hinter Bernard konnte außerdem Kroos das 0:3 erzielen.

Der Positionswechsel der beiden nach dem 0:4 war dann die richtige Reaktion darauf. Bernard interpretierte die Rolle auf links dann auch etwas positionstreuer und bedeutend aufmerksamer. Aber, naja: Positionswechsel nach dem 0:4 eben.

Eigendynamik der brasilianischen Panik

Die krasse Effizienz der Deutschen muss man allerdings auch auf die spezielle psychologische und taktikpsychologische Dynamik der Partie zurückführen. Nach dem frühen Tor durch die gut einstudierte Ecke versuchten sich die Brasilianer mit noch mehr Aggressivität zu wehren. Sie wurden ungeduldiger, agierten in der Abwehr individuell noch hektischer und so entfaltete sich immer mehr Chaos. Auch die Angriffe wurden hektischer durchgespielt und das riskante Aufrücken wurde nicht weniger. Ob ein Tor wie das 0:5 auch in einer normalen Spielsituation gefallen wäre – schwer vorstellbar.

Sie reagierten nun kaum noch vernünftig darauf, wenn sie überspielt wurden: Anstatt das Tempo herauszunehmen und zu verzögern, bis sie wieder kompakt werden konnten, gingen sie einfach immer wieder auf den Ball drauf. Die beiden lässigen Rücklagen der deutschen Mannschaft zum 0:4 und 0:5 nutzten diese Panikreaktion eiskalt aus, sodass aus einzelnen Durchbrüchen sichere Tore wurden. Der ruhige, aufmerksame Rhythmus der DFB-Elf war wie ein exakt passender Schlüssel, um aus dieser Phase auch das Maximum herauszuholen. Dazu kam natürlich auch etwas Abschlussglück und eine glanzlose Torhüterleistung bei den wichtigen Treffer zwei und vor allem drei.

Souveränität im deutschen Aufbauspiel

Beim Aufbauspiel von Deutschland.

Dieses abgeklärte Selbstverständnis demonstrierte die deutsche Mannschaft außerdem im eigenen Aufbauspiel vom Start weg. Ihre gewohnt saubere Ballzirkulation konnten sie auch gegen das Pressing der Brasilianer durchziehen. Özil bewegte sich dabei weiträumiger als zuvor durch das Mittelfeld und Klose ließ sich immer mal kurz zurückfallen; beides führte dazu, dass Gustavo und Fernandinho in ihrem mannorientierten Verhalten die Orientierung verloren. Außerdem hatte Deutschland fast jeden langen Ball unter Kontrolle, wenn Brasilien mal weit aufrückte, da sie im Zentrum Überzahl herstellten und Neuer diese Bälle gewohnt stark verteilte. So entstand übrigens auch der Spielzug zum 0:3.

Diese taktische Sicherheit war dann in der Phase nach den Toren sehr wichtig, um die Brasilianer nicht ins Spiel zurückkommen zu lassen. Sie gingen als Reaktion auf die Gegentore sehr weite Wege und versuchten viel Druck zu machen, doch liefen gegen die deutsche Ballzirkulation immer wieder ins Leere. So wurde die Selecao frustriert, die Gegenreaktion ebbte bald ab und Deutschland kontrollierte das Spiel bis zur Halbzeitpause.

Druckvolles Brasilien und deutsches 4-2-3-1 in Hälfte zwei

Im Anschluss an diese demonstrierte Brasilien recht eindrucksvoll, wie das Spiel hätte aussehen können, wenn das deutsche Pressing von Beginn an weniger konsequent gewesen wäre. Die DFB-Elf versuchte sich nun kräfteschonend in einem tieferen und passiveren Mittelfeldpressing zu positionieren, während die Selecao noch aggressiver aufrückte und den Ball druckvoll in der Breite zirkulieren ließ. Die leitenden Elemente griffen nun nicht mehr, sondern wurden immer wieder überspielt oder nach Verlagerungen in Eins-gegen-Eins-Situationen durchbrochen. Vor allem Marcelo kam nun ständig hinter Müller (bzw. Schürrle) und auch Bernard blühte auf.

Manuel Neuer und die gute deutsche Strafraumverteidigung verhinderten, dass die Brasilianer in dieser Phase noch einmal mit eins, zwei Tore frischen Wind bekamen. Die Chancen gaben das durchaus her, sodass das Spiel kurioserweise vielleicht sogar noch einmal spannend geworden wäre. Doch Neuer hielt dicht und der druckvolle brasilianische Rhythmus verlief sich zunehmend. Dazu trug auch bei, dass die deutsche Elf wieder etwas mehr in Gegenangriffe investierte und sich im Pressing dann auch etwas konsequenter passiv verhielt, statt sich im inkonsequenten Herausrücken überspielen zu lassen.

In der Endphase stellte Löw dann sogar noch einmal das System um. Mit Draxler links und Schürrle rechts übernahm Özil wieder seine gewohnte Zehnerposition im 4-2-3-1. So konnte sich die Mannschaft noch etwas stärker auf die Kompaktheit in den Viererketten und Konterangriffe konzentrieren. Das brachte dann noch den siebten Treffer per Schürrle Kunstschuss. Der mangelnde Druck gegen den Ball erlaubte aber den Brasilianern auch noch ihren Ehrentreffer. Marcelo leitete Oscars Tor mit einem spektakulären langen Pass aus der eigenen Hälfte ein und unterstrich noch einmal, wie wichtig es gewesen war, ihn in Hälfte eins weitestgehend aus dem Spielaufbau zu isolieren.

Fazit

In dieser historischen Partie kam fast alles zusammen, was irgendwoher kommen konnte. Deutschland war taktisch hervorragend eingestellt, agierte überragend gegen den Ball, konterte sehr fokussiert und hatte in der entscheidenden Phase auch noch das Quäntchen Abschlussglück. Die Brasilianer konnten ihre Ausfälle nicht verkraften, waren gegen einen ohnehin eher unpassenden Gegner nicht passend vorbereitet und der etwas unglückliche frühe Rückstand verursachte einen gewaltigen Negativstrudel. Kurioserweise erwischte die deutsche Offensivabteilung nicht einmal einen formstarken Tag. Die herausragende Mittelfeldleistung und die Eigendynamik des Spiels ließen diese Partie derartig eskalieren.

Der Gastgeber war letztlich nicht reif genug für den Titel. Das betrifft mannschaftstaktische Aspekte, das betrifft individuelle Aspekte (Kaderbreite, Sechserposition), das betrifft auch die Psychologie und es bezieht sich vor allem auf die gruppentaktische Reife im Spiel mit und gegen den Ball.

Die DFB-Elf hat hingegen mit diesem Spiel Geschichte geschrieben. Besonders die Minuten 23 bis 29 könnten die wichtigste Spielphase in der Historie der Fußball-Weltmeisterschaft markieren. Jetzt geht es darum, sich auch die erste Nennung in den Geschichtsbüchern zu sichern: Mit dem WM-Pokal.