TV-Kritik: Supernerds: Was passiert mit uns bei der Digitalisierung? – TV-Kritik – FAZ.

Webcams, Theater und Julian Assange: Mit einem Experiment leuchtete der WDR einige Abgründe der schönen neuen vernetzten Welt aus. Dass nicht alles klappte, ist egal. Denn der Sender riskierte etwas – inhaltlich und formal.

29.05.2015, von Frank Lübberding

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© WDR/Schauspiel Köln/Oliver Abraham Vergrößern Supernerds-Regisseurin Angela Richter und Wikileaks-Gründer Julian Assange

„Wir sind die Guten und fragen um Erlaubnis“, so der Journalist Richard Gutjahr; das machten aber „nicht alle so.“ Um diesen Satz drehte sich ein so interessantes wie lehrreiches Experiment im WDR. Im „Supernerds-Überwachungsabend“ ging es um die Konsequenzen der Digitalisierung.

Die Stichworte hat jeder schon einmal gehört. Es geht um das Sammeln der unzähligen digitalen Spuren, die wir jeden Tag hinterlassen. Um die Erstellung von Persönlichkeits- und Bewegungsprofilen, schließlich um die Überwachung unserer Aktivitäten durch die Geheimdienste. Nur haben wir das alles auch schon verstanden? Oder stolpern wir nicht mit unserem analog geprägten Hirn in diese schöne neue Welt, ohne uns über die Konsequenzen klar zu sein?

Sind Einblicke in die Privatsphäre selbstverständlich?

Aus dieser alten Welt stammt auch noch der Antagonismus von „gut“ und „böse“. Gutjahr erwähnte ihn, als es darum ging, ob der WDR die Computerkameras der Zuschauer nutzen darf. Sie zeigen den Zuschauer beim Zuschauen. Das ist mittlerweile so selbstverständlich geworden, dass sich niemand mehr groß Gedanken über einen solchen Zugriff auf die eigenen Privatsphäre macht. Ist das jetzt schon „gut“, weil der WDR um Erlaubnis fragt? Im Gegensatz zu den bösen Buben, die ohne viel Mühe Handys und Computer zum perfekten Spionagegerät umfunktionieren? Oder dokumentiert sich in dieser Selbstverständlichkeit nicht schon längst jener Strukturwandel in der digitalisierten Gesellschaft, der uns am Ende zu anderen Menschen machen wird?

Noch vor wenigen Jahrzehnten wäre niemand auf die Idee gekommen, dem Rest der Menschheit einen Blick in die eigenen vier Wände zu erlauben; selbst dann nicht, wenn man höflich gefragt hätte. Heute lassen sich viele Menschen freiwillig überwachen. Und das lag sicher nicht daran, weil sie ein junger Mann höflich um Erlaubnis bat.

Alles, was möglich ist, wird auch gemacht

Genau darum geht in der digitalisierten Gesellschaft: Wie sich unsere Lebenswelt verändert und sie sich den technologischen Bedingungen anpasst. Alles, was möglich ist, wird auch gemacht. Auf dieser Logik beruhte auch das Konzept der Sendung. Der „Überwachungsabend“ setzte auf das, was man mit dem digitalen Baukasten am besten kann: Daten zu verknüpfen, um ein Gesamtbild herzustellen. Das ging bis in die künstlerischen und journalistischen Formen hinein.

Es passierte zeitgleich unendlich viel: Ein Theaterstück im Kölner Schauspielhaus namens „Supernerds“. Einspieler zum Thema und Interviews mit Experten. Dazu die heute unvermeidliche Interaktivität mit dem Zuschauer vor Ort und vor den Bildschirmen. Die beiden Moderatoren, außer Gutjahr noch Bettina Böttinger, versuchten diese Teile vor dem Auseinanderfallen zu bewahren. Der Überwachungsabend wurde so zum Sinnbild für das heutige Multitasking. Sicher hat der eine oder andere Zuschauer noch nebenbei Fußball gesehen. Man will überall zugleich sein.

Julian Assange, überlebensgroß

An diesem Punkt wurde aber deutlich, wo das Problem liegt. Es ist eben keineswegs nur der hypertrophe Sicherheitsstaat, der mit der Chiffre 9/11 den Kampf gegen den Terror zu seinem zentralen Existenzzweck machte. Whistleblower wie Edward Snowden ermöglichten uns erst den Blick hinter die Kulissen dieses neuen Behemoth. Gestern Abend wurde der Wikileaks-Gründer Julian Assange live interviewt. Er erschien virtuell und überlebensgroß auf der Bühne des Kölner Schauspiels. Assange wirkte wie ein freier Mensch – und stand doch bloß in seinem kleinen Zimmer in der Botschaft Ecuadors in London. Er kann mit jedem Menschen auf der Welt reden, ist aber in Wirklichkeit eingesperrt. Seine Lebensbedingungen sind schrecklich. Ihm nützt die Freiheit nichts, gestern Abend live auftreten zu können.

Das war durchaus symbolisch. Das reale Gefängnis verträgt sich gut mit der Freiheit in der digitalen Gesellschaft. Nur baut man sich seinen Knast gleich selbst. Der Überwachungsabend versuchte das mit verschiedenen Experimenten anschaulich zu machen. Etwa wie man aus wenigen Informationen von einem Menschen viel über diesen erfahren kann. Oder wie das Kommunikationsverhalten einen Blick in das Wesen dieses Menschen erlaubt. Das reicht von Konsumpräferenzen bis zu sexuellen Vorlieben. Dabei ist man nur einen Klick weit davon entfernt, sich selbst zum Spitzel in eigener Sache zu machen. Die Möglichkeiten zum digitalen Einbruch sind bekanntlich vielfältig. Gutjahr demonstrierte aber am Beispiel von Überwachungskameras, was passiert, wenn man digitale Türen offen lässt. Viele senden ihre Bilder unverschlüsselt, selbst wenn sie eigentlich nur ihren Säugling beim Schlafen im Auge behalten wollen. So kann jeder zusehen, nicht nur die Eltern.

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