The explosion in data volumes, processing power, and Artificial Intelligence, known as the „digital revolution“, has driven our world to a dangerous p

Source: The Automation of Society is Next: How to Survive the Digital Revolution by Dirk Helbing :: SSRN

Digitale Demokratie statt Datendiktatur

Big Data, Nudging, Verhaltenssteuerung: Droht uns die Automatisierung der Gesellschaft durch Algorithmen und künstliche Intelligenz? Ein gemeinsamer Appell zur Sicherung von Freiheit und Demokratie.

Das Digital-Manifest
© iStock / KrulUA; Bearbeitung: Spektrum der Wissenschaft
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Immanuel Kant, Was ist Aufklärung? (1784)Die digitale Revolution ist in vollem Gange. Wie wird sie unsere Welt verändern? Jedes Jahr verdoppelt sich die Menge an Daten, die wir produzieren. Mit anderen Worten: Allein 2015 kommen so viele Daten hinzu wie in der gesamten Menschheitsgeschichte bis 2014 zusammen. Pro Minute senden wir Hunderttausende von Google-Anfragen und Facebookposts. Sie verraten, was wir denken und fühlen. Bald sind die Gegenstände um uns herum mit dem „Internet der Dinge“ verbunden, vielleicht auch unsere Kleidung. In zehn Jahren wird es schätzungsweise 150 Milliarden vernetzte Messsensoren geben, 20-mal mehr als heute Menschen auf der Erde. Dann wird sich die Datenmenge alle zwölf Stunden verdoppeln. Viele Unternehmen versuchen jetzt, diese „Big Data“ in Big Money zu verwandeln.

Alles wird intelligent: Bald haben wir nicht nur Smartphones, sondern auch Smart Homes, Smart Factories und Smart Cities. Erwarten uns am Ende der Entwicklung Smart Nations und ein smarter Planet?

Dirk Helbing
© Dirk Helbing, ETH Zürich

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In der Tat macht das Gebiet der künstlichen Intelligenz atemberaubende Fortschritte. Insbesondere trägt es zur Automatisierung der Big-Data-Analyse bei. Künstliche Intelligenz wird nicht mehr Zeile für Zeile programmiert, sondern ist mittlerweile lernfähig und entwickelt sich selbstständig weiter. Vor Kurzem lernten etwa Googles DeepMind-Algorithmen autonom, 49 Atari-Spiele zu gewinnen. Algorithmen können nun Schrift, Sprache und Muster fast so gut erkennen wie Menschen und viele Aufgaben sogar besser lösen. Sie beginnen, Inhalte von Fotos und Videos zu beschreiben. Schon jetzt werden 70 Prozent aller Finanztransaktionen von Algorithmen gesteuert und digitale Zeitungsnews zum Teil automatisch erzeugt. All das hat radikale wirtschaftliche Konsequenzen: Algorithmen werden in den kommenden 10 bis 20 Jahren wohl die Hälfte der heutigen Jobs verdrängen. 40 Prozent der Top-500-Firmen werden in einem Jahrzehnt verschwunden sein.

Auf die Automatisierung der Produktion und die Erfindung selbstfahrender Fahrzeuge folgt nun die Automatisierung der Gesellschaft

Es ist absehbar, dass Supercomputer menschliche Fähigkeiten bald in fast allen Bereichen übertreffen werden – irgendwann zwischen 2020 und 2060. Inzwischen ruft dies alarmierte Stimmen auf den Plan. Technologievisionäre wie Elon Musk von Tesla Motors, Bill Gates von Microsoft und Apple-Mitbegründer Steve Wozniak warnen vor Superintelligenz als einer ernsten Gefahr für die Menschheit, vielleicht bedrohlicher als Atombomben. Ist das Alarmismus?

Größter historischer Umbruch seit Jahrzehnten

Fest steht: Die Art, wie wir Wirtschaft und Gesellschaft organisieren, wird sich fundamental ändern. Wir erleben derzeit den größten historischen Umbruch seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Auf die Automatisierung der Produktion und die Erfindung selbstfahrender Fahrzeuge folgt nun die Automatisierung der Gesellschaft. Damit steht die Menschheit an einem Scheideweg, bei dem sich große Chancen abzeichnen, aber auch beträchtliche Risiken. Treffen wir jetzt die falschen Entscheidungen, könnte das unsere größten gesellschaftlichen Errungenschaften bedrohen.

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In den 1940er Jahren begründete der amerikanische Mathematiker Norbert Wiener (1894-1964) die Kybernetik. Ihm zufolge lässt sich das Verhalten von Systemen mittels geeigneter Rückkopplungen (Feedbacks) kontrollieren. Schon früh schwebte manchen Forschern eine Steuerung von Wirtschaft und Gesellschaft nach diesen Grundsätzen vor, aber lange fehlte die nötige Technik dazu.

Heute gilt Singapur als Musterbeispiel einer datengesteuerten Gesellschaft. Was als Terrorismusabwehrprogramm anfing, beeinflusst nun auch die Wirtschafts- und Einwanderungspolitik, den Immobilienmarkt und die Lehrpläne für Schulen. China ist auf einem ähnlichen Weg (siehe Kasten am Ende des Textes). Kürzlich lud Baidu, das chinesische Äquivalent von Google, das Militär dazu ein, sich am China-Brain-Projekt zu beteiligen. Dabei lässt man so genannte Deep-Learning-Algorithmen über die Suchmaschinendaten laufen, die sie dann intelligent auswerten. Darüber hinaus ist aber offenbar auch eine Gesellschaftssteuerung geplant. Jeder chinesische Bürger soll laut aktuellen Berichten ein Punktekonto („Citizen Score“) bekommen, das darüber entscheiden soll, zu welchen Konditionen er einen Kredit bekommt und ob er einen bestimmten Beruf ausüben oder nach Europa reisen darf. In diese Gesinnungsüberwachung ginge zudem das Surfverhalten des Einzelnen im Internet ein – und das der sozialen Kontakte, die man unterhält (siehe „Blick nach China“).

Bruno Frey
© Bruno Frey, Universität Basel

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Mit sich häufenden Beurteilungen der Kreditwürdigkeit und den Experimenten mancher Onlinehändler mit individualisierten Preisen wandeln auch wir im Westen auf ähnlichen Pfaden. Darüber hinaus wird immer deutlicher, dass wir alle im Fokus institutioneller Überwachung stehen, wie etwa das 2015 bekannt gewordene „Karma Police“-Programm des britischen Geheimdienstes zur flächendeckenden Durchleuchtung von Internetnutzern demonstriert. Wird Big Brother nun tatsächlich Realität? Und: Brauchen wir das womöglich sogar im strategischen Wettkampf der Nationen und ihrer global agierenden Unternehmen?

Programmierte Gesellschaft, programmierte Bürger

Angefangen hat es scheinbar harmlos: Schon seit einiger Zeit bieten uns Suchmaschinen und Empfehlungsplattformen personalisierte Vorschläge zu Produkten und Dienstleistungen an. Diese beruhen auf persönlichen und Metadaten, welche aus früheren Suchanfragen, Konsum- und Bewegungsverhalten sowie dem sozialen Umfeld gewonnen werden. Die Identität des Nutzers ist zwar offiziell geschützt, lässt sich aber leicht ermitteln. Heute wissen Algorithmen, was wir tun, was wir denken und wie wir uns fühlen – vielleicht sogar besser als unsere Freunde und unsere Familie, ja als wir selbst. Oft sind die unterbreiteten Vorschläge so passgenau, dass sich die resultierenden Entscheidungen wie unsere eigenen anfühlen, obwohl sie fremde Entscheidungen sind. Tatsächlich werden wir auf diese Weise immer mehr ferngesteuert. Je mehr man über uns weiß, desto unwahrscheinlicher werden freie Willensentscheidungen mit offenem Ausgang.

Auch dabei wird es nicht bleiben. Einige Softwareplattformen bewegen sich in Richtung „Persuasive Computing„. Mit ausgeklügelten Manipulationstechnologien werden sie uns in Zukunft zu ganzen Handlungsabläufen bringen können, sei es zur schrittweisen Abwicklung komplexer Arbeitsprozesse oder zur kostenlosen Generierung von Inhalten von Internetplattformen, mit denen Konzerne Milliarden verdienen. Die Entwicklung verläuft also von der Programmierung von Computern zur Programmierung von Menschen.

Roberto V. Zicari
© C. Sattler

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Diese Technologien finden auch in der Politik zunehmend Zuspruch. Unter dem Stichwort Nudging versucht man, Bürger im großen Maßstab zu gesünderem oder umweltfreundlicherem Verhalten „anzustupsen“ – eine moderne Form des Paternalismus. Der neue, umsorgende Staat interessiert sich nicht nur dafür, was wir tun, sondern möchte auch sicherstellen, dass wir das Richtige tun. Das Zauberwort ist „Big Nudging“, die Kombination von Big Data und Nudging (siehe „Big Nudging“). Es erscheint manchem wie ein digitales Zepter, mit dem man effizient durchregieren kann, ohne die Bürger in demokratische Verfahren einbeziehen zu müssen. Lassen sich auf diese Weise Partikularinteressen überwinden und der Lauf der Welt optimieren? Wenn ja, dann könnte man regieren wie ein weiser König, der mit einer Art digitalem Zauberstab die gewünschten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ergebnisse quasi herbeizaubert.

Vorprogrammierte Katastrophen

Doch ein Blick in die relevante wissenschaftliche Literatur zeigt, dass eine gezielte Kontrolle von Meinungen im Sinne ihrer „Optimierung“ an der Komplexität des Problems scheitert. Die Meinungsbildungsdynamik ist voll von Überraschungen. Niemand weiß, wie der digitale Zauberstab, sprich die manipulative Nudging-Technik, richtig zu verwenden ist. Was richtig und was falsch ist, stellt sich oft erst hinterher heraus. So wollte man während der Schweinegrippeepidemie 2009 jeden zur Impfung bewegen. Inzwischen ist aber bekannt, dass ein bestimmter Prozentsatz der Geimpften von einer ungewöhnlichen Krankheit, der Narkolepsie, befallen wurde. Glücklicherweise haben sich nicht mehr Menschen impfen lassen!

Auch mag der Versuch, Krankenversicherte mit Fitnessarmbändern zu verstärkter Bewegung anzuregen, die Anzahl der Herz-Kreislauf-Erkrankungen reduzieren. Am Ende könnte es dafür aber mehr Hüftoperationen geben. In einem komplexen System wie der Gesellschaft führt eine Verbesserung in einem Bereich fast zwangsläufig zur Verschlechterung in einem anderen. So können sich großflächige Eingriffe leicht als schwer wiegende Fehler erweisen.

Unabhängig davon würden Kriminelle, Terroristen oder Extremisten den digitalen Zauberstab früher oder später unter ihre Kontrolle bringen – vielleicht sogar ohne dass es uns auffällt. Denn: Fast alle Unternehmen und Einrichtungen wurden schon gehackt, selbst Pentagon, Weißes Haus und Bundestag. Hinzu kommt ein weiteres Problem, wenn ausreichende Transparenz und demokratische Kontrolle fehlen: die Aushöhlung des Systems von innen. Denn Suchalgorithmen und Empfehlungssysteme lassen sich beeinflussen. Unternehmen können bestimmte Wortkombinationen ersteigern, die in den Ergebnislisten bevorzugt angezeigt werden. Regierungen haben wahrscheinlich Zugriff auf eigene Steuerungsparameter. Bei Wahlen wäre es daher im Prinzip möglich, sich durch Nudging Stimmen von Unentschlossenen zu sichern – eine nur schwer nachweisbare Manipulation. Wer auch immer diese Technologie kontrolliert, kann also Wahlen für sich entscheiden, sich sozusagen an die Macht nudgen.

Digitales Wachstum
© Dirk Helbing

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Innerhalb weniger Jahre hat die rasante Vernetzung der Welt die Komplexität unserer Gesellschaft explosionsartig erhöht. Dies ermöglicht zwar jetzt, auf Grund von „Big Data“ bessere Entscheidungen zu treffen, aber das althergebrachte Prinzip der Kontrolle von oben funktioniert immer weniger. Verteilte Steuerungsansätze werden immer wichtiger. Nur mittels kollektiver Intelligenz lassen sich noch angemessene Problemlösungen finden.

Verschärft wird dieses Problem durch die Tatsache, dass in Europa eine einzige Suchmaschine einen Marktanteil von rund 90 Prozent besitzt. Sie könnte die Öffentlichkeit maßgeblich beeinflussen, womit Europa vom Silicon Valley aus quasi ferngesteuert würde. Auch wenn das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 6. Oktober 2015 nun den ungezügelten Export europäischer Daten einschränkt, ist das zu Grunde liegende Problem noch keineswegs gelöst, sondern erst einmal nur geografisch verschoben.

Mit welchen unerwünschten Nebenwirkungen ist zu rechnen? Damit Manipulation nicht auffällt, braucht es einen so genannten Resonanzeffekt, also Vorschläge, die ausreichend kompatibel zum jeweiligen Individuum sind. Damit werden lokale Trends durch Wiederholung allmählich verstärkt, bis hin zum „Echokammereffekt“: Am Ende bekommt man nur noch seine eigenen Meinungen widergespiegelt. Das bewirkt eine gesellschaftliche Polarisierung, also die Entstehung separater Gruppen, die sich gegenseitig nicht mehr verstehen und vermehrt miteinander in Konflikt geraten. So kann personalisierte Information den gesellschaftlichen Zusammenhalt unabsichtlich zerstören. Das lässt sich derzeit etwa in der amerikanischen Politik beobachten, wo Demokraten und Republikaner zusehends auseinanderdriften, so dass politische Kompromisse kaum noch möglich sind. Die Folge ist eine Fragmentierung, vielleicht sogar eine Zersetzung der Gesellschaft.

Einen Meinungsumschwung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene kann man wegen des Resonanzeffekts nur langsam und allmählich erzeugen. Die Auswirkungen treten mit zeitlicher Verzögerung ein, lassen sich dann aber auch nicht mehr einfach rückgängig machen. So können zum Beispiel Ressentiments gegen Minderheiten oder Migranten leicht außer Kontrolle geraten; zu viel Nationalgefühl kann Diskriminierung, Extremismus und Konflikte verursachen. Noch schwerer wiegt der Umstand, dass manipulative Methoden die Art und Weise verändern, wie wir unsere Entscheidungen treffen. Sie setzen nämlich die sonst bedeutsamen kulturellen und sozialen Signale außer Kraft – zumindest vorübergehend. Zusammengefasst könnte der großflächige Einsatz manipulativer Methoden also schwer wiegende gesellschaftliche Schäden verursachen, einschließlich der ohnehin schon verbreiteten Verrohung der Verhaltensweisen in der digitalen Welt. Wer soll dafür die Verantwortung tragen?

Rechtliche Probleme

Ernst Hafen
© Katarzyna Nowak

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Dies wirft rechtliche Fragen auf, die man angesichts der Milliardenklagen gegen Tabakkonzerne, Banken, IT- und Automobilunternehmen in den vergangenen Jahren nicht vernachlässigen sollte. Doch welche Gesetze werden überhaupt tangiert? Zunächst einmal ist klar, dass manipulative Technologien die Entscheidungsfreiheit einschränken. Würde die Fernsteuerung unseres Verhaltens perfekt funktionieren, wären wir im Grunde digitale Sklaven, denn wir würden nur noch fremde Entscheidungen ausführen. Bisher funktionieren manipulative Technologien natürlich nur zum Teil. Jedoch verschwindet unsere Freiheit langsam, aber sicher – langsam genug, dass der Widerstand der Bürger bisher noch gering war.

Die Einsichten des großen Aufklärers Immanuel Kant scheinen jedoch hochaktuell zu sein. Unter anderem stellte er fest, dass ein Staat, der das Glück seiner Bürger zu bestimmen versucht, ein Despot ist. Das Recht auf individuelle Selbstentfaltung kann nur wahrnehmen, wer die Kontrolle über sein Leben hat. Dies setzt jedoch informationelle Selbstbestimmung voraus. Es geht hier um nicht weniger als unsere wichtigsten verfassungsmäßig garantierten Rechte. Ohne deren Einhaltung kann eine Demokratie nicht funktionieren. Ihre Einschränkung unterminiert unsere Verfassung, unsere Gesellschaft und den Staat.

Da manipulative Technologien wie Big Nudging ähnlich wie personalisierte Werbung funktionieren, sind noch weitere Gesetze tangiert. Werbung muss als solche gekennzeichnet werden und darf nicht irreführend sein. Auch sind nicht alle psychologischen Tricks wie etwa unterschwellige Reize erlaubt. So ist es untersagt, ein Erfrischungsgetränk im Kinofilm für eine Zehntelsekunde einzublenden, weil die Werbung dann nicht bewusst wahrnehmbar ist, während sie unterbewusst vielleicht eine Wirkung entfaltet. Das heute gängige Sammeln und Verwerten persönlicher Daten lässt sich außerdem nicht mit dem geltendem Datenschutzrecht in europäischen Ländern vereinen.

Michael Hagner
© mit frdl. Gen. von Michael Hagner

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Schließlich steht auch die Rechtmäßigkeit personalisierter Preise in Frage, denn es könnte sich dabei um einen Missbrauch von Insiderinformationen handeln. Hinzu kommen mögliche Verstöße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, das Diskriminierungsverbot und das Wettbewerbsrecht, da freier Marktzugang und Preistransparenz nicht mehr gewährleistet sind. Die Situation ist vergleichbar mit Unternehmen, die ihre Produkte in anderen Ländern billiger verkaufen, jedoch den Erwerb über diese Länder zu verhindern versuchen. In solchen Fällen gab es bisher empfindliche Strafzahlungen.

Mit klassischer Werbung oder Rabattmarken sind personalisierte Werbung und Preise nicht vergleichbar, denn Erstere sind unspezifisch und dringen auch bei Weitem nicht so sehr in unsere Privatsphäre ein, um unsere psychologischen Schwächen auszunutzen und unsere kritische Urteilskraft auszuschalten. Außerdem gelten in der akademischen Welt selbst harmlose Entscheidungsexperimente als Versuche am Menschen und bedürfen der Beurteilung durch eine Ethikkommission, die der Öffentlichkeit Rechenschaft schuldet. Die betroffenen Personen müssen in jedem einzelnen Fall ihre informierte Zustimmung geben. Absolut unzureichend ist dagegen ein Klick zur Bestätigung, dass man einer 100-seitigen Nutzungsbedingung pauschal zustimmt, wie es bei vielen Informationsplattformen heutzutage der Fall ist.

Dennoch experimentieren manipulative Technologien wie Nudging mit Millionen von Menschen, ohne sie darüber in Kenntnis zu setzen, ohne Transparenz und ohne ethische Schranken. Selbst große soziale Netzwerke wie Facebook oder Onlinedating-Plattformen wie OK Cupid haben sich bereits öffentlich zu solchen sozialen Experimenten bekannt. Wenn man unverantwortliche Forschung an Mensch und Gesellschaft vermeiden möchte (man denke etwa an die Beteiligung von Psychologen an den Folterskandalen der jüngsten Vergangenheit), dann benötigen wir dringend hohe Standards, insbesondere wissenschaftliche Qualitätskriterien und einen ethischen Kodex analog zum hippokratischen Eid.

Wurden unser Denken, unsere Freiheit, unsere Demokratie gehackt?

Yvonne Hofstetter
© Heimo Aga

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Angenommen, es gäbe eine superintelligente Maschine, die quasi gottgleiches Wissen und übermenschliche Fähigkeiten hätte – würden wir dann ehrfürchtig ihren Anweisungen folgen? Das erscheint durchaus möglich. Aber wenn wir das täten, dann hätten sich die Befürchtungen von Elon Musk, Bill Gates, Steve Wozniak, Stephen Hawking und anderen bewahrheitet: Computer hätten die Kontrolle über die Welt übernommen. Es muss uns klar sein, dass auch eine Superintelligenz irren, lügen, egoistische Interessen verfolgen oder selbst manipuliert werden kann. Vor allem könnte sie sich nicht mit der verteilten, kollektiven Intelligenz der Bevölkerung messen.

Das Denken aller Bürger durch einen Computercluster zu ersetzen, wäre absurd, denn das würde die Qualität der erreichbaren Lösungen dramatisch verschlechtern. Schon jetzt ist klar, dass sich die Probleme in der Welt trotz Datenflut und Verwendung personalisierter Informationssysteme nicht verringert haben – im Gegenteil! Der Weltfrieden ist brüchig. Die langfristige Veränderung des Klimas könnte zum größten Verlust von Arten seit dem Aussterben der Dinosaurier führen. Die Auswirkungen der Finanzkrise auf Wirtschaft und Gesellschaft sind sieben Jahre nach ihrem Beginn noch lange nicht bewältigt. Cyberkriminalität richtet einen jährlichen Schaden von drei Billionen Dollar an. Staaten und Terroristen rüsten zum Cyberkrieg.

Andrej Zwitter
© Stefanie Starz

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In einer sich schnell verändernden Welt kann auch eine Superintelligenz nie perfekt entscheiden – die Datenmengen wachsen schneller als die Prozessierbarkeit, und die Übertragungsraten sind begrenzt. So werden lokales Wissen und Fakten außer Acht gelassen, die jedoch von Bedeutung sind, um gute Lösungen zu erzielen. Verteilte, lokale Steuerungsverfahren sind zentralen Ansätzen oft überlegen, vor allem in komplexen Systemen, deren Verhalten stark variabel, kaum voraussagbar und nicht in Echtzeit optimierbar ist. Das gilt schon für die Ampelsteuerung in Städten, aber noch viel mehr für die sozialen und ökonomischen Systeme unserer stark vernetzten, globalisierten Welt.

Weiterhin besteht die Gefahr, dass die Manipulation von Entscheidungen durch mächtige Algorithmen die Grundvoraussetzung der „kollektiven Intelligenz“ untergräbt, die sich an die Herausforderungen unserer komplexen Welt flexibel anpassen kann. Damit kollektive Intelligenz funktioniert, müssen Informationssuche und Entscheidungsfindung der Einzelnen unabhängig erfolgen. Wenn unsere Urteile und Entscheidungen jedoch durch Algorithmen vorgeben werden, führt das im wahrsten Sinne des Wortes zur Volksverdummung. Vernunftbegabte Wesen werden zu Befehlsempfängern degradiert, die reflexhaft auf Stimuli reagieren. Das reduziert die Kreativität, weil man weniger „out of the box“ denkt.

Jeroen van den Hoven
© Yvonne Compier

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Anders gesagt: Personalisierte Information baut eine „filter bubble“ um uns herum, eine Art digitales Gedankengefängnis. In letzter Konsequenz würde eine zentrale, technokratische Verhaltens- und Gesellschaftssteuerung durch ein superintelligentes Informationssystem eine neue Form der Diktatur bedeuten. Die von oben gesteuerte Gesellschaft, die unter dem Banner des „sanften Paternalismus“ daherkommt, ist daher im Prinzip nichts anderes als ein totalitäres Regime mit rosarotem Anstrich.

Die Entwicklung verläuft von der Programmierung von Computern zur Programmierung von Menschen

In der Tat zielt „Big Nudging“ auf die Gleichschaltung vieler individueller Handlungen und auf eine Manipulation von Sichtweisen und Entscheidungen. Dies rückt es in die Nähe der gezielten Entmündigung des Bürgers durch staatlich geplante Verhaltenssteuerung. Wir befürchten, dass die Auswirkungen langfristig fatal sein könnten, insbesondere wenn man die oben erwähnte, teils kulturzerstörende Wirkung bedenkt.

Eine bessere digitale Gesellschaft ist möglich

Am digitalen Scheideweg
© Dirk Helbing

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Wir stehen an einem Scheideweg: Würden die immer mächtiger werdenden Algorithmen unsere Selbstbestimmung einschränken und von wenigen Entscheidungsträgern kontrolliert, würden wir in eine Art Feudalismus 2.0 zurückfallen, da wichtige gesellschaftliche Errungenschaften verloren gingen. Aber wir haben jetzt die Chance, mit den richtigen Weichenstellungen den Weg zu einer Demokratie 2.0 einzuschlagen, von der wir alle profitieren werden.

Trotz des harten globalen Wettbewerbs tun Demokratien gut daran, ihre in Jahrhunderten erarbeiteten Errungenschaften nicht über Bord zu werfen. Gegenüber anderen politischen Regimes haben die westlichen Demokratien den Vorteil, dass sie mit Pluralismus und Diversität bereits umzugehen gelernt haben. Jetzt müssen sie nur noch stärker davon profitieren lernen.

In Zukunft werden jene Länder führend sein, die eine gute Balance von Wirtschaft, Staat und Bürgern erreichen. Dies erfordert vernetztes Denken und den Aufbau eines Informations-, Innovations-, Produkte- und Service-„Ökosystems“. Hierfür ist es nicht nur wichtig, Beteiligungsmöglichkeiten zu schaffen, sondern auch Vielfalt zu fördern. Denn es gibt keine Methode, um zu ermitteln, was die beste Zielfunktion ist: Soll man das Bruttosozialprodukt optimieren oder Nachhaltigkeit? Macht oder Frieden? Lebensdauer oder Zufriedenheit? Oft weiß man erst hinterher, was vorteilhaft gewesen wäre. Indem sie verschiedene Ziele zulässt, ist eine pluralistische Gesellschaft besser in der Lage, mit verschiedenen Herausforderungen zurechtzukommen.

Zentralisierte Top-down-Kontrolle ist eine Lösung der Vergangenheit, die sich nur für Systeme geringer Komplexität eignet. Deshalb sind föderale Systeme und Mehrheitsentscheidungen die Lösungen der Gegenwart. Mit der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung nimmt die gesellschaftliche Komplexität jedoch weiter zu. Die Lösung der Zukunft lautet kollektive Intelligenz: Citizen Science, Crowd Sourcing und Online-Diskussionsplattformen sind daher eminent wichtige neue Ansätze, um mehr Wissen, Ideen und Ressourcen nutzbar zu machen.

Gerd Gigerenzer
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Kollektive Intelligenz benötigt einen hohen Grad an Diversität. Diese wird jedoch durch heutige personalisierte Informationssysteme zu Gunsten der Verstärkung von Trends reduziert. Soziodiversität ist genauso wichtig wie Biodiversität. Auf ihr beruhen nicht nur kollektive Intelligenz und Innovation, sondern auch gesellschaftliche Resilienz – also die Fähigkeit, mit unerwarteten Schocks zurechtzukommen. Die Verringerung der Soziodiversität reduziert oft auch die Funktions- und Leistungsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft. Dies ist der Grund, warum totalitäre Regimes oft in Konflikte mit ihren Nachbarn geraten. Typische Langzeitfolgen sind politische Instabilitäten und Kriege, wie sie in unserer Geschichte immer wieder auftraten. Pluralität und Partizipation sind also nicht in erster Linie als Zugeständnisse an die Bürger zu sehen, sondern als maßgebliche Funktionsvoraussetzungen leistungsfähiger, komplexer, moderner Gesellschaften.

Zusammenfassend kann man sagen: Wir stehen an einem Scheideweg. Big Data, künstliche Intelligenz, Kybernetik und Verhaltensökonomie werden unsere Gesellschaft prägen – im Guten wie im Schlechten. Sind solche weit verbreiteten Technologien nicht mit unseren gesellschaftlichen Grundwerten kompatibel, werden sie früher oder später großflächigen Schaden anrichten. So könnten sie zu einer Automatisierung der Gesellschaft mit totalitären Zügen führen. Im schlimmsten Fall droht eine zentrale künstliche Intelligenz zu steuern, was wir wissen, denken und wie wir handeln. Jetzt ist daher der historische Moment, den richtigen Weg einzuschlagen und von den Chancen zu profitieren, die sich dabei bieten. Wir fordern deshalb die Einhaltung folgender Grundprinzipien:

  1. die Funktion von Informationssystemen stärker zu dezentralisieren;
  2. informationelle Selbstbestimmung und Partizipation zu unterstützen;
  3. Transparenz für eine erhöhte Vertrauenswürdigkeit zu verbessern;
  4. Informationsverzerrungen und -verschmutzung zu reduzieren;
  5. von den Nutzern gesteuerte Informationsfilter zu ermöglichen;
  6. gesellschaftliche und ökonomische Vielfalt zu fördern;
  7. die Fähigkeit technischer Systeme zur Zusammenarbeit zu verbessern;
  8. digitale Assistenten und Koordinationswerkzeuge zu erstellen;
  9. kollektive Intelligenz zu unterstützen; und
  10. die Mündigkeit der Bürger in der digitalen Welt zu fördern – eine „digitale Aufklärung“.

Mit dieser Agenda würden wir alle von den Früchten der digitalen Revolution profitieren: Wirtschaft, Staat und Bürger gleichermaßen. Worauf warten wir noch?

Lesen Sie mehr: Eine Strategie für das digitale Zeitalter – der Aktionsplan

Frey, B. S. und Gallus, J.: Beneficial and Exploitative Nudges. In: Economic Analysis of Law in European Legal Scholarship. Springer, 2015.
Gallagher, R.: Profiled: From Radio to Porn, British Spies Track Web Users’ Online Identities. In: The Intercept, 25.09.2015.
Gigerenzer, G.: On the Supposed Evidence for Libertarian Paternalism. In: Review of Philosophy and Psychology 6(3), S. 361-383, 2015.
Gigerenzer, G.: Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft. Bertelsmann, 2013.
Hafen, E. und Brauchbar, M.: Befreiung aus der digitalen Leibeigenschaft. In: Neue Zürcher Zeitung, 05.03.2014.
Hafen, E., Kossmann, D. und Brand, A.: Health data cooperatives – citizen empowerment. In: Methods of Information in Medicine 53(2), S. 82–86, 2014.
Han, B.-C.: .: Psychopolitik: Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. S. Fischer, 2014.
Harris, S.: The Social Laboratory. In: Foreign Policy, 29.07.2014.
Helbing, D.: The Automation of Society Is Next: How to Survive the Digital Revolution. CreateSpace, 2015.
Helbing, D.: Societal, Economic, Ethical and Legal Challenges of the Digital Revolution: From Big Data to Deep Learning, Artificial Intelligence, and Manipulative Technologies. Jusletter IT, 2015.
Helbing, D.: Thinking Ahead – Essays on Big Data, Digital Revolution, and Participatory Market Society. Springer, 2015.
Helbing, D. und Pournaras, E.: Build Digital Democracy. In: Nature 527, S. 33-34, 2015.
Hofstetter, Y.: Sie wissen alles: Wie intelligente Maschinen in unser Leben eindringen und warum wir für unsere Freiheit kämpfen müssen. Bertelsmann, 2014.
Köhler, T. R.: Der programmierte Mensch. Wie uns Internet und Smartphone manipulieren. Frankfurter Allgemeine Buch, 2012.
Koops, B.-J., Oosterlaken, I., Romijn, H., Swierstra, T. und van den Hoven, J.: Responsible Innovation 2. Concepts, Approaches, and Applications. Springer, 2015.
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Schirrmacher, F.: Technologischer Totalitarismus – Eine Debatte. Suhrkamp, 2015.
Schlieter, K.: Die Herrschaftsformel. Wie Künstliche Intelligenz uns berechnet, steuert und unser Leben verändert. Westend, 2015.
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Menschheit steht vor dem grössten Umbruch seit der industriellen Revolution

Um Arbeitsplätze zu schaffen und neue Organisationsformen zu finden, müsse die Gesellschaft auf kollektive Intelligenz und Selbstorganisation setzen, sagt der Soziophysiker Dirk Helbing

Dirk Helbing möchte uns nicht ängstigen. Aber egal wie sachlich und nüchtern der Komplexitätsforscher der ETH Zürich sein Anliegen auch vorbringt, seine Worte gehen durch Mark und Bein.

«Kein Land der Welt ist vorbereitet auf das, was kommt», sagt er und meint damit die vor uns liegende, digitale Revolution. Diese verändere unsere Gesellschaft in atemberaubender Geschwindigkeit. «Nichts wird so bleiben, wie es war. In den meisten europäischen Ländern werden circa 50  Prozent der heutigen Arbeitsplätze verloren gehen.»

Der Umbruch biete aber auch die Möglichkeit, unsere Gesellschaft und Wirtschaft neu zu gestalten, «eine Chance, wie sie sich nur alle 100 Jahre bietet», sagt Helbing. Wenn wir maximal von diesem riesigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Potenzial profitieren wollen, bräuchten wir dringend eine Art Apollo-Programm für Informations- und Kommunikationssysteme, um die nötigen Institutionen und Infrastrukturen für die digitale Gesellschaft der Zukunft zu errichten.

Die Zeit drängt: Es bleiben uns vielleicht nur 20 Jahre. «Das ist sehr wenig, wenn man bedenkt, dass die Planung einer neuen Strasse oft 30 Jahre oder mehr verschlingt.»

Vorboten der digitalen Revolution kennt jeder: Wir kaufen online, nutzen Bezahlsysteme wie Bitcoin, kommunizieren über Facebook und Whatsapp, sehen Filme via Netflix, fahren Taxi mit Uber, liefern Päckchen mit Drohnen aus, bauen Häuser per 3-D-Drucker, wundern uns über die globale Überwachung, werden bald von autonomen Fahrzeugen chauffiert und von Robotern gepflegt. Noch vor zehn Jahren hatten wir allenfalls eine vage Ahnung von diesen Dingen.

Computer sind besser im Schach, Rechnen, bei Strategiespielen

Doch die Entwicklung geht mit irrsinnigem Tempo weiter – denn sie basiert auf Computerprozessoren, deren Leistung sich etwa alle 18 Monate verdoppelt. Das heisst: die Rechenleistung wächst exponentiell. Was das bedeutet, lässt die Geschichte von den Reiskörnern auf den Feldern eines Schachbretts erahnen: Legt man ein Reiskorn auf Feld eins, zwei auf Feld zwei, vier auf Feld drei, acht auf Feld vier und so weiter, dann liegen auf Feld 64 nicht nur ein paar Tausend Körner, sondern exakt 9 223 372 036 854 775 808 Stück – das entspricht in etwa dem sechsfachen Volumen des Bodensees. Schon heute schlagen Computer die klügsten Menschen im Rechnen, in Strategiespielen wie Schach, im Auffinden und Verwerten von Wissen und in Quizshows. In etwa zehn Jahren werden Rechner die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns erreichen.

Auch die Datenmenge explodiert: Innerhalb eines einzigen Jahres produzieren wir so viele Daten wie in der gesamten Menschheitsgeschichte zusammen. Internetsuche und Onlinekäufe, Tweets und Facebook-Comments, die Nutzung von Google Maps mit Smartphones sowie all die Sensoren auf der Erde und im Weltraum erzeugen Unmengen von Daten, sogenannte Big Data.

Kommt hinzu, dass immer mehr Gegenstände – vom Handy über den Kühlschrank bis zur Zahnbürste – mit Sensoren ausgestattet werden und ein Internet der Dinge aufspannen. «Schon heute gibt es mehr Objekte, die mit dem Internet verbunden sind, als Menschen», sagt Helbing. «In zehn Jahren werden 150 Milliarden Gegenstände im Internet der Dinge verknüpft sein.» Wir schlittern also in eine immer stärker vernetzte Welt mit immer mehr Abhängigkeiten.

«Die Komplexität der Gesellschaft wächst sogar noch schneller als die Rechenleistung der Supercomputer», sagt Helbing. Das heisst: Selbst mithilfe der schnellsten Rechner wird es sogar der klügsten und verantwortungsvollsten Regierung nicht mehr gelingen, die sich rasch wandelnden Regeln und Muster unserer digitalen Welt schnell genug zu erfassen und der Komplexität Herr zu werden. «Die Vorstellung, man könnte ein globales System dieser Komplexität noch zentral steuern, ist einfach falsch», sagt Helbing. «Die Grösse der Herausforderung übersteigt die Möglichkeiten klassischer Lösungsansätze.»

Symptome dieser Komplexität seien zum Beispiel Finanz- und Wirtschaftskrisen. Die Europäische Zentralbank habe bisher keine überzeugende Antwort darauf gefunden, sagt Helbing. Weitere Nebenwirkungen der digitalen Revolution sind Cyberkriminalität, Cyberkrieg und die negativen Seiten von Big Data: Die gigantischen Mengen an Information und persönlichen Daten, die Firmen wie Google, Apple, Amazon, Facebook, Twitter und die Geheimdienste anhäufen, sind nicht mehr zu kontrollieren.

Die Durchschlagskraft der bevorstehenden Umwälzungen ist in etwa vergleichbar mit der industriellen Revolution. Bis etwa 1850 arbeiteten circa 70 Prozent der Bevölkerung im landwirtschaftlichen Sektor. Heute sind es in den industrialisierten Ländern noch 3 bis 5 Prozent. Neue Arbeitsplätze in der Industrie glichen zwar die Arbeitslosigkeit im Agrarsektor teilweise aus. Aber der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft hat Zeit gebraucht und erhebliche Turbulenzen verursacht.

Nun gehen prominente Studien davon aus, dass die Anzahl heutiger Industriejobs durch Robotik halbiert wird. Auch der Servicesektor werde auf die Hälfte schrumpfen, da intelligente Computer mehr und mehr Dienste übernehmen. Agrar-, Industrie- und Servicesektor stellen dann nur noch rund 50 Prozent der heutigen Jobs. Die 30 Millionen Arbeitslosen in Europa und eine Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent in manchen Ländern sprechen eine deutliche Sprache. «In der Schweiz werden wir diese Entwicklung zuletzt spüren», sagt Helbing. «Aber dann ist es zu spät, sich zu wappnen.»

Es sollte uns Sorgen machen, dass der digitale Sektor erst rund 15  Prozent der Arbeitsplätze stellt. «Digitale Ansätze sind meist viel effizienter als herkömmliche Lösungen», sagt Helbing. Als zum Beispiel Kodak pleiteging, kamen Firmen wie Instagram auf, die aber nur rund ein Tausendstel der Mitarbeiter beschäftigen. «Die neuen Firmen werden wohl nicht in der Lage sein, das Äquivalent der wegfallenden Arbeitsplätze neu zu schaffen.»

Wie können wir auf diese massiven Umwälzungen reagieren und die entfesselte digitale Welt bändigen? Laut Helbing gibt es eine Lösung: Anstatt wie Don Quijote hilflos gegen die Windmühlen der Digitalisierung und Komplexität anzukämpfen, sollten wir wie bei der asiatischen Kampfkunst die Kräfte des Gegners zum eigenen Vorteil nutzen. Uns gegen die Komplexität zu stemmen, sei aussichtslos. Vielmehr müssten wir mit ihr kooperieren.

Die erste Hebeltechnik der zu erlernenden Kampfkunst ist laut Helbing eine Art Intelligenz-Upgrade. Helbing streckt seine langen Beine aus und lehnt sich im schwarzen Sessel seines Büros zurück. Seine Sätze sind messerscharf, kein überschüssiges Wort, kein «ääh» oder «hmm» ist zu hören. Dann berichtet er von einem Wettbewerb des Unternehmens Netflix, der Erstaunliches zutage förderte.

Die Summe der Ideen ist besser als der klügste Mensch

Netflix streamt Videos und Fernsehen übers Internet. Und wie Amazon für seine Kaufempfehlungen unsere Vorlieben für Bücher oder DVDs erforscht, wollte Netflix wissen, welchen Film- und Fernseh-Geschmack ihre Kunden haben. Dazu wühlten Algorithmen in grossen Datenmengen – doch die Resultate waren eher bescheiden. «Das Problem war zu komplex», sagt Helbing. «Daher sagte Netflix: Es ist uns eine Million Dollar wert, wenn es jemand schafft, unsere Algorithmen um zehn Prozent zu verbessern.» Hunderte Teams versuchten sich am Netflix-Challenge. Doch selbst zwei Jahre später schaffte kein einziges die 10-Prozent-Hürde.

Schliesslich kam das beste Team auf die Idee, sich mit den nächstbesten zusammenzutun und über ihre Voraussagen bezüglich des Nutzergeschmacks zu mitteln. Man würde erwarten: Wenn zum Besten etwas Schlechteres hinzukommt, sollte das Resultat schlechter sein. «Das Gegenteil war der Fall», sagt Helbing. Das gemittelte Resultat war besser und schaffte sogar die 10-Prozent-Hürde. «Das ist wirklich atemberaubend: Diversität schlägt die beste Lösung.» Anders ausgedrückt: Die Summe der Ideen vieler ist besser als der klügste Mensch, selbst wenn dieser Supercomputer nutzt.

Es ist daher eine «kollektive Intelligenz», die Helbing als Antwort auf die vernetzte Welt vorschwebt. Das steht im Gegensatz zu heute, wo manche Regierungschefs oder Wirtschaftsführer noch von oben her bestimmen. «Wir müssen möglichst viele gute Ideen mit an Bord nehmen, damit wir klügere Entscheidungen treffen können», sagt Helbing. Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien seien wie geschaffen, um diese kollektive Intelligenz zu ermöglichen.

Der zweite Trick in der asiatischen Kampfkunst ist das Phänomen der Selbstorganisation. Helbing zieht einen Stapel Manuskripte aus einer Tasche und legt sie auf den Tisch. Er verfasst gerade ein Buch zur digitalen Gesellschaft, das er der SonntagsZeitung vorab exklusiv zu lesen gab. Wie die Selbstorganisation den gordischen Knoten der Komplexität lösen könnte, lässt sich anhand eines Beispiels erläutern: des Stadtverkehrs.

In der Rushhour stösst die Verkehrsleitzentrale oft an ihre Grenzen. Zwar kommen Supercomputer zum Einsatz, doch selbst damit lässt sich nicht in Echtzeit ermitteln, wie die Ampeln am besten zu schalten sind. Schon bei einer mittelgrossen Stadt wächst der Rechenaufwand ins Unermessliche. Die Verkehrsleitzentrale, die im übertragenen Sinne einer Regierung oder einem Wirtschaftsführer entspricht, kann den Verkehr beim besten Willen nicht mehr optimal steuern.

Dezentrale statt zentrale Schaltung von Ampeln

Aber es gibt ein Alternative: die dezentrale Schaltung der Ampeln. Dazu misst jede Kreuzung mittels Sensoren die Zu- und Abflüsse der Fahrzeuge. Ziel ist es, deren Fahrzeit zu minimieren. «Das ist mathematisch nicht sehr schwierig», sagt Helbing. «Und bei geringen Verkehrsaufkommen ist das viel besser als die Steuerung durch die Zentrale.»

Obwohl es dabei keine Abstimmung zwischen den Kreuzungen gibt, stellt sich eine erstaunliche Koordination der Fahrzeugströme ein. Es ist, als würden die Ampeln wie magisch von einer unsichtbaren Hand gesteuert. Aber natürlich ist hier keine Magie am Werk – in der Wissenschaft ist das Phänomen als Selbstorganisation bekannt. Es ist laut Helbing auch der Grund, weshalb die kapitalistische Wirtschaft besser funktioniert als die kommunistische Zentralplanung: Der Kapitalismus basiert auf dem einfachen Prinzip des rational und egoistisch entscheidenden Homo oeconomicus, der statt der Fahrzeit seinen Profit optimiert. Wie von einer unsichtbaren Hand gesteuert, sorgt das – meist – für eine florierende Wirtschaft.

Doch nicht in jeder Situation ist diese Methode perfekt. Steigt das Verkehrsaufkommen, bricht die selbst organisierte Koordination plötzlich zusammen. Die entstehenden Fahrzeugschlangen wachsen bis zur vorgelagerten Kreuzung, und es entsteht plötzlich ein Megastau. Es gibt also einen Punkt, wo die unsichtbare Hand versagt und die Koordination endet – so wie das auch bei der Finanzkrise 2008 der Fall war. Hier ist die Verkehrsleitzentrale doch wieder gefragt: Sie kann einige Ampeln länger als üblich auf Grün stellen, um den Verkehrszusammenbruch hinauszuzögern. Entsprechend kann eine Regierung Milliarden in die Rettung der Banken pumpen, um Zeit zu gewinnen. Aber insgesamt ist das noch nicht befriedigend.

Zum Glück gibt es einen weiteren Ansatz, der in jeder Situation das Optimum herausholt und einem Verkehrskollaps – vielleicht auch einem Finanzcrash – am besten entgegenwirkt. Auch hier versuchen die Kreuzungen eigenständig die Fahrzeit zu minimieren – aber nicht immer und um jeden Preis. Sobald eine Schlange fast bis zur nächsten Kreuzung zurückreicht und ein Verkehrskollaps droht, wird die Fahrzeitminimierung unterbrochen und zunächst die entsprechende Fahrzeugschlange abgebaut. «Wir nennen das die geleitete Selbstorganisation» sagt Helbing. So funktioniert die «magische» Koordination des Verkehrsflusses bei jedem Verkehrsaufkommen bestmöglich. Damit das klappt, braucht es im Wesentlichen zwei Dinge: erstens Echtzeitinformationen von Messsensoren, die zwischen den Nachbarkreuzungen ausgetauscht werden, und zweitens geeignete (Spiel-)Regeln, um auf diese Information zu reagieren. Dann stellt sich die gewünschte Funktionalität – der Verkehrsfluss – wie von selbst ein.

In Dresden gibt es bereits erste Ampeln, die nach diesem Prinzip funktionieren. «Das Internet der Dinge und die damit verknüpften Echtzeitinformationen ermöglichen es jetzt, das Prinzip der Selbstorganisation auch in der Wirtschaft und Gesellschaft nutzbringend einzusetzen, trotz aller Komplexität» sagt Helbing. «Denn aus mathematischer Sicht sind die Probleme vergleichbar.»

Die Allmend ist ein Schweizer Beispiel für Selbstorganisation

Ein Beispiel findet sich in der Schweiz. Hier hat die US-amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträgerin Elinor Ostrom die Allmend untersucht, also gemeinschaftlich bewirtschaftete Felder, Weiden und Wälder. Ostrom hat acht Regeln identifiziert, mit deren Befolgung die Allmend funktioniert. So braucht es eine klare Abgrenzung zwischen Gruppen, die zur Allmend gehören, und solchen, die nicht beteiligt sind. Auch braucht es günstige und einfache Mechanismen zur Lösung von Konflikten. Mit solchen Regeln organisiert sich die Allmend gewissermassen selbst, ohne Steuerung von oben.

Die Idee der Selbstorganisation von unten ist also gar nicht neu. Sie liegt beispielsweise auch sozialen Normen zugrunde. Wer den Zeitungsstapel nicht ordentlich bündelt, erntet zumindest einen bösen Blick vom Nachbarn. Auch das ist eine Variante der Selbstorganisation an der Basis der Gesellschaft. Entsprechend funktionieren Ebay und Ricardo: Wer sich nicht an die Regeln hält, bekommt schlechte Kritiken und wird Waren künftig nicht oder nur zu einem schlechten Preis los. Digitale Reputationssysteme können daher Qualität und verantwortungsvolles Handeln fördern. «Selbstorganisation ist keine Theorie aus dem Elfenbeinturm», sagt Helbing. «Das ist längst ein Erfolgsprinzip unserer Gesellschaft.» Die Herausforderung besteht jetzt darin, das Prinzip der geleiteten Selbstorganisation auf die digitale und globalisierte Welt auszudehnen.

Ein Beispiel: San Francisco wird hin und wieder von schweren Erdbeben erschüttert. Um die Widerstandsfähigkeit der Region im Falle einer solchen Naturkatastrophe zu verbessern, haben sich Programmierer bei einem von Helbing mitorganisierten Workshop in San Francisco eine App ausgedacht. Wer diese App auf dem Handy hat, kann sich melden, wenn er Hilfe, Wasser, Babynahrung oder warme Decken braucht. Die Info wird hochgeladen, und andere Leute aus der Nachbarschaft können sehen, was wo benötigt wird. Wer Wasserflaschen oder Babynahrung im Keller hortet, kann diese ein paar Häuser weiter zu den Bedürftigen bringen. So finden die Bürger via App rasch zueinander, lange bevor ein Katastropheneinsatzteam bereit ist – je nachdem verzögern eingestürzte Brücken oder zerstörte Strassen deren Vorstoss ohnehin.

Natürlich wird auch der Krisenstab von den Informationen der App profitieren: Selbst wenn noch keine professionellen Helfer vor Ort sind, zeigt die App, wo die Not am grössten ist. Doch vor allem wird dank der App die grundsätzliche Hilfsbereitschaft der Menschen zum Nutzen aller geschickt koordiniert und Hilfe zur Selbsthilfe ermöglicht.

Was laut Helbing nun also entstehen wird, ist eine Art «Mitmachgesellschaft», bei der viele Probleme dezentral «von unten» gelöst werden, entsprechend der jeweiligen Bedürfnisse und Ressourcen vor Ort. Wie bei Wikipedia ist die Partizipation der Bürger dabei von zentraler Bedeutung. Denn Einheitslösungen «von oben» sind oft teuer, ineffizient, kommen verspätet oder treffen nicht die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen. In der digitalen Gesellschaft müssen Probleme nur dann auf übergeordneten Instanzen entschieden werden, wenn sie auf unteren Ebenen nicht effizient zu lösen sind.

Erste Beispiele gibt es schon: Bei der Sharing Economy werden konventionelle und digitale Gebrauchsgüter nicht mehr von jedem gekauft und besessen, sondern geteilt und gemeinsam benutzt. So kann jeder eine höhere Lebensqualität erzielen – und nachhaltiger für die Umwelt ist es auch. Carsharing und Airbnb sind vielleicht die bekanntesten Beispiele. Daneben kommt gerade das Maker Movement auf, eine Art Bastlerbewegung von kleinen Daniel Düsentriebs, die ihre Ideen mit anderen teilen und zum Beispiel mit 3-D-Druckern vieles selber herstellen. So entsteht schnell eine hohe Kompetenz zur Lösung von Problemen und zur Befriedigung lokaler Bedürfnisse.

Helbing betrachtet dieses konstruktive Miteinander gar als eine neue Art der Ökonomie: An die Stelle des Homo oeconomicus, der nur an sich, nicht aber an andere und auch nicht an die Umweltfolgen denkt, tritt der vernetzt denkende Homo socialis, der realisiert, dass es allen besser geht, wenn jeder ein bisschen auf die anderen und die Umwelt Rücksicht nimmt.

Inzwischen arbeitet Helbings Team am Konzept für ein völlig neues Informationssystem, wenn man so will die dritte Kampftechnik. Die Rede ist von «Nervousnet», das die Probleme des heutigen Internets der Dinge und von Big Data überwinden soll. Unser Handy sammelt bekanntlich alle möglichen Daten über uns und unser Verhalten. Doch diese Daten sind im Besitz der Internetgiganten und der Anbieter kostenloser Apps, die sie oft für manipulative Zwecke gebrauchen. Bis heute haben wir keinen Zugriff auf unsere Daten und keinen Einfluss auf ihre Verwendung, was uns zum Spielball unbekannter Kräfte macht. Unser Verfassungsrecht auf informationelle Selbstbestimmung ist de facto ausser Kraft gesetzt. Mit Nervousnet soll sich das ändern.

Digitales Nervensystem, in dem Bürger ihre Daten kontrollieren

Helbing möchte das Internet der Dinge nämlich als Bürgernetzwerk betreiben, es also den Bürgen in die Hand geben und es zu einer Art «digitalem Nervensystem» weiterentwickeln. Dank zahlloser Sensoren, die Bewegung, Temperatur, Lärm oder was auch immer messen, nimmt dieses Nervousnet unserer Gesellschaft den Puls. Die Steuerung der Sensoren erfolgt mit einer App, die man sich kostenlos herunterladen kann.

Aber im Gegensatz zu den Daten, die beispielsweise Google, Apple, Facebook und Twitter erheben, soll die Datenhoheit bei den Bürgern liegen. Wir selber sollen bestimmen, welche Informationen bei uns bleiben und welche wir mit wem teilen. Kontrollfunktionen und ein persönliches Datenpostfach sollen uns maximale Kontrollmöglichkeiten in die Hand geben. Es soll also kein orwellscher Überwachungsalbtraum entstehen, wie er heute droht. Vielmehr möchte Helbing ein vertrauenswürdiges Netzwerk aufbauen, an dem die Bürger teilhaben und das sie selbst entscheidend prägen. Im Nervousnet ist gewissermassen das basisdemokratische Funktionsprinzip der Schweiz auf das Internet der Dinge übertragen.

Nervousnet wird viele Möglichkeiten eröffnen. Von der Suche nach einer Parklücke über ein Messnetz für das Wetter bis zu einem Erdbebenwarnsystem wird alles möglich. Wer will, könne messen, wie es seinen Pflanzen gehe, oder mit seinen Freunden eigene Unterhaltungsspiele bauen. Die Nutzer können selber neue Funktionen entwickeln und damit die digitale Welt der Zukunft mitgestalten.

Nervousnet befriedigt aber nicht nur den Spieltrieb von Tüftlern. Es soll eine Jobmaschine werden, welche die Gründung vieler Firmen ermöglicht. Das funktioniert so: Die gesammelten und freigegebenen Daten bilden eine Art Wikipedia für Echtzeitdaten – jeder trägt dazu bei, und jeder kann die Daten nutzen. Zudem sind die Programme, mit denen die Sensoren betrieben werden, open source. Das heisst: Jeder kann sie lesen und zu deren Optimierung und Weiterentwicklung beitragen. «Die unterste Nutzungsebene wäre gratis und viele Programme frei verfügbar», sagt Helbing. Aber darauf aufbauend wird es kommerzielle Premiumdienste geben. «Damit wollen wir die Bürger in die Lage versetzen, sich selbstständig zu machen, eigene Firmen zu gründen und selber neue Services und Produkte anzubieten.» Im Nullkommanichts könnte so ein leistungsfähiges Informationsökosystem entstehen. Schon in wenigen Monaten soll es Sensorkits für Nervousnet zu kaufen geben und erste Apps, mit denen man sie betreiben kann.

In diesem als Bürgernetzwerk aufgebauten Nervousnet sieht der Komplexitätsforscher auch eine grosse Chance für Europa. «Europa befand sich bisher im digitalen Dornröschenschlaf», sagt Helbing. Firmen wie Google investieren jährlich sechs Milliarden Euro allein in Forschung und Entwicklung und das gesamte Silicon Valley ein Vielfaches davon. Dagegen komme Europa einfach nicht an. Es sei denn, es wählt eine ganz andere Strategie: Statt auf abgeschottetes Wissen zu setzen wie Google, Facebook und andere Internetgiganten, sollte das Wissen wie beim Bürgernetzwerk offen sein und geteilt werden. Das Wissen des einen kann dann als Input für das Wissen des anderen dienen. So wird kollektive Intelligenz angehäuft. «Das würde eine unglaubliche Wachstumsdynamik entfalten», sagt Helbing. Die kollektive Intelligenz der Vielen könnte das proprietäre Wissen der wenigen Internetgiganten aus Asien und Amerika ausstechen.

Das Potenzial jedenfalls ist enorm. Die Unternehmensberatung McKinsey schätzt den ökonomische Wert des offen zugänglichen Teils von Big Data – genannt Open Data – auf 3000 bis 5000 Milliarden Dollar pro Jahr.

Wir müssen eine partizipative digitale Gesellschaft bauen

Doch die positiven Aspekte der digitalen Revolution stellen sich nicht von selbst ein. So wie wir für die Industriegesellschaft Milliarden in öffentliche Strassen und für die Dienstleistungsgesellschaft Milliarden in öffentliche Schulen, Universitäten und Bibliotheken stecken, benötigt auch das digitale Zeitalter Investitionen in öffentliche Infrastrukturen. Diese reichen von einer unabhängigen Suchmaschine über Lösungen zum Schutz der Privatsphäre bis zu einer modernen Jobplattform und Nervousnet als Erweiterung des Internets.

Laut Helbing ist nun die Öffentlichkeit an der Reihe, sich Gedanken über die digitale Gesellschaft der Zukunft zu machen. Es sei höchste Zeit, eine Debatte darüber zu lancieren – selbst wenn die Entwicklung am Ende etwas langsamer ablaufen sollte, als manche Experten befürchten. «Wir stehen heute an einem Scheideweg», sagt Helbing. Wir können entweder in eine von oben dirigierte Überwachungsgesellschaft hineinschlittern. Oder wir bauen eine partizipative digitale Gesellschaft und nutzen die Möglichkeiten der kollektiven Intelligenz und der Selbstorganisation. «Wenn uns das gelingt», sagt Helbing, «schreiten wir in ein lichtes, ein besseres Zeitalter, in dem wir einige der Probleme lösen können, die unsere Gesellschaft heute noch plagen .»

Weitere Lektüre: –  GDI-Report «Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft»: http://www.gdi.ch/de/studien –  Blog von Dirk Helbing: futurict.blogspot.ch –  Nervousnet der ETH: http://www.nervous.ethz.ch