Menschheit steht vor dem grössten Umbruch seit der industriellen Revolution

Um Arbeitsplätze zu schaffen und neue Organisationsformen zu finden, müsse die Gesellschaft auf kollektive Intelligenz und Selbstorganisation setzen, sagt der Soziophysiker Dirk Helbing

Dirk Helbing möchte uns nicht ängstigen. Aber egal wie sachlich und nüchtern der Komplexitätsforscher der ETH Zürich sein Anliegen auch vorbringt, seine Worte gehen durch Mark und Bein.

«Kein Land der Welt ist vorbereitet auf das, was kommt», sagt er und meint damit die vor uns liegende, digitale Revolution. Diese verändere unsere Gesellschaft in atemberaubender Geschwindigkeit. «Nichts wird so bleiben, wie es war. In den meisten europäischen Ländern werden circa 50  Prozent der heutigen Arbeitsplätze verloren gehen.»

Der Umbruch biete aber auch die Möglichkeit, unsere Gesellschaft und Wirtschaft neu zu gestalten, «eine Chance, wie sie sich nur alle 100 Jahre bietet», sagt Helbing. Wenn wir maximal von diesem riesigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Potenzial profitieren wollen, bräuchten wir dringend eine Art Apollo-Programm für Informations- und Kommunikationssysteme, um die nötigen Institutionen und Infrastrukturen für die digitale Gesellschaft der Zukunft zu errichten.

Die Zeit drängt: Es bleiben uns vielleicht nur 20 Jahre. «Das ist sehr wenig, wenn man bedenkt, dass die Planung einer neuen Strasse oft 30 Jahre oder mehr verschlingt.»

Vorboten der digitalen Revolution kennt jeder: Wir kaufen online, nutzen Bezahlsysteme wie Bitcoin, kommunizieren über Facebook und Whatsapp, sehen Filme via Netflix, fahren Taxi mit Uber, liefern Päckchen mit Drohnen aus, bauen Häuser per 3-D-Drucker, wundern uns über die globale Überwachung, werden bald von autonomen Fahrzeugen chauffiert und von Robotern gepflegt. Noch vor zehn Jahren hatten wir allenfalls eine vage Ahnung von diesen Dingen.

Computer sind besser im Schach, Rechnen, bei Strategiespielen

Doch die Entwicklung geht mit irrsinnigem Tempo weiter – denn sie basiert auf Computerprozessoren, deren Leistung sich etwa alle 18 Monate verdoppelt. Das heisst: die Rechenleistung wächst exponentiell. Was das bedeutet, lässt die Geschichte von den Reiskörnern auf den Feldern eines Schachbretts erahnen: Legt man ein Reiskorn auf Feld eins, zwei auf Feld zwei, vier auf Feld drei, acht auf Feld vier und so weiter, dann liegen auf Feld 64 nicht nur ein paar Tausend Körner, sondern exakt 9 223 372 036 854 775 808 Stück – das entspricht in etwa dem sechsfachen Volumen des Bodensees. Schon heute schlagen Computer die klügsten Menschen im Rechnen, in Strategiespielen wie Schach, im Auffinden und Verwerten von Wissen und in Quizshows. In etwa zehn Jahren werden Rechner die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns erreichen.

Auch die Datenmenge explodiert: Innerhalb eines einzigen Jahres produzieren wir so viele Daten wie in der gesamten Menschheitsgeschichte zusammen. Internetsuche und Onlinekäufe, Tweets und Facebook-Comments, die Nutzung von Google Maps mit Smartphones sowie all die Sensoren auf der Erde und im Weltraum erzeugen Unmengen von Daten, sogenannte Big Data.

Kommt hinzu, dass immer mehr Gegenstände – vom Handy über den Kühlschrank bis zur Zahnbürste – mit Sensoren ausgestattet werden und ein Internet der Dinge aufspannen. «Schon heute gibt es mehr Objekte, die mit dem Internet verbunden sind, als Menschen», sagt Helbing. «In zehn Jahren werden 150 Milliarden Gegenstände im Internet der Dinge verknüpft sein.» Wir schlittern also in eine immer stärker vernetzte Welt mit immer mehr Abhängigkeiten.

«Die Komplexität der Gesellschaft wächst sogar noch schneller als die Rechenleistung der Supercomputer», sagt Helbing. Das heisst: Selbst mithilfe der schnellsten Rechner wird es sogar der klügsten und verantwortungsvollsten Regierung nicht mehr gelingen, die sich rasch wandelnden Regeln und Muster unserer digitalen Welt schnell genug zu erfassen und der Komplexität Herr zu werden. «Die Vorstellung, man könnte ein globales System dieser Komplexität noch zentral steuern, ist einfach falsch», sagt Helbing. «Die Grösse der Herausforderung übersteigt die Möglichkeiten klassischer Lösungsansätze.»

Symptome dieser Komplexität seien zum Beispiel Finanz- und Wirtschaftskrisen. Die Europäische Zentralbank habe bisher keine überzeugende Antwort darauf gefunden, sagt Helbing. Weitere Nebenwirkungen der digitalen Revolution sind Cyberkriminalität, Cyberkrieg und die negativen Seiten von Big Data: Die gigantischen Mengen an Information und persönlichen Daten, die Firmen wie Google, Apple, Amazon, Facebook, Twitter und die Geheimdienste anhäufen, sind nicht mehr zu kontrollieren.

Die Durchschlagskraft der bevorstehenden Umwälzungen ist in etwa vergleichbar mit der industriellen Revolution. Bis etwa 1850 arbeiteten circa 70 Prozent der Bevölkerung im landwirtschaftlichen Sektor. Heute sind es in den industrialisierten Ländern noch 3 bis 5 Prozent. Neue Arbeitsplätze in der Industrie glichen zwar die Arbeitslosigkeit im Agrarsektor teilweise aus. Aber der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft hat Zeit gebraucht und erhebliche Turbulenzen verursacht.

Nun gehen prominente Studien davon aus, dass die Anzahl heutiger Industriejobs durch Robotik halbiert wird. Auch der Servicesektor werde auf die Hälfte schrumpfen, da intelligente Computer mehr und mehr Dienste übernehmen. Agrar-, Industrie- und Servicesektor stellen dann nur noch rund 50 Prozent der heutigen Jobs. Die 30 Millionen Arbeitslosen in Europa und eine Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent in manchen Ländern sprechen eine deutliche Sprache. «In der Schweiz werden wir diese Entwicklung zuletzt spüren», sagt Helbing. «Aber dann ist es zu spät, sich zu wappnen.»

Es sollte uns Sorgen machen, dass der digitale Sektor erst rund 15  Prozent der Arbeitsplätze stellt. «Digitale Ansätze sind meist viel effizienter als herkömmliche Lösungen», sagt Helbing. Als zum Beispiel Kodak pleiteging, kamen Firmen wie Instagram auf, die aber nur rund ein Tausendstel der Mitarbeiter beschäftigen. «Die neuen Firmen werden wohl nicht in der Lage sein, das Äquivalent der wegfallenden Arbeitsplätze neu zu schaffen.»

Wie können wir auf diese massiven Umwälzungen reagieren und die entfesselte digitale Welt bändigen? Laut Helbing gibt es eine Lösung: Anstatt wie Don Quijote hilflos gegen die Windmühlen der Digitalisierung und Komplexität anzukämpfen, sollten wir wie bei der asiatischen Kampfkunst die Kräfte des Gegners zum eigenen Vorteil nutzen. Uns gegen die Komplexität zu stemmen, sei aussichtslos. Vielmehr müssten wir mit ihr kooperieren.

Die erste Hebeltechnik der zu erlernenden Kampfkunst ist laut Helbing eine Art Intelligenz-Upgrade. Helbing streckt seine langen Beine aus und lehnt sich im schwarzen Sessel seines Büros zurück. Seine Sätze sind messerscharf, kein überschüssiges Wort, kein «ääh» oder «hmm» ist zu hören. Dann berichtet er von einem Wettbewerb des Unternehmens Netflix, der Erstaunliches zutage förderte.

Die Summe der Ideen ist besser als der klügste Mensch

Netflix streamt Videos und Fernsehen übers Internet. Und wie Amazon für seine Kaufempfehlungen unsere Vorlieben für Bücher oder DVDs erforscht, wollte Netflix wissen, welchen Film- und Fernseh-Geschmack ihre Kunden haben. Dazu wühlten Algorithmen in grossen Datenmengen – doch die Resultate waren eher bescheiden. «Das Problem war zu komplex», sagt Helbing. «Daher sagte Netflix: Es ist uns eine Million Dollar wert, wenn es jemand schafft, unsere Algorithmen um zehn Prozent zu verbessern.» Hunderte Teams versuchten sich am Netflix-Challenge. Doch selbst zwei Jahre später schaffte kein einziges die 10-Prozent-Hürde.

Schliesslich kam das beste Team auf die Idee, sich mit den nächstbesten zusammenzutun und über ihre Voraussagen bezüglich des Nutzergeschmacks zu mitteln. Man würde erwarten: Wenn zum Besten etwas Schlechteres hinzukommt, sollte das Resultat schlechter sein. «Das Gegenteil war der Fall», sagt Helbing. Das gemittelte Resultat war besser und schaffte sogar die 10-Prozent-Hürde. «Das ist wirklich atemberaubend: Diversität schlägt die beste Lösung.» Anders ausgedrückt: Die Summe der Ideen vieler ist besser als der klügste Mensch, selbst wenn dieser Supercomputer nutzt.

Es ist daher eine «kollektive Intelligenz», die Helbing als Antwort auf die vernetzte Welt vorschwebt. Das steht im Gegensatz zu heute, wo manche Regierungschefs oder Wirtschaftsführer noch von oben her bestimmen. «Wir müssen möglichst viele gute Ideen mit an Bord nehmen, damit wir klügere Entscheidungen treffen können», sagt Helbing. Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien seien wie geschaffen, um diese kollektive Intelligenz zu ermöglichen.

Der zweite Trick in der asiatischen Kampfkunst ist das Phänomen der Selbstorganisation. Helbing zieht einen Stapel Manuskripte aus einer Tasche und legt sie auf den Tisch. Er verfasst gerade ein Buch zur digitalen Gesellschaft, das er der SonntagsZeitung vorab exklusiv zu lesen gab. Wie die Selbstorganisation den gordischen Knoten der Komplexität lösen könnte, lässt sich anhand eines Beispiels erläutern: des Stadtverkehrs.

In der Rushhour stösst die Verkehrsleitzentrale oft an ihre Grenzen. Zwar kommen Supercomputer zum Einsatz, doch selbst damit lässt sich nicht in Echtzeit ermitteln, wie die Ampeln am besten zu schalten sind. Schon bei einer mittelgrossen Stadt wächst der Rechenaufwand ins Unermessliche. Die Verkehrsleitzentrale, die im übertragenen Sinne einer Regierung oder einem Wirtschaftsführer entspricht, kann den Verkehr beim besten Willen nicht mehr optimal steuern.

Dezentrale statt zentrale Schaltung von Ampeln

Aber es gibt ein Alternative: die dezentrale Schaltung der Ampeln. Dazu misst jede Kreuzung mittels Sensoren die Zu- und Abflüsse der Fahrzeuge. Ziel ist es, deren Fahrzeit zu minimieren. «Das ist mathematisch nicht sehr schwierig», sagt Helbing. «Und bei geringen Verkehrsaufkommen ist das viel besser als die Steuerung durch die Zentrale.»

Obwohl es dabei keine Abstimmung zwischen den Kreuzungen gibt, stellt sich eine erstaunliche Koordination der Fahrzeugströme ein. Es ist, als würden die Ampeln wie magisch von einer unsichtbaren Hand gesteuert. Aber natürlich ist hier keine Magie am Werk – in der Wissenschaft ist das Phänomen als Selbstorganisation bekannt. Es ist laut Helbing auch der Grund, weshalb die kapitalistische Wirtschaft besser funktioniert als die kommunistische Zentralplanung: Der Kapitalismus basiert auf dem einfachen Prinzip des rational und egoistisch entscheidenden Homo oeconomicus, der statt der Fahrzeit seinen Profit optimiert. Wie von einer unsichtbaren Hand gesteuert, sorgt das – meist – für eine florierende Wirtschaft.

Doch nicht in jeder Situation ist diese Methode perfekt. Steigt das Verkehrsaufkommen, bricht die selbst organisierte Koordination plötzlich zusammen. Die entstehenden Fahrzeugschlangen wachsen bis zur vorgelagerten Kreuzung, und es entsteht plötzlich ein Megastau. Es gibt also einen Punkt, wo die unsichtbare Hand versagt und die Koordination endet – so wie das auch bei der Finanzkrise 2008 der Fall war. Hier ist die Verkehrsleitzentrale doch wieder gefragt: Sie kann einige Ampeln länger als üblich auf Grün stellen, um den Verkehrszusammenbruch hinauszuzögern. Entsprechend kann eine Regierung Milliarden in die Rettung der Banken pumpen, um Zeit zu gewinnen. Aber insgesamt ist das noch nicht befriedigend.

Zum Glück gibt es einen weiteren Ansatz, der in jeder Situation das Optimum herausholt und einem Verkehrskollaps – vielleicht auch einem Finanzcrash – am besten entgegenwirkt. Auch hier versuchen die Kreuzungen eigenständig die Fahrzeit zu minimieren – aber nicht immer und um jeden Preis. Sobald eine Schlange fast bis zur nächsten Kreuzung zurückreicht und ein Verkehrskollaps droht, wird die Fahrzeitminimierung unterbrochen und zunächst die entsprechende Fahrzeugschlange abgebaut. «Wir nennen das die geleitete Selbstorganisation» sagt Helbing. So funktioniert die «magische» Koordination des Verkehrsflusses bei jedem Verkehrsaufkommen bestmöglich. Damit das klappt, braucht es im Wesentlichen zwei Dinge: erstens Echtzeitinformationen von Messsensoren, die zwischen den Nachbarkreuzungen ausgetauscht werden, und zweitens geeignete (Spiel-)Regeln, um auf diese Information zu reagieren. Dann stellt sich die gewünschte Funktionalität – der Verkehrsfluss – wie von selbst ein.

In Dresden gibt es bereits erste Ampeln, die nach diesem Prinzip funktionieren. «Das Internet der Dinge und die damit verknüpften Echtzeitinformationen ermöglichen es jetzt, das Prinzip der Selbstorganisation auch in der Wirtschaft und Gesellschaft nutzbringend einzusetzen, trotz aller Komplexität» sagt Helbing. «Denn aus mathematischer Sicht sind die Probleme vergleichbar.»

Die Allmend ist ein Schweizer Beispiel für Selbstorganisation

Ein Beispiel findet sich in der Schweiz. Hier hat die US-amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträgerin Elinor Ostrom die Allmend untersucht, also gemeinschaftlich bewirtschaftete Felder, Weiden und Wälder. Ostrom hat acht Regeln identifiziert, mit deren Befolgung die Allmend funktioniert. So braucht es eine klare Abgrenzung zwischen Gruppen, die zur Allmend gehören, und solchen, die nicht beteiligt sind. Auch braucht es günstige und einfache Mechanismen zur Lösung von Konflikten. Mit solchen Regeln organisiert sich die Allmend gewissermassen selbst, ohne Steuerung von oben.

Die Idee der Selbstorganisation von unten ist also gar nicht neu. Sie liegt beispielsweise auch sozialen Normen zugrunde. Wer den Zeitungsstapel nicht ordentlich bündelt, erntet zumindest einen bösen Blick vom Nachbarn. Auch das ist eine Variante der Selbstorganisation an der Basis der Gesellschaft. Entsprechend funktionieren Ebay und Ricardo: Wer sich nicht an die Regeln hält, bekommt schlechte Kritiken und wird Waren künftig nicht oder nur zu einem schlechten Preis los. Digitale Reputationssysteme können daher Qualität und verantwortungsvolles Handeln fördern. «Selbstorganisation ist keine Theorie aus dem Elfenbeinturm», sagt Helbing. «Das ist längst ein Erfolgsprinzip unserer Gesellschaft.» Die Herausforderung besteht jetzt darin, das Prinzip der geleiteten Selbstorganisation auf die digitale und globalisierte Welt auszudehnen.

Ein Beispiel: San Francisco wird hin und wieder von schweren Erdbeben erschüttert. Um die Widerstandsfähigkeit der Region im Falle einer solchen Naturkatastrophe zu verbessern, haben sich Programmierer bei einem von Helbing mitorganisierten Workshop in San Francisco eine App ausgedacht. Wer diese App auf dem Handy hat, kann sich melden, wenn er Hilfe, Wasser, Babynahrung oder warme Decken braucht. Die Info wird hochgeladen, und andere Leute aus der Nachbarschaft können sehen, was wo benötigt wird. Wer Wasserflaschen oder Babynahrung im Keller hortet, kann diese ein paar Häuser weiter zu den Bedürftigen bringen. So finden die Bürger via App rasch zueinander, lange bevor ein Katastropheneinsatzteam bereit ist – je nachdem verzögern eingestürzte Brücken oder zerstörte Strassen deren Vorstoss ohnehin.

Natürlich wird auch der Krisenstab von den Informationen der App profitieren: Selbst wenn noch keine professionellen Helfer vor Ort sind, zeigt die App, wo die Not am grössten ist. Doch vor allem wird dank der App die grundsätzliche Hilfsbereitschaft der Menschen zum Nutzen aller geschickt koordiniert und Hilfe zur Selbsthilfe ermöglicht.

Was laut Helbing nun also entstehen wird, ist eine Art «Mitmachgesellschaft», bei der viele Probleme dezentral «von unten» gelöst werden, entsprechend der jeweiligen Bedürfnisse und Ressourcen vor Ort. Wie bei Wikipedia ist die Partizipation der Bürger dabei von zentraler Bedeutung. Denn Einheitslösungen «von oben» sind oft teuer, ineffizient, kommen verspätet oder treffen nicht die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen. In der digitalen Gesellschaft müssen Probleme nur dann auf übergeordneten Instanzen entschieden werden, wenn sie auf unteren Ebenen nicht effizient zu lösen sind.

Erste Beispiele gibt es schon: Bei der Sharing Economy werden konventionelle und digitale Gebrauchsgüter nicht mehr von jedem gekauft und besessen, sondern geteilt und gemeinsam benutzt. So kann jeder eine höhere Lebensqualität erzielen – und nachhaltiger für die Umwelt ist es auch. Carsharing und Airbnb sind vielleicht die bekanntesten Beispiele. Daneben kommt gerade das Maker Movement auf, eine Art Bastlerbewegung von kleinen Daniel Düsentriebs, die ihre Ideen mit anderen teilen und zum Beispiel mit 3-D-Druckern vieles selber herstellen. So entsteht schnell eine hohe Kompetenz zur Lösung von Problemen und zur Befriedigung lokaler Bedürfnisse.

Helbing betrachtet dieses konstruktive Miteinander gar als eine neue Art der Ökonomie: An die Stelle des Homo oeconomicus, der nur an sich, nicht aber an andere und auch nicht an die Umweltfolgen denkt, tritt der vernetzt denkende Homo socialis, der realisiert, dass es allen besser geht, wenn jeder ein bisschen auf die anderen und die Umwelt Rücksicht nimmt.

Inzwischen arbeitet Helbings Team am Konzept für ein völlig neues Informationssystem, wenn man so will die dritte Kampftechnik. Die Rede ist von «Nervousnet», das die Probleme des heutigen Internets der Dinge und von Big Data überwinden soll. Unser Handy sammelt bekanntlich alle möglichen Daten über uns und unser Verhalten. Doch diese Daten sind im Besitz der Internetgiganten und der Anbieter kostenloser Apps, die sie oft für manipulative Zwecke gebrauchen. Bis heute haben wir keinen Zugriff auf unsere Daten und keinen Einfluss auf ihre Verwendung, was uns zum Spielball unbekannter Kräfte macht. Unser Verfassungsrecht auf informationelle Selbstbestimmung ist de facto ausser Kraft gesetzt. Mit Nervousnet soll sich das ändern.

Digitales Nervensystem, in dem Bürger ihre Daten kontrollieren

Helbing möchte das Internet der Dinge nämlich als Bürgernetzwerk betreiben, es also den Bürgen in die Hand geben und es zu einer Art «digitalem Nervensystem» weiterentwickeln. Dank zahlloser Sensoren, die Bewegung, Temperatur, Lärm oder was auch immer messen, nimmt dieses Nervousnet unserer Gesellschaft den Puls. Die Steuerung der Sensoren erfolgt mit einer App, die man sich kostenlos herunterladen kann.

Aber im Gegensatz zu den Daten, die beispielsweise Google, Apple, Facebook und Twitter erheben, soll die Datenhoheit bei den Bürgern liegen. Wir selber sollen bestimmen, welche Informationen bei uns bleiben und welche wir mit wem teilen. Kontrollfunktionen und ein persönliches Datenpostfach sollen uns maximale Kontrollmöglichkeiten in die Hand geben. Es soll also kein orwellscher Überwachungsalbtraum entstehen, wie er heute droht. Vielmehr möchte Helbing ein vertrauenswürdiges Netzwerk aufbauen, an dem die Bürger teilhaben und das sie selbst entscheidend prägen. Im Nervousnet ist gewissermassen das basisdemokratische Funktionsprinzip der Schweiz auf das Internet der Dinge übertragen.

Nervousnet wird viele Möglichkeiten eröffnen. Von der Suche nach einer Parklücke über ein Messnetz für das Wetter bis zu einem Erdbebenwarnsystem wird alles möglich. Wer will, könne messen, wie es seinen Pflanzen gehe, oder mit seinen Freunden eigene Unterhaltungsspiele bauen. Die Nutzer können selber neue Funktionen entwickeln und damit die digitale Welt der Zukunft mitgestalten.

Nervousnet befriedigt aber nicht nur den Spieltrieb von Tüftlern. Es soll eine Jobmaschine werden, welche die Gründung vieler Firmen ermöglicht. Das funktioniert so: Die gesammelten und freigegebenen Daten bilden eine Art Wikipedia für Echtzeitdaten – jeder trägt dazu bei, und jeder kann die Daten nutzen. Zudem sind die Programme, mit denen die Sensoren betrieben werden, open source. Das heisst: Jeder kann sie lesen und zu deren Optimierung und Weiterentwicklung beitragen. «Die unterste Nutzungsebene wäre gratis und viele Programme frei verfügbar», sagt Helbing. Aber darauf aufbauend wird es kommerzielle Premiumdienste geben. «Damit wollen wir die Bürger in die Lage versetzen, sich selbstständig zu machen, eigene Firmen zu gründen und selber neue Services und Produkte anzubieten.» Im Nullkommanichts könnte so ein leistungsfähiges Informationsökosystem entstehen. Schon in wenigen Monaten soll es Sensorkits für Nervousnet zu kaufen geben und erste Apps, mit denen man sie betreiben kann.

In diesem als Bürgernetzwerk aufgebauten Nervousnet sieht der Komplexitätsforscher auch eine grosse Chance für Europa. «Europa befand sich bisher im digitalen Dornröschenschlaf», sagt Helbing. Firmen wie Google investieren jährlich sechs Milliarden Euro allein in Forschung und Entwicklung und das gesamte Silicon Valley ein Vielfaches davon. Dagegen komme Europa einfach nicht an. Es sei denn, es wählt eine ganz andere Strategie: Statt auf abgeschottetes Wissen zu setzen wie Google, Facebook und andere Internetgiganten, sollte das Wissen wie beim Bürgernetzwerk offen sein und geteilt werden. Das Wissen des einen kann dann als Input für das Wissen des anderen dienen. So wird kollektive Intelligenz angehäuft. «Das würde eine unglaubliche Wachstumsdynamik entfalten», sagt Helbing. Die kollektive Intelligenz der Vielen könnte das proprietäre Wissen der wenigen Internetgiganten aus Asien und Amerika ausstechen.

Das Potenzial jedenfalls ist enorm. Die Unternehmensberatung McKinsey schätzt den ökonomische Wert des offen zugänglichen Teils von Big Data – genannt Open Data – auf 3000 bis 5000 Milliarden Dollar pro Jahr.

Wir müssen eine partizipative digitale Gesellschaft bauen

Doch die positiven Aspekte der digitalen Revolution stellen sich nicht von selbst ein. So wie wir für die Industriegesellschaft Milliarden in öffentliche Strassen und für die Dienstleistungsgesellschaft Milliarden in öffentliche Schulen, Universitäten und Bibliotheken stecken, benötigt auch das digitale Zeitalter Investitionen in öffentliche Infrastrukturen. Diese reichen von einer unabhängigen Suchmaschine über Lösungen zum Schutz der Privatsphäre bis zu einer modernen Jobplattform und Nervousnet als Erweiterung des Internets.

Laut Helbing ist nun die Öffentlichkeit an der Reihe, sich Gedanken über die digitale Gesellschaft der Zukunft zu machen. Es sei höchste Zeit, eine Debatte darüber zu lancieren – selbst wenn die Entwicklung am Ende etwas langsamer ablaufen sollte, als manche Experten befürchten. «Wir stehen heute an einem Scheideweg», sagt Helbing. Wir können entweder in eine von oben dirigierte Überwachungsgesellschaft hineinschlittern. Oder wir bauen eine partizipative digitale Gesellschaft und nutzen die Möglichkeiten der kollektiven Intelligenz und der Selbstorganisation. «Wenn uns das gelingt», sagt Helbing, «schreiten wir in ein lichtes, ein besseres Zeitalter, in dem wir einige der Probleme lösen können, die unsere Gesellschaft heute noch plagen .»

Weitere Lektüre: –  GDI-Report «Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft»: http://www.gdi.ch/de/studien –  Blog von Dirk Helbing: futurict.blogspot.ch –  Nervousnet der ETH: http://www.nervous.ethz.ch

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