Der weiße Lynchmob zieht durchs Land – »Underground Railroad« von Colson Whitehead

Der Wohlstand der Vereinigten Staaten von Amerika fußt auf zwei großen Erbsünden: der Enteignung und Vertreibung der indogenen Ureinwohnern und der Sklaverei. Beides prägte und prägt das Bewusstsein der heutigen us-amerikanischen Gesellschaft unterschiedlich. Indifferenz gegenüber der historischen Last in der Mitte, Anerkennung der Schuld an einem, Ignoranz und Leugnung am anderen Ende der Skala.

Erst jüngst hat der Nationalisten-Aufmarsch von Charlottesville, der in einem Mordanschlag auf eine Gegendemonstrantin gipfelte, drastisch vor Augen geführt, wie tief Rassismus, der Wahn weißer Vorherrschaft und Nationalismus in breiten Teilen der Bevölkerung immer noch verankert sind. Die Wurzel dieses Hasses gründet in der Sklaverei, afroamerikanische US-Bürger bekommen dies bis heute zu spüren zu spüren. »The Land of the free« verspricht die Nationalhymne, aber die Freiheit der schwarzen Bevölkerung ist längst nicht die Freiheit der anderen.

Whitehead - Underground Railroad
Ehemalige Sklavenquartiere in Louisiana

Mit Underground Railroad hat Colson Whitehead einen bewegenden und schonungslosen Kommentar zu dieser explosiven, Charlottesville hat es gezeigt, Gemengelage abgegeben. Er schildert die abenteuerliche und lebensgefährliche Flucht der jungen Sklavin Cora durch die USA der 1850er Jahre. Ihre Odysse führt sie durch fünf Bundesstaaten. In jedem gelten andere Gesetze, lauern andere Gefahren, ist ihre vermeintliche Freiheit anderen Bedrohungungen ausgesetzt. Cora begegnen auf ihrer Reise sadistische Farmer, skrupellose Sklavenjäger, aufopfernde Helfer, aufgeklärte Bürgerrechtler und viele andere entflohene Sklaven, in deren Biographien Unterdrückung, Ausbeutung, Folter Vergewaltigung und Erniedrigung in allen Schattierungen eingezeichnet sind. Ihren unbedingten Freiheitswillen verdankt Cora nicht zuletzt der Großmutter, die noch in Afrika gelebt hat. Coras Mutter wiederum ließ sie bei ihrer Flucht als kleines Kind zurück. Underground Railroad ist auch ein Generationenroman, einer über starke Frauen und einer über Mütter und Töchter.

Whitehead hat sorgfältig recherchiert, aber die gesammelten Fakten nicht in einen einfachen historischen Roman gegossen. In dem Moment, in dem er die historische Underground Railroad (Wikipedia), einen Verbund von freiwilligen Helfern, die Sklaven auf geheimen Routen in die Nordstaaten der USA oder nach Kanada geleiteten, in eine tatsächliche Eisenbahn verwandelt und ihre Lokomotiven und Waggons in unterirdischen Tunneln von Station zu Station brausen läßt, begibt er sich in ein Reich der Phantastik. Das ist mehr als nur ein raffinierter Twist, die Eisenbahn unter Tage ist eine gewaltige Metapher. Sie setzt die Erzählung auf Schienen und verbindet in kürzester Zeit unterschiedliche Erlebnisräume.

Diese Abkehr vom Realismus ermöglicht gleichzeitig magische Momente und psychologische Tiefe, in denen Wahrheiten offener ausgesprochen werden können. Darüber hinaus ebnet dieser magisch=psychologische Realismus anderen, nicht ausschließlich in der Sklaverei verankerten Motiven der Unterdrückung den Weg in den Roman. In North Carolina ist Cora gezwungen, sich wochenlang auf einem Dachboden zu verstecken, durch ein Loch beobachtet sie den gegenüberliegenden Park, in dem das bunte Treiben am Tage abends von abscheulichen Lynch- und Strafaktionen gegen Schwarze abgelöst wird; ein offensichtlicher Verweis auf Anne Frank und den Holocaust. Dieser und andere Bezüge auf außeramerikanische, transkontinetale Motive, etwa auf »weiße Nigger«, Sinti und Roma, Juden und die Unterdrückung der Frauen, stärken die Relevanz des Romans. Er taugt zu weit mehr als einer us-amerikanische Rezeption, er liefert genügend Anregung zur Diskussion auch in Europa.

Whitehead - Underground Railroad

Whitehead: »Underground Railroad« | Pulitzer-Preis 2017, National Book Award 2016

Wie gesagt, Colson Whitehead verpflichtet sich der Wahrheit. Dazu gehört auch, die Angst der weißen Unterdrücker zu schildern. Was geschieht, wenn das unmenschliche Sklavensystems zusammenbricht? Auf ihrer Flucht lernt Cora schnell, warum ihr als Sklavin das Lesen und Schreiben strikt verwehrt wird. Bildung stärkt Freiheit und die Plantagenbesitzer fürchten nichts mehr als den Freiheitsdrang der Sklaven. Sollten sich die vielen gegen die wenigen erheben, dann wäre ihr kapitalistisch einträgliches System am Ende; ein System, das viele Profiteure kennt, vom Sklavenbesitzer über Kopfgeldjäger, Spediteure, Händler, Handwerker bis hin zum Enverbraucher billiger Baumwolle. So führt Angst zu weiterer, noch brutalerer Repression, nicht nur gegen die schwarzen Sklaven, sondern auch gegen alle, die etwa als Abolitionisten sich für deren Freiheit, vor allem in den nördlichen Staaten, stark machen.

Gleich zu Beginn des Romans endet eine fröhliche Geburtstagsfeier zwischen den Sklavenhütten in einer brutalen Demütigung und einer Hinrichtung. Underground Railroad meidet jegliche Südstaatenromantik. Keine mehrstimmigen Sklavengesänge, keine flammenden Sonnenuntergänge, keine Baumwollfeld-Pastoralen wie in Vom Winde verweht. Keine Klischees edelmütiger Sklaven wie in Roots, die unerschütterlich an den kommenden Sieg des Guten glauben und sich gegenseitig helfen. Whitehead ist einer Erzählhaltung ähnlich der Tarantinos in Django Unchained verpflichtet. Er schreckt auch vor Überzeichnung, Zuspitzung und Ironie nicht zurück. Doch immer behält Whitehead die Psychologie, die Glaubwürdigkeit seiner Figuren im Auge und zeigt präzise, wie Gewalt, aber auch Hoffnung, diese verändern. Weil Whitehead magischen Realismus und realistische Psychologie geschickt kombiniert, balanciert Underground Railroad gekonnt auf der Grenze zwischen emotional-mitreißend und distanziert-analysierend, ohne dabei je in Gefahr zu geraten abzustürzen.

Die im 19. Jahrhundert verankerte Geschichte der Sklavin Cora ist eine schmerzhaft aktuelle Lektüre. Der Lynchmob von früher, wie er im North-Carolina-Kapitel drastisch, wenn auch im Vergleich zum historischen North Carolina fiktional überspitzt, beschrieben wird, ist der weiße Mob der heute, ein Jahr nach Erscheinen des Buches in den USA, durch Charlottesville marschiert, gestützt und befeuert von »ihrem Präsidenten« Donald Trump. Das habe nichts mit Prophetie zu tun, beteuert Whitehead im Interview mit der Literarischen Welt, nur mit amerikanischer Geschichte.

Amerika besitzt noch keine Gedenkstätte für die Verfolgung der Ureinwohner, kein nationales Memorial der Sklaverei. Amerika hat sich den dunkelsten Kapiteln seiner Geschichte immer noch nicht ernsthaft gestellt. Paul Auster hat das mehrfach angemahnt, als er in Berlin seinen Roman 4321 vorgestellt hat. Darin gibt der Autor der Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung in den 1950er Jahren und dem Kampf um gleiche Bürgerrechte viel Raum; das Ergebnis ist, wie in Underground Railroad, eine ambitionierte und sehr literarische Auseinandersetzung mit der Sklaverei und ihren Folgen bis in die Gegenwart.

Für das von Auster vehement eingeforderte Memorial der Sklaverei hat Colson Whitehead mit seinem mehrfach preisgekrönten Roman einen wichtigen Baustein gestiftet. Möge er sorgfältig betrachtet und ausgiebig diskutiert werden und, das ist das wichtigste, mögen weitere Bausteine folgen.

 

This genre-bending tale of escape from slavery in the American south contains extraordinary prose and uncomfortable home truths

Source: The Underground Railroad by Colson Whitehead review – luminous, furious and wildly inventive | Books | The Guardian