(Ab-)bild
Helmut Lethens Verhaltenslehre des Sehens
Bilder haben eine ungeheure Wirkung auf uns. Sie behaupten: So ist es gewesen. Doch wieviel Wirklichkeit enthält ein Bild tatsächlich? Der Kulturwissenschaftler Helmut Lethen hat dem Phänomen jetzt ein Buch gewidmet, eine Verhaltenslehre des Sehens namens „Der Schatten des Fotografen“.
Die Medien überhäufen uns mit Bildern. Die Wirklichkeit verschwimmt dahinter. Das Bild entwickelt eine ganz eigene Wahrheit. Lethens Buch beginnt mit Mord und einer Erkenntnis: dass Angst einflößende Gerüchte, Bilder oder Filme auf Menschen stärker wirken können als schlimme Dinge, die sie selbst erlebt haben. 1952 wurde im Gladbacher Münster die Leiche einer Frau entdeckt. Was darüber erzählt wurde, jagte Helmut Lethen, als er noch ein Junge war, manchen Schauer über den Rücken. Unheimliches begegnete ihm fortan in fast allen Bildern.
Die Geschichte hinter dem Bild wirkt nach
© dpa
Lupe
Mit dem Preis der Leipziger Buchmesse geehrt: Helmut Lethen.

Das Cover seines Buches „Der Schatten des Fotografen“ zeigt eine scheinbar idyllische Situation. Eine Frau watet durch flaches Wasser. Die Sonne scheint. Dass es aber ein Foto mit einer ganz anderen Geschichte ist, erzählt Lethen. „Dieses Bild wurde von einer Hamburger Kunsthistorikerin gefunden, die nach Landserfotos fahndete, die an der Ostfront gemacht worden waren. Merkwürdigerweise fand sie dieses Bild in drei verschiedenen Alben und Schuhkartons. Immer dieses Bild. Sie konnte sich einen Zusammenhang gar nicht vorstellen. Das wurde ihr unheimlich.

  • „Die Wissenschaft, in der ich arbeite, ist natürlich eine Sphäre des Verdachts, wo von Wirklichkeit zu sprechen eigentlich schon eine Sünde ist, ein wissenschaftliches Versagen“, sagt Helmut Lethen. „Das Buch ist eine Polemik gegen die Sphäre des Verdachts, quasi ein Plädoyer für ‚common sense‘, dass die Medien in unseren Austauschsystemen eine außerordentlich große Rolle spielen.“
    (Helmut Lethen)
Als sie dieses Bild zum letzten Mal sah, war es in einem Einsteckalbum. Welch geniale Forschungsgeste: Sie holt es aus dem Album heraus, dreht es um, und auf der Rückseite ist des Rätsels Lösung: Minenprobe vom Don zum Donezk. Offensichtlich hatten drei verschiedene Landser auf der Brücke gestanden und warteten darauf, dass diese Frau in die Luft geht. Plötzlich kippt diese friedliche Fotooberfläche in die Finsternis eines Schriftarchivs. Sie fahndet weiter und entdeckt, dass es einen Armeebefehl gab, Juden und Bandenmitglieder als lebende Minendetektoren einzusetzen. Dennoch: Es hat diesen Augenblick gegeben. Eine Frau, ein Schlagschatten. Dieser Augenschein darf nicht in der Finsternis eines Schriftarchivs versenkt werden.“
Das Bild – ein Bruchteil der Wirklichkeit

Helmut Lethens Buch ist eine Einladung zum Nachdenken über Bilder. Und auch darüber, wie wenig ein Bild alleine sagt. Ein berühmtes Foto von Robert Capa, „Landung am Omaha Beach“, wurde erst durch einen Belichtungsfehler im Labor zur Ikone. Überhitzung gab dem Foto die scheinbare Authentizität. Unscharf, verschwommen, genau so war es am D-day. War es so? Die großen Kriegsfotos von heute würden mit dem Handy gemacht und je schlechter die Qualität, umso authentischer wirkten sie, sagt Lethen. „Das ist produktionell ein Überschuss an Gegenwart. Und in diesem Überschuss an Gegenwart müssen wir skeptische Schneisen schlagen, um uns überhaupt orientieren zu können. Und so pendeln wir immer zwischen der Sehnsucht nach der Wirklichkeit auf der einen und der Skepsis, dass alles nur artifiziell ist, auf der anderen Seite.“ Die Sehnsucht nach dem Echten – der Skepsis können wir nicht entrinnen. Doch manchmal hilft uns ein Bild, einen Bruchteil der Wirklichkeit zu erfassen.

Interview mit dem Gewinner des World Press Photo Award Stanmeyer – SPIEGEL ONLINE.

Gewinner des World Press Photo Award: „Was machen die da?“

Ein Interview von Vanessa Steinmetz

World Press Photo: Handyleuchten in der Nacht
Fotos
John Stanmeyer/ VII/ National Geographic

Es ist ein großartiges Bild, poetisch und bedrückend zugleich: Afrikanische Flüchtlinge versuchen am Strand von Dschibuti, ein Handysignal aus ihrer Heimat zu bekommen. John Stanmeyer erhält für diese Aufnahme den World Press Photo Award. Hier erzählt er, wie er das Foto machte.

 

Zur Person

Konstantin Stanmeyer

John Stanmeyer, 49, ist Fotograf und Blogger. Sein Handwerk lernte er am Art Institute in Florida, aber sein eigentlicher Lehrmeister sei das Leben gewesen, sagt er. Von der World Press Photo-Stiftung ist er mit dem Preis für das beste Pressefoto 2014 ausgezeichnet worden. Er arbeitet vor allem für „National Geographic“, und das am liebsten allein.

SPIEGEL ONLINE: Herr Stanmeyer, für Ihre Aufnahme von afrikanischen Migranten am Strand von Dschibuti sind Sie mit dem World Press Photo Award ausgezeichnet worden. Was hat Sie dorthin verschlagen?  

John Stanmeyer: Das war der Endpunkt einer langen Reise. Angefangen hatte die in einem Dort in Äthiopien, wo Forscher Fossilien gefunden haben, die darauf schließen lassen, dass die Migration von Menschen in Afrika dort vor 60.000 Jahren begonnen hat. Zusammen mit einem Kollegen habe ich von dort aus diesen Wanderungen nachgespürt. Wir waren zwei Monate mit dem Auto und zu Fuß unterwegs, als wir schließlich in Dschibuti ankamen.SPIEGEL ONLINE: Und wie sind Sie dann zu den Menschen am Strand gestoßen?

Stanmeyer: Am zweiten Tag bin ich dort spazieren gegangen und auf eine Gruppe Menschen gestoßen, die ihre Handys in die Luft hielten. Ich habe den Übersetzer gefragt: ‚Was machen die da?‘ Er sagte, das seien Somalis, die versuchen, ein Telefonsignal aus ihrem Heimatland zu bekommen. Sie benutzen somalische Sim-Karten, die sie auf dem Schwarzmarkt kaufen. Damit können sie mit ihren Verwandten für nur ein paar Cents stundenlang sprechen. Dafür brauchen sie aber das Signal; Somalia ist von dort aus immerhin 40 Kilometer entfernt.

SPIEGEL ONLINE: Und dann haben Sie sofort das Foto gemacht?

Stanmeyer: Nein, ich bin ein paar Mal dorthin gekommen, so zwei bis drei Nächte nacheinander. Mal waren zehn Menschen an dem Strand, am nächsten Tag dann 30. Sie sind immer von rechts nach links gelaufen, um den besten Platz zum Telefonieren zu finden. In dem Moment, in dem das Foto dann entstanden ist, standen zufällig so viele Menschen auf einem Fleck. Sekunden später sind sie wieder auseinander gelaufen.

SPIEGEL ONLINE: Auf Ihrer Reise haben Sie sicherlich viele Aufnahmen gemacht. Was ist das Besondere an diesem Foto?

Stanmeyer: Das Timing war ziemlich einzigartig. Dazu der Vollmond, nichts davon ist gestellt. Als ich das Foto gemacht habe, habe ich einfach gespürt, dass hier etwas ganz Außergewöhnliches passiert.

SPIEGEL ONLINE: Außergewöhnlich genug, um den wichtigsten Preis der Branche zu gewinnen?

Stanmeyer: Ich mache so etwas nicht für Awards. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich sehr selbstbestimmt arbeiten kann. Das Bild habe ich in letzter Minute eingereicht, weil es ein wichtiges Projekt für mich ist. Wir hätten aber auch ein anderes Motiv auswählen können. Letztlich hatten wir aber das Gefühl, dass die Migration in Afrika heute wie vor 60.000 Jahren dadurch am Besten symbolisiert wird.

SPIEGEL ONLINE: Was denken Sie, was sehen andere Menschen darin?

Stanmeyer: Wir können uns alle selbst darin sehen. Ich habe während der Zeit häufig versucht, meine Familie zu erreichen. Und ich wette, Sie kennen das auch, dass man im Haus umher läuft und versucht, besseren Empfang zu bekommen. In uns allen ist doch dieses Bedürfnis, sich mit denen vernetzen zu wollen, die wir lieben und die uns wichtig sind. Ich kann meinen Nachbarn auf dem Bild sehen, ich kann Sie dort sehen und mich selbst auch. Eigentlich habe ich mich dort selbst fotografiert.

SPIEGEL ONLINE: Es hat also auch viel mit Ihnen persönlich zu tun.

Stanmeyer: Mit mir und meiner Familiengeschichte, ja. Meine Mutter ist Österreicherin. Sie musste nach dem Zweiten Weltkriegs fliehen und war plötzlich von ihrer Heimat abgeschnitten. Das muss sehr schmerzhaft gewesen sein. Heute hat fast jeder ein Mobiltelefon und damit diese unglaubliche Möglichkeit, die Menschen, die einem nahestehen, zu erreichen. Wir können uns mit der wichtigsten Sache überhaupt verbinden, und das ist unsere Heimat.

SPIEGEL ONLINE: Kritiker sehen in Ihrem Bild vielleicht nicht viel mehr als Menschen mit Smartphones in der Hand. Was entgegnen Sie denen?

 

Stanmeyer: Natürlich hat heute jeder ein Smartphone, man könnte also auch sagen: Was soll’s? Es ist jedem selbst überlassen, wie er das Bild interpretiert. Aber es ist wichtig, dass die Menschen verstehen, was hier passiert. Menschen, die auswandern, müssen diesen Schritt manchmal unternehmen, um aus einem Konflikt herauszukommen. Andere hoffen auf ökonomische Möglichkeiten. Sie suchen etwas, das viele von uns als selbstverständlich ansehen. Und die einzige Möglichkeit für sie, sich ein Stück Zuhause zu bewahren, ist das Mobiltelefon.SPIEGEL ONLINE: Was wird für Sie nach der Auszeichnung kommen?

Stanmeyer: Ich bin jetzt schon sehr priviligiert, da ich fast ausnahmslos für „National Geographic“ arbeiten darf. An der „Out of Eden“ Geschichte etwa, aus der ja das Foto stammt, haben wir sieben Jahre lang gearbeitet. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich an solchen Projekten teilnehmen darf. Vielleicht finde ich aber auch etwas, das mir erlaubt, mehr Zeit mit meiner Familie zu verbringen – und Zuhause zu sein.