Wim Wenders: „Ich bin keine Plaudertasche“ | ZEIT ONLINE.

Wie viel vom Leid anderer darf in die eigene kreative Arbeit fließen? Eine Frage, die Wim Wenders in dem leisen Drama „Every Thing Will Be Fine“ stellt – und sich selbst. Interview: 

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Wim Wenders im Februar auf der Berlinale, wo sein Film „Every Thing Will Be Fine“ Premiere feierte  |  © dpa

ZEIT ONLINE: In Ihrem Film verursacht der junge Schriftsteller Tomas einen Autounfall, bei dem ein kleiner Junge stirbt. Im rechtlichen Sinne trifft ihn keine Schuld, aber er verkraftet das Geschehene nicht. Seine Arbeit als Schriftsteller wird nach dem Unfall besser, und es wird angedeutet, dass ihn dieses furchtbare Erlebnis dazu inspiriert hat. Inwiefern darf man für den eigenen kreativen Prozess über Erfahrungen, insbesondere über leidvolle Erfahrungen anderer verfügen?

Wim Wenders: Das ist eine Frage, die im Kino selten gestellt oder gar beantwortet wird. Wenn es heißt: „Nach einer wahren Geschichte“, was ist dann mit den Menschen, denen diese wahre Geschichte passiert ist? Freuen die sich, sich wiederzuerkennen, oder bedrückt sie das eher? Schriftsteller und Filmemacher müssen sich die Frage nach der Verantwortung gleichermaßen stellen. Jemandem geschieht etwas, mitunter auch etwas Leidvolles, und wir machen daraus eine Fiktion. Was ist uns dann wichtiger: der wirkliche Mensch oder unsere Verarbeitung? Tomas braucht lange und muss richtig geschüttelt werden, bis er sich seiner Verantwortung dem wirklichen Menschen gegenüber stellt.

ZEIT ONLINE: Sie haben sich selbst schon mehrmals intensiv mit dieser Frage nach der eigenen Verantwortung auseinandergesetzt, zum Beispiel als Sie 1980 Lightning Over Water gedreht haben, eine Dokumentation über das Lebensende des krebskranken Filmemachers Nicholas Ray. Wie sind Sie mit ihr umgegangen?

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  • Zum Film „Every Thing Will Be Fine“
Wim Wenders gehört zu den wichtigsten deutschen Filmemachern. Er zählt zu den Vertretern des Neuen Deutschen Films und gründete 1971 den Filmverlag der Autoren mit. Die diesjährige Berlinale ehrte den 69-Jährigen mit dem Ehrenbären für sein Lebenswerk und einer Retrospektive von zehn Filmen, die aber nur einen Bruchteil seines Schaffens abbildete. Wenders drehte sowohl erfolgreich Spielfilme wie Alice in den Städten (1974), Paris, Texas (1984), Der Himmel über Berlin (1987), Don’t Come Knocking (2005) als auch Dokumentationen, etwa Buena Vista Social Club (1999) oder Das Salz der Erde (2014). 2011 drehte er den Dokumentarfilm Pina über die Choreografin Pina Bausch und nutzte dabei erstmals 3-D. Er war so begeistert von den Möglichkeiten, dass er sich vornahm, fortan ausschließlich mit dieser Technik zu arbeiten. Das jüngste Ergebnis, Every Thing Will Be Fine, lief außer Konkurrenz im Wettbewerb der Berlinale.

Wenders: Ich habe mich jeden Tag gefragt, ob wir weitermachen sollten. Ich selbst hätte eigentlich jederzeit lieber aufgehört, ich fand, wir waren dabei, Grenzen zu überschreiten. Doch vor allem Nicks Ärzte sagten immer wieder: „Die Arbeit tut ihm gut, macht weiter! Wenn ihr zu drehen aufhört, zieht ihm das den Teppich unter den Füßen weg.“ Also haben wir weitergemacht. Unser Dreh war tatsächlich eher eine Art Sterbebegleitung als Filmemachen. Das war natürlich ein extremer Fall, aber ein Fall, in dem der Betroffene wollte, dass es den Film gibt. Und das finde ich absolut notwendig, wenn man ein reales Schicksal in eine Fiktion überführt.

ZEIT ONLINE: In Every Thing Will Be Fine wird nichts darüber gesagt, ob die Mutter des tödlich verunglückten Kindes Tomas‘ Romane liest. Man kann sich kaum vorstellen, wie es sich anfühlt, ein Buch zu lesen, dem eigenes Leid wie der Unfalltod eines Kindes als Inspiration diente. Wollten Sie darüber nicht spekulieren?

Wenders: Ich wollte das einfach nicht so explizit benennen. Ich wollte lieber, dass sich der Zuschauer diese Frage stellt, als dass unsere Charaktere sie beantworten.

ZEIT ONLINE: Stimmt der Satz „Die Zeit heilt alle Wunden“?

Wenders: In unserem Fall ist es nicht die Zeit, sondern die Zuwendung zu dem anderen, die Heilung bringt.

Video: Kino - Every Thing Will Be Fine“ (Trailer)

„Every Thing Will Be Fine“ (Trailer) © 2015 Warner Bros. Ent. Video kommentieren

ZEIT ONLINE: Es existiert diese Vorstellung, dass etwas nur dann künstlerischen Ausdruck finden kann, wenn im Inneren des Künstlers etwas vor sich geht. Bedeutet das auch, dass der Künstler etwas in seinem Inneren nicht nur spüren, sondern sogar bewahren muss, bis er es schließlich künstlerisch äußern kann?

Wenders: Ich kenne keine geschwätzigen Schriftsteller. Dabei kenne ich eine ganze Menge, auch sehr vertraut: Paul Auster, Peter Carey, Sam Shepard und am besten Peter Handke. Sie tragen alle ein gewisses Geheimnis in sich. Man spürt, dass sie vieles, was sie sehen, in sich aufnehmen, verarbeiten, und gerade deswegen sicher nicht gleich ausplaudern werden. Um das Leben in ihr Schreiben einfließen zu lassen, können und dürfen sie keine Small-Talk-Künstler sein. Sie sind auch wenig bereit, von sich aus Dinge zu erzählen. Schriftsteller sind wohl eher bedächtige Leute.

ZEIT ONLINE: Sie sind selbst künstlerisch tätig. Wie empfinden Sie das?

Wenders: Ich bin auch keine Plaudertasche. Ich schreibe viel lieber, als dass ich rede. Vielleicht ist das auch etwas typisch Männliches. Ich bin immer wieder erstaunt, wie oft und über wie vieles Frauen sich austauschen. Sie bringen selbst schwere Dinge einfach sofort auf den Tisch. Dann muss darüber geredet werden und auch ruhig doppelt so lange wie eigentlich nötig. Für Männer gilt eher: Wenn wir es einmal gesagt, geschrieben oder gesimst haben, ist es raus und beendet. Wir müssen nicht noch einmal darüber reden. Wir sind viel wortkarger. Und unser Tomas ist einer der wortkargsten.

ZEIT ONLINE: Die Arbeit des Regisseurs stelle ich mir unter anderem genau deswegen so schwierig vor: Man muss die ganze Zeit in sich hineinhorchen, dort etwas entstehen lassen und dann aber andauernd kommunizieren, weil man den anderen ja mitteilen muss, was geschehen soll. Fällt Ihnen dieses viele Reden über ihre künstlerischen Absichten schwer?

Berlinale: Andreas Dresens „Als wir träumten“.

Endstation Sehnsuchtsblick

Andreas Dresen übersetzt Clemens Meyers illusionslosen Milieuroman „Als wir träumten“ in einzigartige, berückende Bilder. Und setzt damit Maßstäbe für das deutsche Kino.

10.02.2015, von Andreas Platthaus

Berlinale 2015 - Als wir träumten

© dpa Vergrößern So schön bunt nur im Kino: Ruby O. Fee und Merlin Rose in Andreas Dresens Romanverfilmung „Als wir träumten“

Es gibt eine Szene in Andreas Dresens Wettbewerbsbeitrag „Als wir träumten“, die man nie mehr vergisst. Nicht weil die illegale Diskothek in einem abgewrackten Industrieareal von Leipzig so großartig in Szene gesetzt wird; auch nicht, weil hier Dresens junge Darsteller eine geradezu unheimliche Intensität der Blicke und Gestik entfalten; und gleichfalls nicht, weil hier ein stillgestellter Moment intensivster Konfrontation in einem sonst auf größtes Tempo hin inszenierten Film erreicht ist – sondern weil sich plötzlich Bild, Handlung und Tonspur wechselseitig zu widersprechen scheinen. Immer noch blitzt das Stroboskop der Diskothek, obwohl die Musik längst schweigt, und so werden die nun unbewegten Akteure, die eben noch tanzten, im Sekundentakt aus dem Dunkel ins gleißende Licht und wieder zurück gerissen. Aktion ohne jede Reaktion. Und da diese Szene dauert, sehr lange sogar, wird irgendwann das einzige Geräusch, das ihr unterliegt, unerträglich: ein metallisches Klackern. Der Klang des nimmermüden Stroboskop.

So etwas hat man noch nie gehört. Und auch noch nie gesehen. Und da auf der Leinwand kein Wort fällt, das die resultierende Beklemmung aufheben oder von ihr ablenken könnte, werden auch die nichtdeutschsprachigen Zuschauer in der gestrigen Berlinale-Wettbewerbspremiere von Dresens Film sie nie wieder vergessen.

© Pandora Film Verleih Vergrößern Kinotrailer: „Als wir träumten“

Man hat so etwas auch noch nie gelesen, obwohl „Als wir träumten“ die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Clemens Meyer aus dem Jahr 2006 ist. Zwar kommt der Streit zwischen den Betreibern der illegalen Diskothek und einer Gruppe Skinheads auch im Buch vor; doch dort ist er kein zentrales Element, weil Meyer sich auf die verbindende Kraft des Diskothekenbetriebs für seine fünf jungen Helden konzentriert. Zwar erzählt der Roman auch vom Scheitern dieses Projekts, aber er tut es poetologisch notwendig als gleichsam immer schon vorausgesetztes Ende jener Zeit, in der die Protagonisten träumten. Dresen dagegen will uns mit der Entwicklung der Handlung überraschen, und, weiß Gott, das gelingt ihm. Dazu mussten er und sein Drehbuchautor, der mittlerweile dreiundachtzigjährige Defa-Veteran Wolfgang Kohlhaase (es ist bereits die dritte gemeinsame Produktion der beiden nach „Sommer vorm Balkon“ und „Whisky mit Wodka“), sich von Meyers „Als wir träumten“ gar nicht lösen.

As We Were Dreaming - 65th Berlin Film Festival © dpa Vergrößern „Als wir träumten“: Stene mit Merlin Rose, Marcel Heupermann und Julius Nitschkoff

Man kann sich kaum eine textgetreuere Kinoadaption dieses Romans vorstellen, was der Film auch gleich zu Beginn klarmacht, wenn die Off-Erzählstimme von Daniel Lenz (genannt „Dani“) in einer spät im Film noch einmal wortwörtlich wiederholten Formulierung aus dem ersten Kapitel des Buchs sagt: „Es gibt keine Nacht, in der ich nicht von allem träume, und ständig tanzen die Erinnerungen.“ Aber das Erinnerungskaleidoskop, das hier angesprochen ist, wird im Film anders begriffen als in der Vorlage. Meyers Kunst liegt im ständigen Wechsel der Zeitebenen, bis hin zu unmittelbaren Übergängen von einer in die andere im selben Abschnitt. Das kann ein Film nicht leisten, gerade weil der Schnitt es scheinbar so einfach machte. Doch ein Schnitt bleibt immer sichtbar, während man von Meyers Text auf eine Weise in die Irre geführt wird, was dem labyrinthischen Leipzig der unmittelbaren Nachwendezeit, von dem er erzählt, genau entspricht: Als Leser sind wir genauso getrieben und verloren wie die Protagonisten.

Marcus H. Rosenmüller: „Ich will immer dran erinnert werden, wer ich war“ | ZEIT ONLINE.

„Ich will immer dran erinnert werden, wer ich war“

In seiner Filmtrilogie „Beste Zeit, Beste Gegend, Beste Chance“ erzählt Marcus H. Rosenmüller von einer Jugend auf dem Dorf. Ein Gespräch über Kindheit in Bayern Ein Interview von 

Regisseur Marcus H. Rosenmüller

Regisseur Marcus H. Rosenmüller  |  © Armin Weigel/dpa

Frage: Herr Rosenmüller, Beste Zeit, Beste Gegend, Beste Chance – Ihre Trilogie erzählt von Kindheit und Jugend auf dem Dorf. Was hat Ihnen Ihre eigene Kindheit in Bayern gegeben?

Marcus H. Rosenmüller: Da war diese unendliche Freiheit. Wir waren ja die meiste Zeit draußen in der Natur. Unsere Eltern haben uns erst zum Abendessen wieder gesehen. Das ist für mich in Beste Zeit auch einer der wichtigsten Momente: wenn die beiden Mädchen aus der Diskothek zurücktrampen, zu Fuß durch den Wald gehen und in einem Maisfeld verschwinden. Als Kind und Jugendlicher hatte ich eine starke Sehnsucht nach diesem Verschwinden in der Natur. Die Metapher kehrt nun im Schlussbild wieder, wo die Menschen im Ganges baden. Sie tauchen in den Fluss des Lebens ein.

Frage: Was bedeutet Heimat für Sie?

Rosenmüller: Das ist eine wahnsinnig schwierige Frage. Heimat ist ein Ort, an dem man sich nicht fremd fühlt. Heimat hat immer mit Erinnerungen zu tun – sie stellen eine Vertrautheit her, können aber auch sehr erdrückend sein. Jeder Stein im Wald, an dem man schon als Kind gespielt hat, jede Böschung, die man schon heruntergesprungen ist, geben einem als Jugendlicher das Gefühl, nichts Neues mehr erleben zu können. Jeder im Dorf kennt einen. Man fühlt sich nackt und kann sich nicht verstecken.

Video: Kino - Beste Chance (Trailer)

„Beste Chance“ (Trailer) Video kommentieren

Frage: Ist Heimat nicht ein Auslaufmodell, weil viele heutzutage beruflich und privat so mobil sind?

Marcus H. Rosenmüller

1973 in Tegernsee geboren, landete 2006 einen Hit mit Wer früher stirbt, ist länger tot. Es folgten Beste Gegend und Beste Zeit (2007). Beste Chance beschließt nun die Trilogie über Jugend in der bayerischen Provinz.

Rosenmüller: Früher war Heimat noch klarer mit einer festen Ortschaft verbunden, einem Lebensgefühl. Dazu gehörten der Dialekt, der Humor, das Essen, bestimmte Gerüche; und die Familie und Freunde. Heute bleibt oft nur noch die Kernfamilie, alles andere wird immer wieder gekappt.

Frage: In Beste Chance geht es für Kati und Jo sowie deren Väter nach Indien. Der größte denkbare Kontrast zu Bayern?

Film \“In ihren Augen\“: Die Liebe in Zeiten der Militär-Junta | ZEIT ONLINE.

Die Liebe in Zeiten der Militär-Junta

Das argentinische Melodram „In ihren Augen“ gewann überraschend einen Oscar. Doch der Film von Juan José Campanella über die unverheilten Wunden der argentinischen Militärdiktatur hat ihn verdient von 

Die Liebe zwischen Irene Hastings (Soledad Villamil) und Benjamín Espósito (Ricardo Darín) bleibt unausgesprochen

Die Liebe zwischen Irene Hastings (Soledad Villamil) und Benjamín Espósito (Ricardo Darín) bleibt unausgesprochen  |  © Camino Filmverleih

Mit diesem Film hatte bei der Oscarverleihung kaum einer gerechnet. Das weiße Band, Ein Prophet und Ajami galten als Favoriten für den Auslandsoscar. Aber die Wahl fiel auf den argentinischen Beitrag In ihren Augen: eine typisch konservative Entscheidung der Academy, wie viele vorschnell urteilten. Denn anders als seine künstlerisch wie narrativ eigensinnigen Konkurrenten setzt Regisseur Juan José Campanella auf klassisches Erzählkino. Der Tod und die Liebe sind hier die treibenden Kräfte.

Zu Beginn drei Erinnerungsfetzen: ein in verschwommenen Bildern illustrierter Abschied am Bahnhof, ein verliebtes Frühstück zu zweit und die kurzen, schockierenden Bilder einer Vergewaltigung. Drei Möglichkeiten, die Geschichte zu beginnen, aber alle drei landen im Papierkorb. Der pensionierte Ermittler Benjamin Espósito (Ricardo Darín) will ein Buch über jenen Fall schreiben, der ihn sein Leben lang nicht losließ. Eine junge Frau wird 1974 vergewaltigt und erschlagen, die Bilder des Opfers schleudern den jungen Gerichtsbeamten aus der beruflichen Routine. Gegen die Ignoranz seiner korrupten Vorgesetzten verfolgt er den Fall zusammen mit der jungen Richterin Irene Hastings (Soledad Villamil), bis sie den Täter ins Gefängnis gebracht haben. Aber schon bald kommt er wieder frei, weil er in der Haft kollaboriert und politische Gefangene ausspioniert hat. Die Militärjunta bahnt sich gerade den Weg zur Macht und im „Neuen Argentinien“ macht der verurteilte Mörder im Sicherheitsapparat Karriere.

Als ein Mordkommando seinen Kollegen erschießt, flüchtet Benjamin auf einen Posten in die Provinz und kehrt erst 25 Jahre später nach Buenos Aires zurück. In die Retrospektive des Falls mischt sich die zart melodramatische Geschichte einer unausgesprochenen Liebe zwischen Benjamin und Irene.

Regisseur Campanella, der den Roman von Eduardo Sacheri adaptiert, gelingt es, die beiden Erzählebenen so eng miteinander zu verschlingen, dass die kriminalistische Ermittlung und die Ermittlung der eigenen Gefühle oft kaum auseinanderzuhalten sind. Das ist spannend, herzzerreißend und durchzogen von tiefer Melancholie. Gleichzeitig verweist In ihren Augen – auch wenn ein unpolitisches Verbrechen verhandelt und die Zeit der Militärdiktatur fast vollkommen ausgeklammert wird – mit stiller Intensität auf die unverheilten Wunden der argentinischen Geschichte, stellt elementare Fragen nach Schuld, Strafe, Gerechtigkeit und zeigt, wie die traumatische Vergangenheit Täter und Opfer immer noch gefangen hält.

 

Heimatfilm: Heut samma net lustig! | Kultur | ZEIT ONLINE.

Heut samma net lustig!

Ein starker Heimatfilm: „Was weg is, is weg“

Ein absaufender Kleinbus, ein umgestürzter Strommast, ein abgesägter Metzgerarm und ein Atommeiler, der gerade im fernen Tschernobyl durchglüht. Wenn solche Ereignisse gleichzeitig geschehen, handelt es sich um ein echtes Katastrophal. Das ist laut Karl Valentin »eine Art Energie, und wenn die exeplidiert, dann geht’s los, dann is dö ganze Welt hi«. In diesem Fall stürzt die Welt der drei Brüder Hansi, Lukas und Paul ein. Ihre verzwickte Geschichte beginnt anno 1968, als sie noch unschuldige Bauernbuben sind und miterleben, wie der Onkel Sepp seinen Pursogator in Betrieb nehmen will, eine Wundermaschine zur endgültigen Lösung der Energiefrage. Ein Stromschlag beendet das Jahrhundertexperiment. Seither liegt der Erfinder im Koma, und die Familie Baumgarten fällt auseinander. 18 Jahre später beschließt Lukas, die Welt zu retten, und heuert auf einem Greenpeace-Schiff an. Der Prolet Hansi, Vokuhila-Frisur, kanariengelbes Sakko, knallrote Zuhälter-Schleuder, macht windige Geschäfte. Paul ist zu einem Riesenbaby mutiert und hält sich für Jesus. Am Ende führt das Katastrophal alle wieder zusammen, wobei der Lehrsatz von Beckett gilt, dass nichts so komisch ist wie das Unglück.

Was weg is, is weg ist die erste Regiearbeit von Christian Lerch. Der 46-jährige Schauspieler ist kein Neuling im Genre Schwarzer Humor. Er trat in Achternbusch-Filmen auf und war Co-Autor des Drehbuchs zu Marcus H. Rosenmüllers Wer früher stirbt, ist länger tot, einer Komödie, die 1,8 Millionen Kinobesucher begeisterte. Nun ist Lerch ein fulminantes Debüt gelungen: ein Roadmovie auf Feldwegen, ein wilder Schwank, der zwischen Kruzifix und Kernkraft, BMW-Kult und Ökorevolte, katholischer Frömmigkeit und blindem Zukunftsglauben spielt. Jenseits des Absurden treiben den Regisseur allerdings ganz andere Deformationen um: Es geht um das Säurebad der Modernisierung, in dem sich alle Traditionen auflösen, um den Fortschritt, der das ländliche Milieu, die heilige Familie, die sozialen Bindungen zersetzt. Und es geht um die Kraft des Beharrens, den urbayerischen Anarchismus, die List und den Witz der Provinz gegen den Irrsinn unseres Zeitalters.

Ein Heimatfilm im besten Sinne also: Er konterkariert die Heut-samma-lustig-Industrie und ihre leitkulturelle Jodelseligkeit. Was weg is, is weg ist eine Parabel auf das Unwiederbringliche, frei von Schmalz und Nostalgie, zutiefst provinziell und zugleich universell, denn sie thematisiert das Unbehagen an der Globalisierung und ihren Verwerfungen. »Der Mensch braucht so etwas wie Heimat«, sagt Lerch. Sein Film verströmt jenen rückbesinnlichen Zeitgeist, der in den vergangenen Jahren jede Menge Dorfgeschichten und Familienepen hervorgebracht hat, darunter auch grimmige Romane wie Josef Bierbichlers Mittelreich, die den Mythos von der guten alten Zeit dekonstruieren.
Die Drehorte im Umland von Kraiburg am Inn, einer unverkitschten Gegend an der Peripherie Oberbayerns, die Authentizität der Darsteller (herausragend: Maximilian Brückner als Hansi und Johanna Bittenbinder als Mutter Baumgarten), die unverkünstelte Mundart, die valentinös-becketteske Komik – man weiß nicht, ob das in der Norddeutschen Tiefebene ankommt. Aber wer wissen will, was ein Katastrophal ist, sollte sich Was weg is, is weg unbedingt anschauen.