Christoph Ransmayr ist einer der besten deutschsprachigen Erzähler überhaupt. In seinem neuen Roman erzählt ein Wasseringenieur von seinen Abenteuern an den großen Strömen der Welt und dem Trauma seiner Familie.

Ransmayr ist aus der Ferne auf das Territorium seiner eigenen Herkunft zurückgegangen und macht den Dichter wieder zum Seismografen auf einem brüchig gewordenen Boden. Noch einmal ist da jemand aus der Ferne der eigenen Reisen in die letzte Welt zurückgebogen – und sucht die Antworten doch bei sich selbst und der Kraft der Erzählung: „Nach jener Sage, die Mira und ich von Jana wieder und wieder hören wollten, lebten am Seegrund nicht nur leuchtende, nie gesehene Wesen, sondern es stiegen von dort in jeder ersten Vollmondnacht eines neuen Jahres auch Bußgesänge aus einer versunkenen Kathedrale empor, die mit samt ihren Erbauern in einem jahrhundertelangen Regen untergegangen war.“

Quelle: Der Rausch der Erinnerung

Die Perversion von Politik und Kunst

CDU, AfD und Bauhaus wollen nicht, dass Feine Sahne Fischfilet in Dessau auftritt. Nicht weiter schlimm. Dramatisch aber ist das Missverständnis, das dem zugrunde liegt.
Feine Sahne Fischfilet: Jan "Monchi" Gorkow, Sänger der Band Feine Sahne Fischfilet aus Mecklenburg-Vorpommern
Jan „Monchi“ Gorkow, Sänger der Band Feine Sahne Fischfilet aus Mecklenburg-Vorpommern © Daniel Karmann/dpa

Nun sage noch jemand, die deutsche Popmusik sei unpolitisch geworden oder habe keine Erkenntnisse mehr zur politischen Lage zu stiften. Das Gegenteil ist der Fall, nirgendwo gelangt die politische Lage so früh, so deutlich und unmittelbar zur Erscheinung wie im Pop. Falls jemand beispielsweise noch geglaubt haben sollte, dass es im Deutschland des Jahres 2018 eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem bürgerlichen Konservatismus und der Neuen Rechten gibt, dann zeigt die Gruppe Feine Sahne Fischfilet das Gegenteil auf: So wie sie beide in der Aggression gegen sich eint, demonstriert sie die Geistesverwandtschaft von CDU und AfD. Jetzt wieder in Sachsen-Anhalt, wo offenbar auf politischen Druck ein Konzert von Feine Sahne Fischfilet im Bauhaus in Dessau verboten wurde.

Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Niemand hat ein Recht darauf, im Bauhaus in Dessau aufzutreten, auch nicht Feine Sahne Fischfilet. Es handelt sich um eine Institution, in deren Stiftungsrat sich die politischen Mehrheitsverhältnisse im Land widerspiegeln. Und wenn die politische Mehrheit im Land sich für die Einschränkung der künstlerischen Freiheit ausspricht, dann haben alle Menschen, denen die künstlerische Freiheit am Herzen liegt, ja die Möglichkeit, bei den nächsten Landtagswahlen die politischen Mehrheitsverhältnisse zu ändern. Bis dahin bieten sich auch einer Band wie Feine Sahne Fischfilet immer noch genügend andere Auftrittsmöglichkeiten, auf die CDU und AfD keinen direkten Zugriff haben.

Dennoch ist interessant, wie das Bauhaus seine Entscheidung begründet. Das Konzert von Feine Sahne Fischfilet habe man abgesagt, weil „politisch extreme Positionen, ob von rechts, links oder andere … am Bauhaus Dessau keine Plattform“ finden sollten, heißt es in der Pressemitteilung. Auf welchem Weg man zu der Einschätzung gelangt ist, dass es sich bei Feine Sahne Fischfilet um eine „politisch extreme“ Band von „links“ handelt, wird nicht erläutert. Als „linksextrem“ gilt nach Definition des Amtes für Verfassungsschutz jeder, der „die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung“ überwinden und stattdessen „ein herrschaftsfreies oder kommunistisches System“ errichten möchte. Dieses Vorhaben kann man aus dem musikalischen Werk der Band nicht herauslesen. Sollte die Stiftung Bauhaus über neue Quellen und Informationen verfügen, so wäre es nützlich, wenn sie diese öffentlich machen könnte.

Seit Bekanntgabe des Auftrittsverbots haben viele Menschen in den sozialen Netzwerken ihre Zustimmung bekundet. Dies geschah meist mit der Begründung, dass Feine Sahne Fischfilet zu Gewalt gegen Polizisten aufrufe und vom Verfassungsschutz beobachtet werde. Korrekt ist, dass die Band zwischen 2011 und 2014 viermal im Verfassungsschutzbericht auftauchte, wegen vermeintlich staats- und polizeifeindlicher Passagen im Lied Staatsgewalt aus dem Jahr 2009. Darin erzählt der Feine-Sahne-Fischfilet-Sänger Jan „Monchi“ Gorkow davon, wie er auf einer friedlichen Demonstration von der Polizei grün und blau geprügelt wird, weil er eine Meinung verkündet, die den Polizisten nicht passt; und wie er daraus eine Rachefantasie entwickelt: „Was ihr könnt / können wir schon lange / Die Bullenhelme, die sollen fliegen / Eure Knüppel kriegt ihr in die Fresse rein.“ Dieser Vergeltungswunsch ist fraglos abzulehnen und der damit verbundene Antifa-Straßenkämpfer-Maskulinismus mindestens unangenehm. Gleichwohl handelt es sich um eine gesungene Passage in einem Lied, das wesentlich gerade nicht von Gewaltwünschen handelt, sondern von einem Ohnmachtsgefühl.

Seit wann ist Kunst 1:1 zu nehmen?

Man kann solche Fantasien zweifellos als realen Selbstermächtigungsaufruf interpretieren. Das geht aber nur dann, wenn man zugleich der Ansicht ist, dass es zwischen einem künstlerischen Ausdruck und einer politischen Aussage keinen Unterschied gibt; dass also alles, was in einem Lied oder auf einer Konzert- oder Theaterbühne geäußert wird, eins zu eins zu verstehen ist. Würde man diesem Argument folgen, müsste man beispielsweise auch sämtliche Auftritte des Rappers Sido verbieten, der in seinem Arschficksong auf drastische Art erzählt, dass er sexuelle Lust nur beim schmerzhaften Quälen von Frauen zu empfinden vermag. Sido trat im Jahr 2016 im Bauhaus in Dessau auf, ohne dass der Stiftungsrat, die CDU oder die AfD irgendeinen Protest dagegen erhoben hätten.

Viele Debatten der jüngeren Zeit, in denen das Verhältnis von Pop und Politik zur Sprache kam, umkreisten das Problem der Ambivalenz. Etwa wenn es darum ging, ob ein Rapper wie Kollegah seine antisemitischen und sexistischen Texte tatsächlich so meint, wie er sie äußert, oder ob es sich dabei nicht um ein „Rollenspiel“ handelt. Selbst bei scharfer Kritik an solchen reaktionären Figuren wurde die Möglichkeit der Ambivalenz, des Nicht-so-gemeint-seins, doch immerhin abgewogen. Bei der Kritik der Neuen Rechten an Feine Sahne Fischfilet wird diese Möglichkeit von vornherein ausgeschlossen. Für sie steht außer Frage, dass hier alles genauso gemeint ist, wie es gesagt wird. Darin – und das ist das eigentlich Interessante an diesem Fall – zeigt sich eine generelle Verkehrung von Ästhetik und Politik auf der Seite der Neuen Rechten.

Zu deren typischen und hinlänglich analysierten rhetorischen Mustern zählt ja gerade der strategische Gebrauch von Ambivalenzen, das Wechselspiel aus Provokation und Relativierung: Man sagt etwas, über das sich alle aufregen, und behauptet hinterher, es sei „alles nicht so gemeint“ gewesen. Dieses Muster stammt seinerseits natürlich aus dem Feld des Ästhetischen. Eigentlich ist die Kunst ja der Bereich des Lebens, in dem „alles nicht so gemeint“ ist, wie es erscheint. Auch Feine Sahne Fischfilet könnten dies für ein Lied wie Staatsgewalt in Anspruch nehmen. Es wird ihnen aber nicht zugestanden, und das nicht nur aus einem kurzfristig politischen Kalkül, sondern aus strukturellem Grund. So wie die Neuen Rechten die Politik ästhetisieren und mit kalkulierten Mehrdeutigkeiten durchsetzen – so wollen sie umgekehrt der Kunst jedes Recht auf Nicht-so-gemeint-sein entziehen. Es gehört zum Wesenskern dieser politischen Ideologie, dass sie die  Hoheit über die Ambivalenzproduktion absolut für sich allein beansprucht. Ästhetische Gegenstände kommen in diesem Weltbild nur noch als Medium zur Verbreitung eindeutiger politischer Botschaften vor.

Dieser Umstand wurde uns durch das Bauhaus Dessau jetzt noch einmal in dankenswerter Klarheit vor Augen geführt. Klar ist aber auch, dass in einer Gesellschaft, in der die Ästhetisierung der Politik und die Entästhetisierung der Kunst zum Abschluss gelangt, eine ästhetische Institution wie das Bauhaus kein Daseinsrecht mehr besitzt.

Wolf Haas: Warum lieben wir Krimis? | ZEIT ONLINE.

Warum lieben wir Krimis?

Keiner erzählt kunstvoller vom Bösen als der Bestseller-Autor Wolf Haas. Wie man Leser süchtig macht, erklärt er in einem Gespräch. Interview:  und

Wolf Haas: Kultur, Wolf Haas, Kriminalroman, Schriftsteller, Österreich

Der Schriftsteller Wolf Haas  |  © dpa

Es ist erstaunlich: Inmitten von Kriegen und Krisen erlebt Deutschland die friedlichste Phase seiner Geschichte, aber in den Buchläden und Fernsehprogrammen herrscht ein großes Morden. Der Krimi-Boom hat absurde Ausmaße angenommen. In Deutschland sehen sonntags bis zu zwölf Millionen Menschen den Tatort, jede Stadt, die auf sich hält, will ihren eigenen Fernsehkommissar, jedes Mittelgebirge hat seine spezielle Regionalkrimi-Reihe. Warum ist das so? Wir wollen über Krimis reden – und zwar mit dem wohl besten deutschsprachigen Autor, den es auf diesem Gebiet gibt: Wolf Haas. Der Österreicher hat das Genre in den vergangenen Jahren klug durchschaut, hinterlistig persifliert und lustig erneuert.

Haas ist, auch wenn man es nicht gleich merkt, ein großer Dichter, es lieben ihn das Feuilleton wie das Massenpublikum. Seine acht Kriminalromane um den Privatdetektiv Simon Brenner bestehen scheinbar aus bizarren Abschweifungen und Lebensweisheiten, die ein schwatzhafter Erzähler den Leserinnen und Lesern im Ton äußerster Vertraulichkeit zusteckt. Wer ein paar Seiten von Haas gelesen hat, begreift, dass da ein Menschenfreund und Humorist am Werk ist. Die Gemeinde seiner Leser wächst stetig, seine Sprache kann süchtig machen, auch die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek bekennt sich zu dieser Sucht. Drei Brenner-Romane sind bisher verfilmt worden, stets mit dem Schauspieler und Kabarettisten Josef Hader in der Rolle des Simon Brenner. Die vierte Verfilmung, Das ewige Leben, kommt in dieser Woche in die Kinos.

Wir treffen uns mit Wolf Haas in Wien. Als Begegnungsort schlug er das Gasthaus Wild am Radetzkyplatz vor. Haas hat einen Tisch im hintersten Winkel des Schankraums bestellt. Der Lärmpegel ist hoch, die Schwingtüren zur Küche sind pausenlos in Bewegung. Von seinem Stuhl erhebt sich ein hochgewachsener Mann von 54 Jahren.

DIE ZEIT: Herr Haas, warum dieses laute Lokal? Wollten Sie uns nicht in Ihre Wohnung führen?

Wolf Haas: Ich dachte immer, das ist das Kriterium für die allergrößten Schriftsteller-Nutten, die alles mitmachen: Journalisten in die eigene Wohnung zu lassen. Außerdem hätte ich ungefähr eine Woche aufräumen müssen.

ZEIT: Wir stellen uns das so vor, dass bei Ihnen daheim eine Frau und fünf Kinder sitzen, die nicht zum lonely wolf-Image passen, das Krimi-Autoren ansonsten pflegen.

Haas: Nein, ich wohne allein. Aber es ist tatsächlich so, wenn man Journalisten zu sich nach Hause einladen würde, ginge es sofort los mit der Selbstkontrolle: Wie wirkt dies? Wie wirkt das? Soll ich vielleicht dieses Buch vorher wegwerfen? (lacht) Fragen Sie nicht, welches Buch?

ZEIT: Doch.

Haas: Was ist das peinlichste zurzeit? Fifty Shades of Grey?

ZEIT: Das haben Sie zu Hause rumliegen?

Haas: Nein! Aber es würde mich interessieren …

ZEIT: Ist es nicht langweilig, allein zu leben?

Haas: Manchmal ist es langweilig, aber ich lebe ja an meinem Arbeitsplatz, und da hat das Singledasein große Vorteile. Ich steh auf und fang an zu arbeiten. Ich muss mir nicht überlegen, ob ich vorher duschen soll, weil ich sonst eine Zumutung für meine Mitbewohner wäre oder so.

ZEIT: In Ihren Kriminalromanen gibt es einen namenlosen Erzähler, der dem Protagonisten Simon Brenner überallhin folgt, zu allem eine Meinung hat und den Leser direkt anspricht …

In Haas’ Roman „Das ewige Leben“ schwafelt dieser Erzähler beispielsweise über die Frage, ob man Frauen besser mit einem Barbesuch oder einem Kinobesuch verführt: „Du musst wissen, der Brenner ist irgendwann als junger Mann draufgekommen, dass bei den Frauen, also bei den damaligen Frauen muss ich sagen, ein Problemfilm eine weitaus bessere Wirkung gehabt hat als zum Beispiel ein richtiger Film. Manche waren nach einem dreistündigen Problemfilm sogar zugänglicher als nach einem dreistündigen Barbesuch, und da ist die Kinokarte ja wesentlich billiger gekommen. Einziger Nachteil, dass der Brenner oft nach einem Problemfilm selber keine rechte Lust mehr gehabt hat und noch einen doppelt so langen Barbesuch gebraucht hat, um den Problemfilm zu vergessen.“

ZEIT: … wie bringen Sie diesen speziellen Ton zustande? Diese Mischung aus Bescheidwissen und Naivität? Muss man sich beim Schreiben in diesen Erzähler verwandeln – wie ein Schauspieler in seine Figur?

Haas: Ja, ich versetze mich schon in diesen fiktiven Menschen. Bei Fotos von Lesungen fällt mir auf, dass ich immer ganz fremd ausschaue und ein leicht idiotisches Gesicht mache – wie ein Darsteller.

Michel Houellebecq: Moral ist der falsche Maßstab | ZEIT ONLINE.

Wenn Satire alles darf, warum nicht auch Michel Houellebecq? Die Diskussionen um seinen neuen Roman sind bisweilen hanebüchen und zeugen von einem Missverständnis. von Nils Markwardt

Houellebecq Soumission

Michel Houellebecqs neuer Roman in einer Pariser Buchhandlung  |  © Jacky Naegelen/Reuters

Schon Tage bevor Michel Houellebecqs neuer Roman Unterwerfung (Soumission) in den französischen Buchhandlungen auslag, war der Skandal perfekt. Der nicht einmal 300 Seiten starke Text, der das Szenario einer islamischen Machtübernahme in Frankreich entwirft, galt als literarischer Brandsatz. Laurent Joffrin, der Chefredakteur der linksliberalen Tageszeitung Libération, konstatierte etwa, das Erscheinen von Unterwerfung sei „nicht nur ein literarisches Ereignis, das nur mit ästhetischen Kriterien bewertet werden kann. Nolens volens hat dieser Roman eindeutig eine politische Resonanz. (…) Er markiert in der Geistesgeschichte das Datum, an dem die Ideen der extremen Rechten – wieder – in die hohe Literatur eingedrungen sind.“

Der Journalist Sylvain Bourmeau, der kürzlich ein ausführliches Interview mit Houellebecq für das amerikanische Literaturmagazin Paris Review führte, bescheinigte dem Autor „literarischen Selbstmord“. Hierzulande, wo Unterwerfung am kommenden Freitag erscheint, schaffte es das Buch sogar in die Tagesthemen, in denen man dem Roman attestierte, das „Schreckensszenario“ einer islamischen Herrschaft auszubuchstabieren. Die taz sekundierte schließlich, dass das Buch „islamophobe Ressentiments“ schüre und es Pegida-Demonstranten „als Horrorerlebnis zur Bettlektüre“ gereichen würde.

Unter normalen Umständen hätten sich die Wogen nun womöglich relativ schnell wieder geglättet, da jeder, der den Roman gelesen hat, eigentlich zur Einsicht gelangen müsste, dass solch schrille Einschätzungen allzu abenteuerlich sind und Houellebecq mit Sicherheit keine Ideen der extremen Rechten proklamiert.

Video: Michel Houellebecq - Mein Buch stellt keinen bedrohlichen Islam dar

Noch vor dem Terroranschlag in Paris hat der französische Autor Michel Houellebecq sein neues Buch „Unterwerfung“ verteidigt. Der Roman entwirft eine politische Fiktion für das Jahr 2022, in der Frankreich einen muslimischen Präsidenten hat. Video kommentieren

Momentan herrschen jedoch keine normalen Umstände. Denn am 7. Januar, jenem Tag, als Unterwerfung in Frankreich veröffentlicht wurde, ereignete sich das Attentat auf das Pariser Satiremagazin Charlie Hebdo, welches insgesamt zwölf Menschen das Leben kostete; zwei Tage später die Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt, während der weitere vier Menschen starben.

Von nun an war die Rezeption von Unterwerfung untrennbar an diese islamistisch motivierten Anschläge gekettet. Nicht zuletzt auch deshalb, weil das Satiremagazin in seiner aktuellen Ausgabe eine Houellebecq-Karikatur auf dem Cover hatte. Dementsprechend schrieb etwa die FAZ: „Die Schüsse auf die Redaktion von Charlie Hebdo galten auch Houellebecq.“ Im Stern verstieg man sich sogar zu dem hanebüchenen Satz: „Für alles, was jetzt noch kommt, trägt auch er seinen Teil Verantwortung.“

Hysterische Reaktionen

Houellebecq selbst, der mit dem Wirtschaftsjournalisten Bernard Maris auch einen Freund bei dem Anschlag auf Charlie Hebdo verlor, zeigte sich schockiert, sagte alle weiteren Termine ab und hält sich nun an einem unbekannten Ort auf. Die Debatte um sein Buch läuft weiter. Diskutiert wird dabei nicht zuletzt weiterhin die Frage, wie moralisch oder unmoralisch es nun sei, das literarische Szenario einer europäischen Islamisierung zu entwerfen? Und bisweilen sind es dabei paradoxerweise die gleichen Leute, die sich zwar lautstark mit Charlie Hebdo solidarisieren und die Satirefreiheit verteidigen, über Houellebecq jedoch mindestens die Nase rümpfen.

Angesichts der Pariser Attentate müssen derzeit nun leider nicht wenige Menschen an ein paar Selbstverständlichkeiten erinnert werden. Zuvorderst daran, dass Islam nicht mit Islamismus zu verwechseln ist und Gläubige, gleich welcher Religion, nicht im Kollektivsingular existieren. Ob mancher hysterischer Reaktionen auf Unterwerfung muss man indes ebenso ins Gedächtnis rufen, dass ein Roman nicht wie ein Sachbuch, ein politisches Manifest oder eine Bedienungsanleitung zu lesen ist. Und das bedeutet zunächst vor allem, dass Moral kein primäres Kriterium der Literaturkritik sein kann. Denn wer Romane an moralischen Maßstäben misst, kastriert die Kunst.

Video: Michel Houellebecqs Unterwerfung - Eine tragische Satire gegen Europa in seiner jetzigen Verfassung

In seinem Zukunftsroman „Unterwerfung“ erzählt Michel Houellebecq von einem islamischen Frankreich im Jahr 2022. Ist dieses vieldiskutierte Buch nach den schrecklichen Anschlägen von Paris eine Warnutopie? Video kommentieren

Das heißt nun freilich nicht, dass das Label Literatur etwa die Verbreitung von Rassismus und Fremdenhass rechtfertigen könnte. Es heißt aber sehr wohl, dass Kunst radikal amoralisch sein darf. Das zeigt sich beispielhaft an den Büchern des Marquis de Sade.

Denn das Werk dieses Wüterichs der Weltliteratur, der anlässlich seines 200. Todestags jüngst noch einmal ausgiebig von den Feuilletons gewürdigt wurde, offenbart sich ja gewissermaßen als eine riesige, gleichermaßen monströse wie sexistische Gewaltfantasie. Und zwar derart, dass selbst hartgesottene Horrorfans bei der Lektüre von Die 120 Tage von Sodom oder Justine vermutlich kräftig schlucken müssen. Gleichwohl attestierte beispielsweise Simone de Beauvoir dem Marquis jenen ungeheuren Verdienst, „die Wahrheit des Menschen gegen jeden Abwehrmechanismus der Abstraktion und Entfremdung proklamiert zu haben.“ Ähnlich urteilte Albert Camus, der in de Sades „enormer Kriegsmaschine“ die „Argumente der Freidenker“ versammelt sah. Um genau dies zu erkennen – und die Texte de Sades nicht als, sagen wir, Apologie eines pornografischen Proto-Faschismus misszuverstehen –, bedarf es jedoch jenes genauen Umgangs mit Literatur, den man sich auch in der aktuellen Debatte um Unterwerfung vermehrt wünschen würde.

  1. Seite 1 Moral ist der falsche Maßstab
  2. Seite 2 Die Differenzierung ist nicht immer einfach
  3. Seite 3 Es geht überhaupt nicht um den Islam

Marcus H. Rosenmüller: „Ich will immer dran erinnert werden, wer ich war“ | ZEIT ONLINE.

„Ich will immer dran erinnert werden, wer ich war“

In seiner Filmtrilogie „Beste Zeit, Beste Gegend, Beste Chance“ erzählt Marcus H. Rosenmüller von einer Jugend auf dem Dorf. Ein Gespräch über Kindheit in Bayern Ein Interview von 

Regisseur Marcus H. Rosenmüller

Regisseur Marcus H. Rosenmüller  |  © Armin Weigel/dpa

Frage: Herr Rosenmüller, Beste Zeit, Beste Gegend, Beste Chance – Ihre Trilogie erzählt von Kindheit und Jugend auf dem Dorf. Was hat Ihnen Ihre eigene Kindheit in Bayern gegeben?

Marcus H. Rosenmüller: Da war diese unendliche Freiheit. Wir waren ja die meiste Zeit draußen in der Natur. Unsere Eltern haben uns erst zum Abendessen wieder gesehen. Das ist für mich in Beste Zeit auch einer der wichtigsten Momente: wenn die beiden Mädchen aus der Diskothek zurücktrampen, zu Fuß durch den Wald gehen und in einem Maisfeld verschwinden. Als Kind und Jugendlicher hatte ich eine starke Sehnsucht nach diesem Verschwinden in der Natur. Die Metapher kehrt nun im Schlussbild wieder, wo die Menschen im Ganges baden. Sie tauchen in den Fluss des Lebens ein.

Frage: Was bedeutet Heimat für Sie?

Rosenmüller: Das ist eine wahnsinnig schwierige Frage. Heimat ist ein Ort, an dem man sich nicht fremd fühlt. Heimat hat immer mit Erinnerungen zu tun – sie stellen eine Vertrautheit her, können aber auch sehr erdrückend sein. Jeder Stein im Wald, an dem man schon als Kind gespielt hat, jede Böschung, die man schon heruntergesprungen ist, geben einem als Jugendlicher das Gefühl, nichts Neues mehr erleben zu können. Jeder im Dorf kennt einen. Man fühlt sich nackt und kann sich nicht verstecken.

Video: Kino - Beste Chance (Trailer)

„Beste Chance“ (Trailer) Video kommentieren

Frage: Ist Heimat nicht ein Auslaufmodell, weil viele heutzutage beruflich und privat so mobil sind?

Marcus H. Rosenmüller

1973 in Tegernsee geboren, landete 2006 einen Hit mit Wer früher stirbt, ist länger tot. Es folgten Beste Gegend und Beste Zeit (2007). Beste Chance beschließt nun die Trilogie über Jugend in der bayerischen Provinz.

Rosenmüller: Früher war Heimat noch klarer mit einer festen Ortschaft verbunden, einem Lebensgefühl. Dazu gehörten der Dialekt, der Humor, das Essen, bestimmte Gerüche; und die Familie und Freunde. Heute bleibt oft nur noch die Kernfamilie, alles andere wird immer wieder gekappt.

Frage: In Beste Chance geht es für Kati und Jo sowie deren Väter nach Indien. Der größte denkbare Kontrast zu Bayern?

Philosophie: Alles eilt. Wie wir die Zeit erleben | Kultur | ZEIT ONLINE.

Die neoliberale Politik hat sämtliche Zeitformen zerstört, die der Logik der Effizienz und des Kapitals im Wege stehen. Dies macht krank und zerstört die Seele. Deshalb brauchen wir eine andere Zeit: Die Zeit als Gabe. Von Byung-Chul Han

Den Menschen sind jene Zeitformen abhandengekommen, die eine Erfahrung der Dauer möglich machen.

Den Menschen sind jene Zeitformen abhandengekommen, die eine Erfahrung der Dauer möglich machen.

„Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heißt die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in großem Maße zu verstärken.“

(Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches )

Nicht jede Zeitform lässt sich beschleunigen. Es wäre ein Sakrileg, eine rituelle Handlung beschleunigen zu wollen. Rituale und Zeremonien haben ihre Eigenzeit, ihren eigenen Rhythmus und Takt. Alle Handlungen, die an die Jahreszeiten gebunden sind, entziehen sich ebenfalls der Beschleunigung. Liebkosungen, Gebete oder Prozessionen lassen sich nicht beschleunigen. Alle narrativen Vorgänge, zu denen auch Rituale und Zeremonien gehören, haben ihre eigene Zeit. Im Gegensatz zum Zählen lässt das Erzählen keine Beschleunigung zu. Die Beschleunigung zerstört die narrative Zeitstruktur, den Rhythmus und den Takt einer Erzählung.

Die Geschwindigkeit des Prozessors lässt sich beliebig erhöhen, weil er nicht narrativ, sondern bloß additiv arbeitet. So unterscheidet sich der Prozessor von der Prozession, die ein narratives Ereignis ist. Heute werden alle Rituale und Zeremonien abgeschafft, weil sie hinderlich sind für die Beschleunigung der Kreisläufe der Information, der Kommunikation und des Kapitals. So werden alle Zeitformen beseitigt, die nicht der Logik der Effizienz gehorchen.

 

William T. Vollmann: Wie schreibt man ein Meisterwerk? | Kultur | ZEIT ONLINE.

Der amerikanische Schriftsteller William T. Vollmann hat ein grandioses Epos über den Zweiten Weltkrieg verfasst: „Europe Central“. Wie ihm das gelungen ist, erläutert er im Gespräch mit seinem Übersetzer Robin Detje und einem seiner größten Bewunderer, dem deutschen Schriftsteller Clemens Setz. Das Werkstattgespräch moderierte Ijoma Mangold.

William T. Vollmann ist ein literarischer Berserker. Sein Roman „Europe Central“ hat über 1.000 Seiten, und in das Werk sind Berge an Archivmaterial eingegangen. Der Anmerkungsapparat gibt einen spannenden Einblick, wie Vollmann aus historischen Quellen heraus seine literarischen Phantasmagorien entwickelt. „Europe Central“ erzählt von jenem Europa, das im Zweiten Weltkrieg verwüstet wurde. Das absurde Mahlwerk der Geschichte wird am Beispiel historischer Künstlerfiguren wie Käthe Kollwitz und Schostakowitsch oder der Militärs Wlassow und Paulus erzählt. Dabei springt der Roman hin und her zwischen deutscher und sowjetischer Perspektive. Ein Buch, das den Schrecken scharf herausarbeitet, aber ein großes Erbarmen mit all seinen Figuren hat. (…)

 

Dann mach doch die Bluse zu! – Blogpost | Freie Welt.

Frauen bestehen auf ihrem Recht, sexy zu sein – ganz für sich selbst, natürlich. Darauf reagieren darf Mann nämlich nicht, sonst folgt gleich der nächste #Aufschrei.

Vielleicht wäre uns diese ganze Debatte erspart geblieben, wenn an diesem ominösen Abend an der Bar nicht Rainer Brüderle, sondern George Clooney gestanden hätte, um seine Tanzkarte an Frau Himmelreich weiterzureichen. Aber so müssen wir alle teilhaben an dem jämmerlichen Balzversuch des Altpolitikers gegenüber der aufsteigenden Jungjournalistin. Denn die ganze Nummer bekommt einen ganz neuen Dreh, wenn männliche Annäherung auf fruchtbaren Boden fällt. Dann wäre es unter Umständen die Geschichte eines heißen Flirts geworden und Frau Himmelreich hätte bis an ihr Lebensende einen echten Clooney bei ihren Freundinnen zum Besten geben können. Was wir daraus lernen? Wo persönliche Befindlichkeit als ausreichender Gradmesser erscheint, um Sexismus zu definieren, verkommt der Begriff zur Beliebigkeit.