Seit einigen Jahren setzt sich der Wiener Comiczeichner Nicolas Mahler mit der Hochkultur auseinander. Als Freibeuter im Meer der Weltliteratur macht er sich ein Werk nach dem anderen zu eigen. Zum 100. Todestag von Franz Kafka sind gleich zwei Arbeiten von ihm erschienen. Bereits im Vorjahr konnte ich mit ihm über Faszinierendes und Skurriles in Leben und Werk des Prager Schriftstellers austauschen.

Quelle: »Jeder hat sofort ein Bild von Kafka«

Christoph Ransmayr ist einer der besten deutschsprachigen Erzähler überhaupt. In seinem neuen Roman erzählt ein Wasseringenieur von seinen Abenteuern an den großen Strömen der Welt und dem Trauma seiner Familie.

Ransmayr ist aus der Ferne auf das Territorium seiner eigenen Herkunft zurückgegangen und macht den Dichter wieder zum Seismografen auf einem brüchig gewordenen Boden. Noch einmal ist da jemand aus der Ferne der eigenen Reisen in die letzte Welt zurückgebogen – und sucht die Antworten doch bei sich selbst und der Kraft der Erzählung: „Nach jener Sage, die Mira und ich von Jana wieder und wieder hören wollten, lebten am Seegrund nicht nur leuchtende, nie gesehene Wesen, sondern es stiegen von dort in jeder ersten Vollmondnacht eines neuen Jahres auch Bußgesänge aus einer versunkenen Kathedrale empor, die mit samt ihren Erbauern in einem jahrhundertelangen Regen untergegangen war.“

Quelle: Der Rausch der Erinnerung

John Burnside: „I put a spell on you“Glamourie ist gleich MagieIn seinem jüngsten Buch „I put a spell on you“ wehrt sich der schottische Autor John Burnside gegen das Konzept der ewigen Liebe: „Wir sollten miteinander verhandeln dürfen“, sagt er im Dlf. Er spricht auch über sein Leben und Schreiben, über Drogen, Rollenbilder und den Brexit.

John Burnside im Gespräch mit Tanya Lieske im Deutschlandfunk vom 23.12.2019

Der schottische Autor John Burnside ist eine herausragende Stimme seines Landes und seiner Generation, und er ist ein Autor, dessen Werk sich einfachen Zuschreibungen entzieht. Zwischen Lyrik, Prosa und dem Essay bewegt sich jeder seiner Texte hin und her. Für sein jüngst erschienenes Buch hat der englische Verlag den Genrebegriff „Memoir“ gewählt, das sich von der Autobiografie durch den essayistischen Zugang unterscheidet.„I put a spell on you. Über Liebe und Magie“ heißt dieses Buch. John Burnside erzählt von den Frauen, die er in seinem Leben geliebt hat, er denkt nach über das Wesen der Liebe an sich, und all das verbindet sich für ihn mit dem für sein Schaffen so zentralen Begriff der Magie: Magie im Sinne von Beschwörung und von Verzauberung. Sprache ist für John Burnside selbst ein magischer Akt, und um das zu begründen geht Burnside weit ins kulturelle Erbe seines Landes zurück, er findet Bezüge zum Film, zur Popmusik, zur Bildenden Kunst.John Burnside wurde 1955 in einer Arbeiterfamilie in Schottland geboren. Er hat in früheren Büchern erzählt, welchen Einfluss ein trunksüchtiger und gewalttätiger Vater auf sein Leben hatte. Als Jugendlicher hat Burnside harte Drogen konsumiert, er hat als Tellerwäscher, in der Automobilindustrie und als Softwareentwickler gearbeitet, bevor er sich ganz dem Schreiben zuwandte. Im folgenden Gespräch legt John Burnside Wert darauf, dass dies keine isolierten Ereignisse sind, und dass das Schreiben kein Bruch mit seiner Biographie ist. Gibt es einen roten Faden in seinem Werk?

John Burnside: Schreiben kann die vielfältigsten Erfahrungen ansprechen. Bei mir ist das herausragende Thema das eines Bewusstseins für die Textur unseres Alltags. Meistens schaut man in Eile über so Vieles hinweg, verpasst so viele Details. Dafür interessiere ich mich schon lange, sei es mittels bewusstseinserweiternder Substanzen, die uns für Farbe und Licht empfänglich werden lassen, oder auch im Sinne einer Philosophie des Moments, des Alltäglichen. Genau das ist auch das Anliegen von Lyrik, sie zelebriert den Moment, eine Landschaft, eine Imagination. Also, das ist die Klammer meines Schreibens.

Tanya Lieske: Wenn Sie sich das anschauen, was Sie „The Fabric of life“ oder auch das Fest der täglichen Dinge nennen, passiert es dann, dass sich dahinter ein Raum öffnet, gibt es für Sie eine Verbindung zwischen dem Alltäglichen und dem Magischen?

Burnside: Ja, ich möchte in einen engeren Kontakt mit der Welt um mich herum kommen. Emily Dickinson hat einmal gesagt, dass wir uns zur Welt verhalten sollten wie eine halb angelehnte Tür. Wir sollten uns den Erfahrungen um uns herum öffnen, nicht dem, was wir erwarten, sondern dem, wie es wirklich ist. Ich glaube es passiert uns im Leben oft, dass wir genau das erfahren, worüber wir schon nachgedacht haben, und darüber verpassen wir die eigentliche Erfahrung. Wenn es uns gelänge, unseren Erwartungen und unsere Sozialisierung hinter uns zu lassen, dann könnten wir wirklich sehen und empfinden, was geschieht.

Lieske: Ihr neues Buch, „Über Liebe und Magie – I put a spell on you“, wie reiht es sich ein in dieses Bestreben?

Burnside: Im Zentrum stehen das Wort und die Idee der „Glamourie“. Glamourie, das ist ein altes schottisches Wort, der englische Glamour ist davon abgeleitet. Es ist ein magisches Wort, weist in zwei Richtungen. To glamour something heißt: Eine Täuschung hervorrufen, etwas attraktiver scheinen lassen als es ist, eine Gefahr verschleiern. Das gibt es bei dem glamourösen Model, bei der Schauspielerin, sie ist aufgeputzt, zurechtgemacht, wunderschön präsentiert. Ihre Erscheinung ist nicht identisch mit dem Menschen dahinter, sie ist ein Akt der Oberfläche. In der schottischen Kultur bleibt man hier misstrauisch, man wittert eine  Täuschung. Dann gibt es noch die zweite Bedeutung von glamouring: Etwas Verfremden, uns etwas ganz Alltägliches wieder fremd machen, so dass wir gezwungen sind, noch einmal ganz genau hinzuschauen und zu sagen,‘ oh, das ist mir bislang entgangen. Ich sehe das so zum ersten Mal‘

.Lieske: Sie spüren dem Wort Glamour nach und kommen zu dem älteren schottischen Wort Glamourie. Ich habe das so verstanden, dass Glamourie auch die Kehrseite, die dunkle Seite des Glamours zeigt

.Burnside: Nicht immer, nur manchmal. Glamourie ist wie Elektrizität, man kann sie einsetzen um Licht anzumachen oder um einen elektrischen Stuhl zu bauen. Es ist wie ein Naturphänomen, und man kann sich seiner bedienen, um die dunkle Seite der Welt zu erfahren, oder ihre versteckte Schönheit. Und manchmal sind diese beiden auch miteinander verbunden! Glamourie verbindet sich in dieser Tradition mit dem Magischen, es ist zum Beispiel mit dem Wort „Grammatik“ und mit dem Wort „Grimoire“ verwandt, mit einem Zauberbuch, einem Book of Spells. Auch deshalb trägt mein Buch den „Titel I put a spell on you“. Der Spell, der Zauberspruch, hat ja zum Ziel, jemanden etwas glauben zu machen, ihn etwas sehen oder erfahren zu lassen, was normalerweise außerhalb seiner Reichweite liegt. Manchmal zum Guten, manchmal zum Schlechteren.

Lieske: Sie haben Ihr Buch so verfasst, dass sie Abschnitte ihres Lebens nachzeichnen, darüber nachdenken, und dazwischen gibt es Kapitel, die Sie „Abschweifungen“ nennen, Digressions. In einer dieser Abschweifungen sprechen Sie über diese Wörter, „Glamourie“ oder auch „Thrawn“, das ist ein anderes Wort, das in diesem Sinne vorkommt. Wo haben Sie diese Wörter her und wo sind sie geblieben im täglichen Sprachgebrauch?

Burnside: Auch „Thrawn“ ist ein altes schottisches Wort, es kann im guten Sinne ein Mysterium benennen oder etwas was schwachsinnig ist, verrückt und verschroben. Es ist ein doppelgesichtiges Wort genau wie Glamourie. Also, mein Buch ist voller Abschweifungen, weil das meiner Persönlichkeit entspricht. Ich bin jemand, der das Umständliche und die Exkurse liebt. Das gefällt mir auch in der Literatur, zum Beispiel im Englischen Roman des 18. Jahrhunderts. Da geht es um die Abenteuer eines Helden, und auf einmal sagt der Autor: „Und jetzt eine Abschweifung!“ Und dann redet er vier Seiten über Kuckucksuhren …Wissen Sie, wir leben in dieser Welt der Soundbites und der simplen Codes, der Abkürzungen und der Tweets. Also ich twittere nicht, ich käme niemals mit dem Platz zurecht, ich liebe die Abschweifung und das Nachverhandeln, all die Wenns und Abers zu einem Argument, alle Gespräche, in denen es mehr als eine Antwort gibt. Wir laufen Gefahr, unser Verständnis für die Vielschichtigkeit und den Reichtum des Lebens zu verlieren, wenn wir nur eine einzige Antwort für alle Fragen zulassen, und die kann man dann am nächsten Baum anschlagen. Wir haben gerade einen Präsidenten der Vereinigten Staaten, der versucht, auf diese Weise Politik zu machen, und das ist wirklich gefährlich.

Lieske: Das ist auch ein Plädoyer für mehr Zeit, für mehr Langsamkeit.

Burnside: Ja, in der Tat, für eine Verlangsamung, für mehr Aufmerksamkeit, für eine Erfahrung von Zeit an sich, falls sich überhaupt sagen lässt, was das ist, die Zeit. Ich bin selbst so oft in Eile, alles im Leben drängt einen zur Geschwindigkeit, und eigentlich will ich anhalten und hinschauen. Das passendste Bild sind für mich die Touristen in den Museen, sie folgen einem Reiseleiter mit einem Fähnchen, und schon nach wenigen Sätzen sind sie beim nächsten Bild. So fühle ich mich auch, als wäre da jemand, der mich zu immer größerer Eile treibt.

Lieske: Worte sind wichtig, man merkt an diesem Buch, wie aufmerksam sie sie setzen. Ihr deutscher Verlag hat entschieden, die beiden Wörter „Liebe“ und „Magie“ mit in den Titel zu nehmen, sind Sie damit einverstanden, und was haben die beiden miteinander zu tun?

Burnside: In meinem Buch geht es einerseits um Magie und um die Transformationen, über die wir schon gesprochen haben. Andererseits geht es um die romantische Liebe. Meine Generation ist vor einem Soundtrack aus Popsongs und Filmen aufgewachsen, die verkünden, dass die romantische Liebe das Beste ist, was uns passieren kann. Das wollte ich in Frage stellen. In Wahrheit war es in meiner Jugend nämlich so, dass die Jungen eine Affäre wollten und die Mädchen wollten heiraten. Beide Geschlechter waren so sozialisiert, mit einem Unterschied: Die Jungen hatten eine vage Ahnung davon, dass die Ehe eine Falle war, dass sie nach der Heirat in einer Industriestadt in Schottland feststecken würden, und dass es keinen Ausweg mehr geben würde. Es gab da diese Songs im Radio wie Everlasting love und ich habe mich damals schon gefragt: Warum Liebe für immer? Warum nicht die Liebe von heute oder die Liebe für ein Jahr? Warum nicht jemanden lieben, den man auf der Straße trifft, für zehn Minuten, oder in einem Café? Das ist genau so wertvoll. Ich finde, wir sollten miteinander verhandeln dürfen, was will ich und was willst du, und dann sollte man eine Vereinbarung treffen.

Lieske: Sie sprechen in Ihrem Buch auch über die Zeit, in der Sie als junger Mann, als Teenager begonnen haben, Drogen zu nehmen. Was hat die Erfahrung, auf einem Trip zu sein, LSD zu nehmen, denn mit dem Rausch der Liebe gemeinsam?

Burnside: Zuerst würde ich da gerne eine Unterscheidung vornehmen zwischen Drogen wie Alkohol und Amphetaminen und Kokain einerseits und LSD andererseits. Ich nehme heute kein LSD mehr, aber als ich es noch genommen habe, war es für mich so etwas wie ein Sakrament. Wenn man LSD oder Meskalin oder Pilze unter günstigen Bedingungen konsumiert, dann öffnen sie unseren Geist. LSD kann die Pforten unser Wahrnehmung öffnen*, und das habe ich erfahren. Die Welt schien völlig verändert, und zugleich sehr vertraut, so wie sie für Kinder ist. Ich habe erkannt, dass die Welt nicht aus dunkler Materie besteht, sondern aus Energien, die vibrieren und pulsieren. Also, alles, was man gemeinhin über LSD sagt, hört sich wie ein Klischee an. Ich habe damals erfahren, dass Bedeutungen wie ‚gut‘ oder ‚schlecht‘, wie ‚schön‘ oder ‚hässlich‘ in diesem Zustand überwunden sind. Das sind alles sind nur gesellschaftliche Zuschreibungen. Es ist schwer das alles zu erklären, in meinem Buch sage ich ja auch, dass man einen LSD-Trip kaum beschreiben kann.

Lieske: Diese Erfahrung, John Burnside, was hat die zu tun mit ihrem Entschluss, Künstler zu werden?

Burnside: Also, das ist eine interessante Frage. Was man hier nicht vergessen sollte, ist, dass dazwischen viel Zeit vergangen ist. LSD habe ich genommen, als ich ungefähr 16 Jahre alt war, und ernsthaft mit dem Schreiben habe ich in meinen späten Zwanzigern begonnen, zunächst habe ich Lyrik geschrieben. In der Zwischenzeit war ich sehr damit beschäftigt, nicht Teil des Systems zu werden, wie ich das damals nannte. Es waren ja die 1970er Jahre, und wie viele junge Leute haben wir gehofft, dass es eine Art von Revolution geben würde. Wir waren alle sehr naiv und haben die Mühe unterschätzt, die mit dieser Art von gesellschaftlicher Umwälzung einhergeht. Mich hat die Vehemenz, mit der unsere Ideen unterdrückt wurden, sehr erschreckt. Ich bin dann als Reaktion darauf ausgestiegen aus der Gesellschaft, das ist wohl die beste Bezeichnung. Ich habe in Restaurants Teller gewaschen und als Gärtner gearbeitet. Dann habe ich erkannt, dass ich das nicht bis zum Ende meiner Tage machen würde, und habe mich nach etwas Lukrativerem umgesehen – ich kam auf Computer, die galten in den 1980er Jahren noch als harmlos! Das habe ich gute zehn Jahre lang gemacht, und dann war ich plötzlich doch in einer kapitalistischen Umgebung, plötzlich habe ich für Finanzunternehmen gearbeitet. Das war der Augenblick an dem ich angefangen habe, Gedichte zu schreiben. Also, man kann sagen, ich habe mit meiner Lyrik auf alles geantwortet, auf meine Experimente mit LSD, auf meine Flucht aus der Gesellschaft und auch auf die Jahre, in denen ich im Anzug und mit einer Aktentasche ins Büro gegangen bin. Die Lyrik hat mich in gewisser Weise am Leben erhalten.

Lieske: Sie sprechen ihn Ihrem Buch immer wieder von dem System, und von den Opfern, die dieses System verlangt, entweder in Form einer Ehe oder in Form eines angepassten Berufes als Softwareentwicklers. Ein Gedanke, der mich in diesem Zusammenhang sehr interssiert hat, war ihre Abschweifung, ihre Digression, über die jungen getöteten Frauen, über Iphigenie, über Ophelia. Sie verbinden den Gedanken an diese Frauen mit dem Teil, den Männer in sich abtöten müssen, um in der Welt da draußen zu bestehen. Können Sie vielleicht unseren Hörern nochmal erklären, wie dieser Gedankengang verläuft?

Burnside: Ja, also ich habe eine Sendung im Fernsehen gesehen, da war diese Nonne, und sie stellte Kunstwerke vor. Sie zeigte dieses eine Bild von Elisabeth Vigée-Lebrun. Man sieht eine junge Frau, eine russische Comtesse. Und sie erklärte anhand dieses Bildes, dass es einen Stamm in Afrika gibt, der glaubt, dass in jedem Mann ein weiblicher Zwilling lebt und in jeder Frau ein männlicher Zwilling. Und die Nonne sagte, wenn man sich das Portrait der schönen Russin mit ihren prächtigen Kleidern genau anschaut, dann kann man in ihrem Gesicht einen Bauernjungen entdecken. Ich habe diesen Gedanken weiter gedacht: Wie ist es um jene Männer bestellt, die gezwungen sind, ihren weiblichen Zwilling aufzugeben, ihn sogar zu opfern? Wissen Sie, kleine Jungen können sehr zartfühlend sein, romantisch und sogar mädchenhaft in vieler Hinsicht. In meiner Kultur ist das nicht erwünscht, wir mussten richtige Männer werden, und richtige Männer regen sich nicht auf, sie sind groß und stark und verlässlich und dürfen keine Schwäche zeigen. Da, wo ich herkomme, war das sogar notwendig, denn Männer mussten in Stahlwerken und Fabriken und Minen arbeiten, und alles was weicher war, wurde den Frauen überlassen. Also, Männer mussten diese John Wayne-Typen sein, und das war ich auch.Erst später ist mir aufgefallen, dass ich Teil einer Aufführung war, dass ich mir und anderen etwas vorspielte, dass ich einen Teil von mir selbst geopfert hatte. Dann kam die Theorie dazu: Wie viele Mythen und Geschichten und Lieder handeln von den Jünglingen, die etwas verloren haben, ihr zweites Ich. Es weiblich zu nennen trifft die Sache nicht ganz, es geht eher um eine Yin und Yang Sache, so eine Art von Ergänzung. Und wäre es nicht wunderbar, wenn alle Männer eines Morgens aufwachen würden, und sie hätten alles vergessen, müssten nicht den starken Mann spielen und Donald Trump plötzlich nicht mehr sagen würde: ‚Ich mache euch alle platt‘, sondern ‚okay, lasst uns darüber nochmal reden.‘ Ich glaube, den meisten Männern würde das sehr gefallen.

Lieske: John Burnside über einen wichtigen Aspekt seines Buches „I put a spell on you. Über Liebe und Magie.“ Da wir schon bei der Politik sind, John Burnside, ich habe hier einen schottischen Autor vor mir, der sich im Sommer sehr ausführlich in einer großen deutschen Tageszeitung über den Brexit geäußert hat, der sehr scharf abrechnet mit den Eliten seines Landes. Was sind ihre Vorwürfe an die politische Klasse in Großbritannien?

Burnside: Also, da gab es sehr viel zu lernen für mich. Vor fast zwei Jahren hat eine Zeitung angefragt und ich habe die Sache auf die leichte Schulter genommen und gesagt, liebe Freunde in Europa, bitte macht euch keinerlei Sorgen. Wir Briten sind manchmal etwas albern, aber don‘t worry , wir sind nicht dumm.Ich habe den Brexit anfangs wirklich für einen Scherz gehalten. Genau wie mit der Kandidatur von Donald Trump, ich hatte seine Wahl nicht für möglich gehalten. Boris Johnson und Cameron und all diese Leute, die den Brexit betreiben, sie sind alle in Eton zur Schule gegangen. Sie glauben ganz fest an die Überlegenheit unserer britischen Kultur. Denen sind die kleinen Leute völlig egal. Und diese ganze Vorstellung von britischer Souveränität ist vollkommen lächerlich. Welche Souveränität ist denn gemeint? Unser Land wird von einer kleinen Gruppe regiert, den Reichen und denen, die Land besitzen. Und wenn man sie fragt, worum geht es denn, dann sagen sie meistens: Um weniger Regulierung, um weniger Vorschriften. Darum geht es im Grunde, wenn man über den Brexit spricht.Hinzu kommt, dass Großbritannien nie verstanden hat, worum es ein Europa eigentlich geht, die Europäische Idee ist ihnen vollkommen fremd. Großbritannien hat in den letzten Kriegen gekämpft, aber das eigene Territorium ist nie besetzt worden. Ich wünschte fast, das wäre passiert, denn das ist für mich der Kern des europäischen Gedankens. Natürlich hat Europa seine Mängel, Lobbyisten in Brüssel, fragen Sie mich dazu lieber nichts. Aber der eigentliche Kern, die Philosophie von Europa, ist doch folgendes: Wenn wir zusammen arbeiten, sinkt die Wahrscheinlichkeit eines Krieges. Also, der Brexit ist tragisch, und die andere Tragödie ist die, dass es so aussieht, als würde Boris Johnson den Brexit-Deal zustande kriegen, und darüber werden sich sehr viele Briten maßlos aufregen.

*Anspielung auf Aldous Huxleys Buch „Doors of Perception“, Huxley hatte mit ähnlichen Ergebnissen mit Meskalin experimentiert.

John Burnside:  „Über Liebe und Magie – I Put a Spell on You“aus dem Englischen von Bernhard RobbenPenguin Verlag, München. 288 Seiten, 20, Euro.

Weimar 1942: Die Programmiererin Helene arbeitet im Nationalen Sicherheits-Amt und entwickelt dort Programme, mit deren Hilfe alle Bürger des Reichs Der Beitrag Andreas Eschbach: NSA – Nationales Sicherheits-Amt erschien zuerst auf Tintenhain.

via Andreas Eschbach: NSA – Nationales Sicherheits-Amt [Rezension] — Tintenhain

Klasse und Rasse

Zwei zornige Bücher über den wachsenden Rassismus in den USA und die Konflikte, mit denen schwarze Vordenker nach der Obama-Ära zu kämpfen haben
Black Lives Matter: Demonstranten solidarisierten sich 2015 in Chicago mit der Black-Lives-Matter-Bewegung.
Demonstranten solidarisierten sich 2015 in Chicago mit der Black-Lives-Matter-Bewegung. © Joshua Lott/Getty Images

Rückblicke aus kurzer Distanz sind oft entmutigend. Die Obama-Ära zum Beispiel ist nicht lang her. Aber wie aus einer anderen Welt wirkt die Hoffnung ihres Anfangs: My Country, ’Tis of Thee sang Aretha Franklin 2009 bei der Inauguration des ersten schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten, „Süßes Land der Freiheit“. Und wer an Amerika als Modell einer neuen Welt glaubte, konnte meinen, jetzt breche überall eine neue – man sagte damals: postrassistische – Zeit an. Die Weltwirtschaftskrise sei ein dringenderes Problem als alte Rassenkonflikte, beschwor Obama die Amerikaner.

Heute geht es der Weltwirtschaft ganz ordentlich. Obama ist nicht mehr Präsident. Und die Rassenkonflikte der USA liegen schmerzlicher zutage als zuvor. Man nennt sie jetzt manchmal euphemistisch „Identitätspolitik“. Der Streit darüber strahlt aus in die ganze Welt. In vielen Büchern versuchen amerikanische Autoren zu ergründen, was inzwischen geschehen ist. Davon erscheinen in diesem Frühjahr zwei auf Deutsch, die besonders bezeichnende Geschichten von Rasse und Klasse in Obamas Amerika erzählen: #BlackLivesMatter. Eine Geschichte vom Überleben, das Memoir von Patrisse Khan-Cullors, einer Initiatorin der gleichnamigen Protestbewegung. Und kommentierte Essays von Ta-Nehisi Coates aus den Obama-Jahren unter dem Titel We Were Eight Years in Power. An American Tragedy . (Die amerikanische Ausgabe erschien bereits im Oktober, die deutsche Übersetzung mit dem Untertitel Eine amerikanische Tragödie folgt im März).

Coates war als Journalist des Monatsmagazins The Atlantic der pointierteste Kritiker der ersten schwarzen Präsidentschaft. Deshalb wirkt es besonders glaubwürdig, wenn er sagt, dass die „Tragödie“ nicht erst eintrat, als auf den 44. ein 45. Präsident folgte, den Coates den „ersten weißen Präsidenten“ Amerikas nennt: „Es ist, als habe sich der Stamm der Weißen vereint, um zu zeigen: ›Wenn es sein kann, dass ein schwarzer Mann Präsident ist, kann auch irgendein weißer Mann – egal wie verkommen – Präsident sein.‹“

Ist Coates‘ Vorstellung von Freiheit neoliberal?

Coates verwendet in seinen Analysen einen Begriff von white supremacy, der nicht nur eine rassistische Ideologie bezeichnet, sondern im weitesten Sinne das latent schwelende Überlegenheitsgefühl der Weißen in einer von weißen Normen dominierten Gesellschaft. Diese Einstellung vieler Wähler habe Obama schon als aktiven Politiker in einen Konflikt gebracht: Von ihm sei erwartet worden, „nicht nur doppelt so gut, sondern auch halb so schwarz“ zu sein. Deshalb habe er sich nicht so für die Anliegen der Schwarzen einsetzen können, wie es etwa Coates erwartete. Der kritisiert allerdings „seinen“ Präsidenten, wie er ihn nennt, immer im Lichte des tragischen Verhängnisses: Weil die Selbstgerechtigkeit der Weißen nicht zu überwinden ist, musste daran selbst ein schwarzer Präsident scheitern, der das Beste wollte.

Und dabei verlor auch noch der Traum von der black power seine Unschuld: „Die Verbrechen des amerikanischen Staates gegen die eigene Bevölkerung zusammen mit den Bombardements im Jemen, in Afghanistan und dem Irak“, so Ta-Nehisi Coates, „geschahen jetzt mit der Erlaubnis eines schwarzen Mannes.“

Als einer der streitbarsten schwarzen Gesellschaftskritiker der Gegenwart in den USA ist Coates kürzlich selbst angegriffen worden, von dem bedeutenden schwarzen Intellektuellen Cornel West. Der versuchte in Sachen Kritik an schwarzer Anpassungsbereitschaft noch eins draufzusetzen, indem er auch Coates als Defätisten vor der weißen Mehrheit anprangerte: Er fetischisiere die white supremacy, die Vorherrschaft der Weißen, um zu verschleiern, wie schuldig man sich selbst gemacht habe, der „räuberischen kapitalistischen Praktiken, imperialistischer Politik (Krieg, Okkupation, Verhaftung und Mord) oder der Weigerung der schwarzen Elite, gegen Armut, Patriarchat oder Transsexuellen-Feindlichkeit zu kämpfen“. Coates’ Vorstellung von Freiheit sei neoliberal.

Da irrt West. Coates belegt doch aufwendig die materielle Realität struktureller Benachteiligung, entlarvt etwa die Mechanismen eines Immobilienmarktes, der den Vermögensaufbau schwarzer Familien behindert und Segregation als freies Marktgeschehen tarnt. Vielleicht könnte man Coates’ Bewunderung für die vorbildlichen Karrieren von Michelle und Barack Obama neoliberal nennen. Aber er schildert auch sehr differenziert, dass ihre jeweils besondere Herkunft es den beiden besser als anderen Afroamerikanern ermöglichte, selbstbewusst in den Zentren der weißen Macht zu agieren. Barack Obama, der mit seiner weißen Mutter und deren Eltern in Hawaii aufwuchs, also weit weg von den schwarzen Vierteln und Schulen des Mutterlandes, erzählt selbst immer wieder, wie er sich als Student bewusst in die Tradition des Bürgerrechtskampfes einschrieb, sein Erbe stärker aus freien Stücken wählte als andere.

Tatsächlich bedarf es aber zu solchen Erfolgsgeschichten der Gegenerzählungen. Eine solche hat jetzt Patrisse Khan-Cullors beigesteuert, mit ihrem Buch über ihre Kindheit und die Entstehung einer Bewegung, #BlackLivesMatter. Eine Geschichte vom Überleben. Da erfährt man, wie Selbstermächtigung aus Unfreiheit entsteht: „Als ich zwölf wurde“, erzählt Khan-Cullors, „lernte ich, dass mich meine Hautfarbe und Armut eher definierten als Klugheit, Neugier und Leistungsbereitschaft.

 

Der weiße Lynchmob zieht durchs Land – »Underground Railroad« von Colson Whitehead

Der Wohlstand der Vereinigten Staaten von Amerika fußt auf zwei großen Erbsünden: der Enteignung und Vertreibung der indogenen Ureinwohnern und der Sklaverei. Beides prägte und prägt das Bewusstsein der heutigen us-amerikanischen Gesellschaft unterschiedlich. Indifferenz gegenüber der historischen Last in der Mitte, Anerkennung der Schuld an einem, Ignoranz und Leugnung am anderen Ende der Skala.

Erst jüngst hat der Nationalisten-Aufmarsch von Charlottesville, der in einem Mordanschlag auf eine Gegendemonstrantin gipfelte, drastisch vor Augen geführt, wie tief Rassismus, der Wahn weißer Vorherrschaft und Nationalismus in breiten Teilen der Bevölkerung immer noch verankert sind. Die Wurzel dieses Hasses gründet in der Sklaverei, afroamerikanische US-Bürger bekommen dies bis heute zu spüren zu spüren. »The Land of the free« verspricht die Nationalhymne, aber die Freiheit der schwarzen Bevölkerung ist längst nicht die Freiheit der anderen.

Whitehead - Underground Railroad
Ehemalige Sklavenquartiere in Louisiana

Mit Underground Railroad hat Colson Whitehead einen bewegenden und schonungslosen Kommentar zu dieser explosiven, Charlottesville hat es gezeigt, Gemengelage abgegeben. Er schildert die abenteuerliche und lebensgefährliche Flucht der jungen Sklavin Cora durch die USA der 1850er Jahre. Ihre Odysse führt sie durch fünf Bundesstaaten. In jedem gelten andere Gesetze, lauern andere Gefahren, ist ihre vermeintliche Freiheit anderen Bedrohungungen ausgesetzt. Cora begegnen auf ihrer Reise sadistische Farmer, skrupellose Sklavenjäger, aufopfernde Helfer, aufgeklärte Bürgerrechtler und viele andere entflohene Sklaven, in deren Biographien Unterdrückung, Ausbeutung, Folter Vergewaltigung und Erniedrigung in allen Schattierungen eingezeichnet sind. Ihren unbedingten Freiheitswillen verdankt Cora nicht zuletzt der Großmutter, die noch in Afrika gelebt hat. Coras Mutter wiederum ließ sie bei ihrer Flucht als kleines Kind zurück. Underground Railroad ist auch ein Generationenroman, einer über starke Frauen und einer über Mütter und Töchter.

Whitehead hat sorgfältig recherchiert, aber die gesammelten Fakten nicht in einen einfachen historischen Roman gegossen. In dem Moment, in dem er die historische Underground Railroad (Wikipedia), einen Verbund von freiwilligen Helfern, die Sklaven auf geheimen Routen in die Nordstaaten der USA oder nach Kanada geleiteten, in eine tatsächliche Eisenbahn verwandelt und ihre Lokomotiven und Waggons in unterirdischen Tunneln von Station zu Station brausen läßt, begibt er sich in ein Reich der Phantastik. Das ist mehr als nur ein raffinierter Twist, die Eisenbahn unter Tage ist eine gewaltige Metapher. Sie setzt die Erzählung auf Schienen und verbindet in kürzester Zeit unterschiedliche Erlebnisräume.

Diese Abkehr vom Realismus ermöglicht gleichzeitig magische Momente und psychologische Tiefe, in denen Wahrheiten offener ausgesprochen werden können. Darüber hinaus ebnet dieser magisch=psychologische Realismus anderen, nicht ausschließlich in der Sklaverei verankerten Motiven der Unterdrückung den Weg in den Roman. In North Carolina ist Cora gezwungen, sich wochenlang auf einem Dachboden zu verstecken, durch ein Loch beobachtet sie den gegenüberliegenden Park, in dem das bunte Treiben am Tage abends von abscheulichen Lynch- und Strafaktionen gegen Schwarze abgelöst wird; ein offensichtlicher Verweis auf Anne Frank und den Holocaust. Dieser und andere Bezüge auf außeramerikanische, transkontinetale Motive, etwa auf »weiße Nigger«, Sinti und Roma, Juden und die Unterdrückung der Frauen, stärken die Relevanz des Romans. Er taugt zu weit mehr als einer us-amerikanische Rezeption, er liefert genügend Anregung zur Diskussion auch in Europa.

Whitehead - Underground Railroad

Whitehead: »Underground Railroad« | Pulitzer-Preis 2017, National Book Award 2016

Wie gesagt, Colson Whitehead verpflichtet sich der Wahrheit. Dazu gehört auch, die Angst der weißen Unterdrücker zu schildern. Was geschieht, wenn das unmenschliche Sklavensystems zusammenbricht? Auf ihrer Flucht lernt Cora schnell, warum ihr als Sklavin das Lesen und Schreiben strikt verwehrt wird. Bildung stärkt Freiheit und die Plantagenbesitzer fürchten nichts mehr als den Freiheitsdrang der Sklaven. Sollten sich die vielen gegen die wenigen erheben, dann wäre ihr kapitalistisch einträgliches System am Ende; ein System, das viele Profiteure kennt, vom Sklavenbesitzer über Kopfgeldjäger, Spediteure, Händler, Handwerker bis hin zum Enverbraucher billiger Baumwolle. So führt Angst zu weiterer, noch brutalerer Repression, nicht nur gegen die schwarzen Sklaven, sondern auch gegen alle, die etwa als Abolitionisten sich für deren Freiheit, vor allem in den nördlichen Staaten, stark machen.

Gleich zu Beginn des Romans endet eine fröhliche Geburtstagsfeier zwischen den Sklavenhütten in einer brutalen Demütigung und einer Hinrichtung. Underground Railroad meidet jegliche Südstaatenromantik. Keine mehrstimmigen Sklavengesänge, keine flammenden Sonnenuntergänge, keine Baumwollfeld-Pastoralen wie in Vom Winde verweht. Keine Klischees edelmütiger Sklaven wie in Roots, die unerschütterlich an den kommenden Sieg des Guten glauben und sich gegenseitig helfen. Whitehead ist einer Erzählhaltung ähnlich der Tarantinos in Django Unchained verpflichtet. Er schreckt auch vor Überzeichnung, Zuspitzung und Ironie nicht zurück. Doch immer behält Whitehead die Psychologie, die Glaubwürdigkeit seiner Figuren im Auge und zeigt präzise, wie Gewalt, aber auch Hoffnung, diese verändern. Weil Whitehead magischen Realismus und realistische Psychologie geschickt kombiniert, balanciert Underground Railroad gekonnt auf der Grenze zwischen emotional-mitreißend und distanziert-analysierend, ohne dabei je in Gefahr zu geraten abzustürzen.

Die im 19. Jahrhundert verankerte Geschichte der Sklavin Cora ist eine schmerzhaft aktuelle Lektüre. Der Lynchmob von früher, wie er im North-Carolina-Kapitel drastisch, wenn auch im Vergleich zum historischen North Carolina fiktional überspitzt, beschrieben wird, ist der weiße Mob der heute, ein Jahr nach Erscheinen des Buches in den USA, durch Charlottesville marschiert, gestützt und befeuert von »ihrem Präsidenten« Donald Trump. Das habe nichts mit Prophetie zu tun, beteuert Whitehead im Interview mit der Literarischen Welt, nur mit amerikanischer Geschichte.

Amerika besitzt noch keine Gedenkstätte für die Verfolgung der Ureinwohner, kein nationales Memorial der Sklaverei. Amerika hat sich den dunkelsten Kapiteln seiner Geschichte immer noch nicht ernsthaft gestellt. Paul Auster hat das mehrfach angemahnt, als er in Berlin seinen Roman 4321 vorgestellt hat. Darin gibt der Autor der Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung in den 1950er Jahren und dem Kampf um gleiche Bürgerrechte viel Raum; das Ergebnis ist, wie in Underground Railroad, eine ambitionierte und sehr literarische Auseinandersetzung mit der Sklaverei und ihren Folgen bis in die Gegenwart.

Für das von Auster vehement eingeforderte Memorial der Sklaverei hat Colson Whitehead mit seinem mehrfach preisgekrönten Roman einen wichtigen Baustein gestiftet. Möge er sorgfältig betrachtet und ausgiebig diskutiert werden und, das ist das wichtigste, mögen weitere Bausteine folgen.

 

Wenn die Realität nur noch aus Ängsten und Trieben zu bestehen scheint: Welche Aufgabe hat die Literatur im postfaktischen Zeitalter?
Literatur und Politik: Der Schriftsteller David Grossman
Der Schriftsteller David Grossman © Martin Bureau/Getty Images

In den vergangenen Wochen habe ich wieder einmal in Aischylos’ Drama Agamemnon gelesen und mich in die herzzerreißenden Worte der Seherin Kassandra vertieft, deren Prophezeiungen – infolge eines Fluchs des Apollo – niemand Glauben schenkte. Ich las von der Einsamkeit und dem Leid der Seherin, als mir ein Satz von Klytämnestra entgegensprang, der satanisch manipulativen Gattin des Agamemnon. Nachdem sie gerade ihren Mann und seine Geliebte Kassandra kaltblütig erdolcht hat, öffnet sie die Palasttüren und erklärt den Wartenden: „Vieles habe ich gesagt, wie es der Augenblick gebot. Jetzt aber behaupte ich ohne Scham das Gegenteil.“

Augenblick mal, dachte ich, das kommt dir bekannt vor! Großer Gott! Donald Trump sollte dem Aischylos Tantiemen zahlen; Klytämnestra hat ihm die Formel für seinen Wahlkampf geliefert. Und wirklich, es scheint, dass die Wahl von Herrn Trump die Weltsicht, die keine eindeutige Wahrheit anerkennt, auf die Spitze getrieben, wenn nicht sogar an die Macht gebracht hat. Es gibt Fakten, und es gibt alternative Fakten, so Trump-Beraterin Kellyanne Conway, die damit George Orwell zitierte.

Anders gesagt: Es gibt das Image, und es gibt das Eigentliche, und zwischen den beiden besteht keinerlei Zusammenhang. Es gibt den ehrlichen Journalismus, das ist der, der „unseren Mann unterstützt“, und es gibt die Fake-News der Journalisten, die ihn kritisieren. Eigene Ankündigungen und Versprechen darf man neuerdings bestreiten und verneinen, selbst wenn sie aufgezeichnet worden sind. Dazu fällt mir ein anderer Seher ein, nämlich der biblische Zornprophet Jesaja. Er schleuderte der Korruption und Machtgier den Satz entgegen: „Weh, die da heißen Böses gut und Gutes bös, aus Dunkel machen Licht und Licht zu Dunkel, aus bitter machen süß und süß zu bitter!“ (Jesaja 5,20).

Der amerikanische Präsident Donald Trump begreift die „Wahrheit“ nicht als eine Reihe von Fakten, sondern eher als Bündel von Gefühlen, Wünschen, Ängsten, Vorurteilen und Trieben. Die „Realität“ ist das, was ich jetzt gerade denke oder will. Aber wer weiß, ob ich nicht im nächsten Moment schon einer anderen Variante der Realität den Vorzug gebe?

Wenn ein Programmierer von Videospielen so etwas äußert, dann entspringt das seiner Berufswelt, und wir können es akzeptieren oder nicht. Doch wenn ein solcher Satz die Denk- und Vorgehensweise des amerikanischen Präsidenten, des mächtigsten und einflussreichsten Mannes der Welt, charakterisiert, dann hat die Welt ein Problem – nicht nur ein konzeptionelles, sondern ein existenzielles. Ein existenzielles, weil etwas in ihr geschieht: Wir beobachten nicht nur einen weiteren Regierungswechsel in den USA, wir beobachten, dass die unerlässliche Balance zwischen der Vernunft und den Trieben erschüttert wird, zwischen einer demokratischen Weltsicht und persönlichen Begierden. Zwischen dem Gesetz und irrationalen Impulsen. Das ist der eigentliche Regierungswechsel, den wir erleben.

Seit der Wahl von Donald Trump fühlen sich immer mehr Menschen an den verschiedensten Orten in dieser neuen Welt fremd und bedroht. Es ist etwas an dem Mann Donald Trump, das Kräfte freisetzt, die das demokratische System seit Hunderten von Jahren durch Gesetzgebung, Erziehung und die Verinnerlichung von Werten wie Gleichheit, Freiheit und Pluralismus zu verfeinern, auszugleichen und einzudämmen versucht hat.

Weil Donald Trump nun einmal der mächtigste Mann der Erde ist – in den letzten Wochen wirkte die ganze Welt wie eine One-Man-Show –, adoptieren andere seine Formulierungen. Damit legitimiert er in etlichen Ländern den Fremdenhass, den Hass auf Minderheiten, den Hass an sich als Grundlage der Politik. Trump legitimiert die Demütigung der Frau, die Missachtung anderer Religionen, die Ausgrenzung aller, die nicht „zu unserem Team“ gehören.

In diesem Sinn kann jeder, der nicht zu den Bewunderern des Herrn Trump zählt, die fatale Erfahrung der Kassandra machen. Plötzlich verstehen wir, was es bedeutet, wenn die Welt um einen herum verrücktspielt; wenn die Realität in Fluss gerät, wenn sie ungewiss und ohne greifbare Wahrheiten scheint, wenn sie immer mehr einer traumhaften oder, wie in diesem Fall, einer albtraumhaften Wirklichkeit gleicht. Wie leicht stellt sich in einer solchen Situation der Verdacht ein, man selbst sei der Verrückte. Tatsächlich aber müssen Menschen sich in ihrem Land und in der Welt zu Hause fühlen. Sie brauchen das Gefühl der Verlässlichkeit und der Zugehörigkeit. Sie brauchen das Gefühl, die sie umgebende Wirklichkeit entschlüsseln und ihre Zukunft im Hier und Jetzt planen und gestalten zu können.

Was vermag die Literatur in einer solchen Welt zu leisten? Sehr wenig und sehr viel.

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Kommt Qualität von quälen?

Christoph Ransmayr ist einer der Größten unserer Gegenwartsliteratur und wurde für seine Bücher vielstimmig gepriesen – und war doch lange gefangen in einer katastrophalen Depression. Jetzt hat er sich aus seinem selbst errichteten Kerker herausgeschrieben und präsentiert seinen neuen Meisterroman „Cox oder Der Lauf der Zeit“. Ich habe ihn in Wien besucht.

„Einige Monate“, antwortet Christoph Ransmayr.

Genauer gesagt: Ransmayr lässt diese Antwort auf meine Frage, wie lange er denn gearbeitet habe am ersten Satz seines neuen Romans, nebenbei einfließen irgendwo halb versteckt in seinen amüsanten kleinen Bericht über seine Suche nach dem Anfang, nach dem Tor, das mich ins Innere meines Romans führt“.

Einige Monate. Für einen Satz.

Mit so etwas muss man rechnen bei Ransmayr. Er ist ein literarischer Perfektionist. Zeit spielt für ihn bei seiner Arbeit keine Rolle. Er „verschwindet“, sagt er, in seinen Geschichten. Er lebt in ihnen. Sie sind sein Zuhause. Warum also sollte er hetzen beim Schreiben, wenn doch die Geschichten seine eigentliche Heimat sind? Ransmayr ist der Beethoven der deutschen Gegenwartsliteratur, der jede seiner Arbeiten mit unbeirrbarer Kraft in Richtung Vollendung vorantreibt. Vier große Romane hat er so geschrieben in über 30 Jahren. Jetzt ist der fünfte fertig.

Cox heißt der Held der Geschichte, er ist Schöpfer der präzisesten und prächtigsten Uhren des 18. Jahrhunderts und folgt einer Einladung, die ihn aus England an den Hof von Peking führt: „Cox erreichte das chinesische Festland unter schlaffen Segeln am Morgen jenes Oktobertages, an dem Qiánlóng, der mächtigste Mann der Welt und Kaiser von China, siebenundzwanzig Staatsbeamten und Wertpapierhändlern die Nasen abschneiden ließ.“

Ein Auftakt-Akkord, den man so rasch nicht vergisst. Natürlich ist auch Cox ein Perfektionist und natürlich darf man Ransmayrs Roman über ihn getrost lesen als Geschichte über den Stolz, die Not und den Irrsinn eines jeden Künstlers, der seine Arbeit in Richtung Vollendung vorantreibt. Cox baut für den Kaiser eine Uhr, die dem Perpetuum Mobile, also einer physikalischen Unmöglichkeit, so nahe kommt, wie man ihm auf Erden nur nahe kommen kann. Und baut sich dabei zugleich selbst eine Falle, der er lebend zu entkommen nur noch wenig Aussicht hat.

Zeit spielt für Ransmayr bei seiner Arbeit keine Rolle, in seiner Arbeit aber ist die Zeit ein beherrschendes Thema: Wie nur wenige andere vermag er in seinen Romanen das langsame Versiegen der Zeit für den Wartenden zu beschwören, das Rasen der Zeit für den Geängstigten oder auch den Stillstand der Zeit in Sekunden des Glücks. Es muss also niemand überrascht sein, wenn er jetzt einen Uhrmacher zur Hauptfigur macht, der mit seinen hochartifiziellen  Chronographen sogar diesen Spielarten des subjektiven Zeiterlebens gerecht zu werden versucht.

Wir sitzen im Restaurant Schnattl in Wiens 8. Bezirk. Wirtin und Wirt begrüßen Ransmayr ebenso herzlich wie vertraut. Auf der Mittagskarte steht österreichische Küche, zwei Gänge, großartig gekocht, aber doch sehr günstig. Ich erinnere ihn an seinen ersten Roman, in der Polarforscher das allmähliche Einfrieren ihres Zeitgefühls oder an seinen zweiten Roman, in dem Seeleute das atemlose Voranstürmen der Zeit während eines Orkans erleben, und Ransmayr kann die entsprechenden Stellen aus dem Kopf seitenlang zitieren. Er arbeitet derart besessen an seinen Romanen, dass er auch Jahrzehnte später noch ganze Kapitel auswendig beherrscht.

Ein Leidenschaft, die für die Leser herrliche Folgen zeitigt: Ransmayrs Romane sind durchkomponiert wie Symphonien. In jedem Satz, in jedem Absatz spürt man Musikalität und Rhythmus.

Ein Leidenschaft, die für den Autor lange fürchterliche Folgen zeitigte: Er schrieb, feilte, änderte, verbesserte bis er, wie er erzählt, „in einem katastrophalen Ausmaß der Depression verfallen war“. Der jeweils nächste Roman wurde für ihn buchstäblich zur Existenzfrage: „Wenn es mir nicht gelang, diesen Roman in der Form zu schreiben, die ich mir vorgenommen hatte, dann wäre ich kein Schriftsteller. Und könnte ich kein Schriftseller sein, dann wollte ich gar nicht mehr sein, denn ich hatte keine anderen Pläne für mich.“

Das Schreiben nahm Züge der Selbstqual, der Selbstzerstörung an. Er schrieb nicht einfach nur den nächsten Absatz, was bei seinen Qualitätsansprüchen schwer genug ist. Nein, er schrieb jeden Absatz in bis zu zwanzig Versionen neu, um alle vorstellbaren Varianten zu erproben, und um sich gegen jede mögliche Kritik unangreifbar zu machen. Bis er begriff, dass der Wunsch unangreifbar zu sein, „keine Haltung ist, mit der man schreiben sollte, jedenfalls nicht, wenn man überleben möchte.“

Was ihm den Ausweg aus der selbstgemauerten Sackgasse gewiesen hat? Ransmayr nennt es: „Strampeln.“ Es gab keinen klar abgezirkelten Weg in die Freiheit, sondern nur verzweifelte Fluchtversuche in alle Richtungen: „Strampeln, eben.“ Heute kann er, wenn erst einmal ein makelloser Absatz auf dem Papier steht, zu sich selbst sagen: „Lass es gut sein“ – und muss nicht mehr zwanghaft dutzende von Varianten entwerfen.

Der Intensität seiner Geschichten, der Schönheit seiner Sprache hat das nicht geschadet. Im Gegenteil, vielleicht ist seine Prosa heute sogar noch etwas überraschender, leuchtender als zuvor. 2012 erschien, wie zum Zeichen, dass er erste tastende Schritte aus dem durch die eigenen Besessenheit errichteten Kerker machte, ein fabelhafter Band mit Reise-Erzählungen von ihm. Wenn er heute, nur vier Jahre später, einen neuen Roman beendet hat, so ist das nach seinen Maßstäben ein geradezu atemberaubendes Produktionstempo.

Cox, sein Romanheld, entpuppte sich dabei als unerwarteter Helfer. Denn, sagt Ransmayr, als wie nach dem Essen noch beim Kaffee sitzen, „es sind nicht nur die Autoren, die ihre Figuren verändern. Auch die Figuren verändern manchmal die Autoren.“ Und Cox, dieser Perfektionist, der selbst den Hinterhalt legt, in den er zu gehen droht, sei vor allem eines gewesen: die perfekte Mahnung.

Jetzt habe ich auch den Film, “Ein sensibles Portrait des Schriftstellers Stefan Zweigs in seinen Jahren im Exil”, wie im Programmheft steht, gesehen, in dem Josef Hader die Hauptrolle spielt, womit ich meinen Stefan Zweig Schwerpunkt abschließen kann. Das heißt das Literaturcafe, das wie viele Blogs Werbung für den Film machte, der seit zweiten Juni […]

via Vor der Morgenröte — Literaturgefluester