M Train – Patti Smith

M Train trägt Erinnerungen als Untertitel und verweigert sich jeder Genreeinordnung: das Buch gleicht einem Gedankenstrom, voller Erinnerungsfetzen, voll von Kaffee, Büchern, Reisen, Liebe, Trauer und Krimiserien. Ich habe selten zuvor ein schöneres Buch gelesen, das von nichts erzählt.

Patti Smith

Es ist nicht so leicht, über nichts zu schreiben: Ich kritzele es immer wieder mit einem Stück roter Kreide auf eine weiße Wand.

Patti Smith ist nicht nur eine gefeierte Musikerin, sondern auch eine bekannte Schriftstellerin: M Train ist nach Just Kids und Traumsammlerin bereits ihre dritte Veröffentlichung. In M Train erzählt Patti Smith von ihren Lebenserinnerungen: sie erzählt von ihrem Ehemann, ihren Kindern, den Büchern, die sie liest und von ihrer Leidenschaft für Krimiserien. Sie erzählt von Dingen, die ihr wichtig gewesen sind, die sie jedoch verloren hat. Sie erzählt von ihren Lieblingsschriftstellern: Murakami, Wittgenstein, Bolano, Bulgakow. Ich begleite Patti Smith auf unzähligen Reisen, gehe mit ihr immer wieder in Cafés, trinke dabei Kaffee um Kaffee und besuche die Gräber seelenverwandter Schriftsteller. Wir stehen am Grab von Sylvia Plath, bei Arthur Rimbaud und Frida Kahlo. Patti Smith nimmt mich mit in ihre Träume, ich begleite sie auf ihre Gedankenreisen.

Wenn ich mich unterwegs verirrte, benutze ich einen Kompass, den ich auf einem Weg in einem nassen Laubhaufen gefunden hatte. Der Kompass war alt und verrostet, aber er funktionierte noch und verband die Erde mit den Sternen. Er sagte mir, wo ich stand und in welcher Richtung Westen lag, aber nicht, wohin ich ging und was ich wert war.

Es ist nicht so leicht, über nichts zu schreiben: so lautet der erste Satz von M Train. Ob es leicht ist, oder nicht – Patti Smith tut es auf unnachahmliche Art und Weise: ihre Gedanken sind in Fetzen gerissen, ihre Erinnerungen sind lose und experimentell, doch gleichzeitig auch poetisch, wunderschön und berührend. Unterbrochen wird der Text immer wieder von stimmungsvollen Fotografien, die alle in schwarz-weiß gehalten sind. Patti Smith schreibt nicht nur über nichts, sondern setzt alle diese Bestandteile zu einem einzigartigen Kunstwerk zusammen: ich habe M Train als Ode an das Leben, das Lesen und die Liebe gelesen. Voll von kleinen Anekdoten, Gedankensprüngen und Erinnerungen.

Zu Hause, das ist ein Schreibtisch. Die Verschmelzung eines Traums. Zu Hause, das sind die Katzen, meine Bücher und meine unerledigte Arbeit. All die verlorenen Dinge, die mich vielleicht eines Tages rufen, die Gesichter meiner Kinder, die mich eines Tages rufen werden. Vielleicht können wir Träumereien nicht lebendig machen oder staubige Reste zurückholen, aber wir können den Traum selbst einfangen und ihn heil und ganz zurückbringen.

M Train ist teils ein Erinnerungsbuch, teils ein Traumbuch – gewidmet all dem, was nicht mehr da ist und schmerzlich vermisst wird. Patti Smith trauert nicht nur um Gegenstände, die sie verlegt und verliert, sondern auch um ihren verstorbenen Mann und ihren Bruder, den sie ebenfalls verloren hat. Vielleicht ist genau das, das wichtigste Geschenk des Buches: die Erkenntnis, das wir unser ganzes Leben lang von Dingen Abschied nehmen müssen, die wir lieben, dass die Erinnerungen und Fußstapfen, die diese in uns hinterlassen, aber für immer ein Teil von uns sein können.

Patti Smith legt mit M Train ein wunderschönes und poetisches Buch vor, das sowohl zart als auch schrecklich schmerzhaft ist. Ich glaube, dass das Buch vielleicht nicht für jeden Leser und jede Leserin etwas ist: dem einen oder anderen mag es zu verkopft oder gar zu esoterisch sein. Für mich war M Train eine philosophische Entdeckungsreise, auf der ich ganz viel über das Leben gelernt habe – über die Trauer, den Glauben und die Kreativität. Für mich ist M Train nicht nur ein Buch, sondern ein Herzensbuch, das ich wohl genau zur richtigen Zeit gelesen habe – ich würde mir wünschen, dass ganz viele von euch ebenfalls dieses Buch für sich entdecken werden.

 

„Alle die verlorenen Dinge, die mich rufen“

Patti Smith geht in ihrem neuen Buch „M Train“ auf Reisen. Die führen von New York bis nach Japan und Marokko, berühren Träume und Erinnerungen und tauchen tief ein in die Vergangenheit.
Patti Smith beim Filmfestival in Venedig
Patti Smith beim Filmfestival in Venedig © Vittorio Zunino Celotto/Getty Images

Sepia. Farbton. Bezeichnet ein reduziertes Farbspiel auf Fotografien, solchen, die älter sind als 60 Jahre. Das Schwarze verliert an Schärfe, Buntes wird weicher und heller, alles tendiert zum milden Braun. Sepia ist auch ein Ton, der im Betrachter ausgelöst werden kann durch die Betrachtung alter Bilder, es wäre damit ein innerer Sound, gefärbt in Moll. Das neue Buch von Patti Smith kommt in Sepia daher, man sieht auf dem Cover das Foto einer Frau. Sie sitzt an einem Tisch, und vor ihr stehen eine Tasse und ein großer Fotoapparat, die linke Hand liegt schwer davor. Sie trägt ein Herrenjackett. Der Kopf mit der Mütze ist auf die rechte Hand gestützt, die Augen gehen nach links. Patti Smith hängt ihren Gedanken nach, etwa so, wie man einem Zug nachblickt, der aus einem Bahnhof abfährt. Das Buch heißt denn auch M Train. M wie mind, wie Geist oder Gedanke.

Patti. Patricia Lee Smith. Geboren 1949 in South Jersey. Viele würden sagen: ein Rockstar! Andere sagen einfach: Patti. Weil Patti zu ihrem Leben gehört, Patti Smith ist eine der großen Frauen ihrer Generation, seit sie 1975 Horses herausbrachte. Auch der atemlos gehechelte Sound dieses Rockalbums war ja mit einem Bild verbunden, dem Bild auf dem Cover, es hat sich eingebrannt in die Retina einer Ära. Eine bleiche Frau in einer schmalen, schwarzen Hose, dazu ein weißes Männeroberhemd. Alles scharf geschnittenes Schwarz-Weiß. Es ist ein Bild von Robert Mapplethorpe, der ihr Gefährte war und sie als androgyne Schönheit ablichtete, auf Horses ist sie gestylt wie der französische Dichter Jean Genet auf einem Bild von Brassaï. Das Foto auf Horses war eine intellektuelle Bildgeste, die von Downtown Manhattan, wo Patti und Robert lebten, in das Paris der Dichter herübergriff, dorthin, wo Patti sich mental zu Hause fühlte, mit dieser Geste verlieh sie Punk und Rock den Glamour. Patti Smith hat Punk und Rock mit auf die Welt gebracht und war noch im Getümmel vor dem CBGB auf der Bowery, als der Club, in dem das Herz des Rock ’n’ Roll zu schlagen begonnen hatte, 2006 schließen musste, Patti sang dem CBGB sein Lullaby, und sie singt immer noch, im letzten Sommer sogar in der Lüneburger Heide, Open Air. Patti Smith ist jetzt 69 Jahre alt.

Im Buch fängt sie ihre Leser ein mit Gedankenfäden, die sie weit auswirft wie ein Fischer seine Leine. Man sieht sie im ’ino, ihrem Lieblingscafé im Village in New York. Sie hat sich aus einem verstörenden Traum in dieses Café geflüchtet, sitzt also im ’ino, von wo aus sie in einem Tagtraum rüber ins Caffe Dante in der Macdougal Street driftet und von dort ins Nerval, das nur ein imaginäres Café ist, eines, das sie selbst gern geführt hätte, und plötzlich ist man in einem Café in Französisch-Guayana. Am Nachbartisch sitzt Pattis Mann Fred Sonic Smith, der Vater ihrer beiden Kinder, der 1994 starb, aber hier diskutiert er mit einem Polizeioffizier über einen Typen, der bei einer Kontrolle im Kofferraum ihres Taxis gefunden wurde.

So geht das hin und her, in diesem Patti-Sound, einerseits fließend, aber dann auch in dem berühmten Stakkato, alles von Brigitte Jakobeit auf Deutsch wundervoll abgemischt. Man rast mit Pattis Gedanken um die Welt. Gerade noch blickte man mit ihr in der Macdougal Street auf The Kettle of Fish, was die Lieblingskneipe von Jack Kerouac war, nun schaut man auf haarige Hoden mit Flügeln, die Gefangene in ihrem Gefängnis in Französisch-Guayana in die Wand geritzt haben. Jean Genet träumte davon, mit diesen Kerlen eingekerkert zu sein, weshalb Patti mit Fred nach Saint-Laurent-du-Maroni reiste, um dort Steine auszugraben, die sie dann später in Genets Grab in Tanger versenken wird, also gegen Ende des Buches, so weit ist der Radius gespannt.

Es ist ein Buch aus Träumen, inneren Bildern, schweifenden Erinnerungen. Diese Texte sind gegengeschnitten mit Fotografien, man sieht etwa den Schachtisch, den Patti im Keller eines Hotels in Reykjavík fotografierte und an dem Bobby Fischer und Boris Spasski sich 1972 duellierten. Oder einen ausgestopften Bären, der bei der Familie Tolstoi die Visitenkarten in Empfang nahm. Einen Stuhl von Bolaño. Es sind alte Polaroids, die wirken, als hätten die Jahre die Energie aus ihnen herausgemolken. Es gibt auch Fotografien, die erst wenige Monate jung sind, aber schon aussehen, als sei die Gegenwart aus ihnen entwichen. Da ist so etwas wie ein Sog in das Verschwinden. Sie versuche, so schreibt Patti Smith auf den ersten Seiten des Buches, über das Nichts zu schreiben, tatsächlich schreibt sie auch an gegen das Nichts.

Die Bilder liegen im Text wie aufgereihte Perlen, sie nennt es ihren Polaroid-Rosenkranz. Ein erstes Bild habe sie aufgenommen, als sie 26 war, am Grab des französischen Dichters Arthur Rimbaud, so früh war sie also da, die Besessenheit von den großen Dichtern. Nun macht sie Bilder am Grab der Dichterin Sylvia Plath, zu dem sie drei Mal pilgerte. Auch in ihrem Memoire über das Leben mit Robert Mapplethorpe, Just Kids (2010), hatte es Bilder gegeben, aber nur wenige. Doch bereits in ihrem nicht einmal 100 Seiten langen Erinnerungsbuch über die Kindheit, in Traumsammlerin (1992), ist das Prinzip des Ineinanders von Text und Bild schon entwickelt. Bild und Text bilden dort zwei benachbarte Ebenen. Nun verwebt sie Textebene und Bilder, reale und imaginierte, zu einem pulsierenden Ganzen. In Berlin etwa sehen wir sie im Restaurant Pasternak bei einem Kaffee unter einem Foto von Michail Bulgakow. Dann springen die Gedanken zurück in ihre Küche in New York, wo sie sich den Kaffee in einem Topf braut, den sie von ihrer Mutter geerbt hat, die nun vor ihrem inneren Auge auftaucht, es ist ein Bild der Mutter in der Familienküche in South Jersey, von dort aus denkt sich Patti zurück in ihre New Yorker Wohnung, wo sie ihren Kaffee trinkt und ein Foto von Albert Camus betrachtet, das neben dem Lichtschalter hängt.

Alles ist immer wie gleichzeitig da, das Vergangene, das Gegenwärtige, das Imaginierte. Alles verwoben in einen stetigen Gedankenstrom. Der Text verbeugt sich vor einem Muster, das Virginia Woolf in ihren Romanen entwickelte, die auch schon lange tot ist, wie viele tot sind, die Pattis Leben mit Ideen oder Gedichten oder ihrer Liebe berührt haben. Sie schildert sich als Überlebende. Sie fragt sich spöttisch, ob die New York Public Library geneigt sein könnte, ihr als Hommage an ihr Alter den Stock zu überreichen, der Virginia Woolf als Stütze diente, bis sie sich im Fluss Ouse ertränkte.

Das mag jetzt so klingen, als sei es ein trauriges Buch, aber das trifft es nicht. Es wird zu viel Kaffee getrunken, um Kopfhängen auszulösen. In London kommt es nach nächtelangem Abdriften in Krimi-Serien zu einem Frühstück mit geräuchertem Hering. Die Stimmung des Buches beschreibt sie selbst als Melancholie, die sie in ihrer Hand wiege wie einen kleinen Planeten, über den der Schatten eines unglaublichen Blaus falle.

Von den Schrecken, die den Planeten bedrohen, gibt der Wirbelsturm Sandy auch ihr eine Kostprobe. Kaum hat Patti Smith ein Holzhaus am Strand von Rockaway erworben, fegt Sandy über den schmalen Inselstreifen hinweg. Da ist ein Bedrohtsein. Ihr Lieblingsmantel geht verloren, auch ihr Lieblingsmurakami. Auf den letzten Seiten stellt sie sich vor, wie die Dinge nach ihr suchen. Sie hat eine Erscheinung von Fred, der neben ihr herläuft mit einer großen Uhr, die keine Zeiger hat. Aber Patti wäre nicht Patti Smith, wenn sie nicht entschlossen wäre, auch das sofort aufzuschreiben.

Jean-Philippe Toussaint: Im Fußball steckt die ganze Welt

Seine Liebe zu diesem Spiel ist die eines Kinds. Nun hat der Essayist Jean-Philippe Toussaint eine wunderbare Huldigung an den Fußball geschrieben.
Der Rasen, der die Welt bedeutet
Der Rasen, der die Welt bedeutet © Paul Gilham/Getty Images

Dieses Fußballbuch endet mit Goethe. Als sich Jean-Philippe Toussaint im Sommer 2014 vom Halbfinale Argentinien gegen Holland von der Arbeit am neuen Bestseller abhalten lässt, wüten über seinem Wohnsitz Korsika Stürme, Regen und Blitze. Erst verliert sein Internet die Verbindung, dann sein Radio den Strom. Nach nervöser Suche findet er im Keller ein Transistorradio mit Batteriebetrieb, gerade rechtzeitig, um sich am entscheidenden argentinischen Elfmeter zu beglücken.

Ergriffen tritt er auf den Balkon und blickt auf das Unwetter. Eine Anspielung auf eine Szene in Die Leiden des jungen Werther. Dort stehen Lotte und der jugendliche Held am Fenster und betrachten ein Frühlingsgewitter. Sie sagt nur ein Wort: Klopstock, der verehrte Hymnendichter. Dann gehen den beiden unglücklich Verliebten die Augen über. Toussaint lässt sich vom Naturereignis Fußball rühren und bewegen. Seine Frau, noch eine profane Abweichung von Goethe, liegt im Bett und fragt: „Ist der Fußball vorbei?“

Das ist die typische Ironie des gefeierten belgischen Autors Toussaint. Doch die Huldigung des Fußballs in seinem neuen Büchlein Fußball ist ihm ernst. In biografischen Begebenheiten schildert er in Miniaturen seine tiefe Liebe zu diesem Spiel. Es ist eine kindhafte Liebe, ratlos und unergründlich. Es ist auch die Welt- und Selbstbeschreibung eines willentlich naiven Liebhabers über das, was der Fußball mit ihm macht, wohin er ihn treibt, was er dank ihm erkennt.

Der belgische Autor und Regisseur Toussaint wurde durch Romane wie Sich lieben oder Fliehen einem internationalen Leserkreis bekannt. Nach dem Berliner WM-Finale 2006 widmete er Zinédine Zidanes Kopfstoß gegen den italienischen Bösewicht Marco Materazzi ein ganzes, kleines Buch (Zidanes Melancholie). Mit Zidane, dem Kreativen, fühlt der Schriftsteller mit. „Unfähig, sich mit einem weiteren Tor zu verewigen, verewigte er sich in unserer Erinnerung.“

„Ich schaue nicht mehr mit den Augen des Kindes“, schreibt Toussaint leitmotivisch nun in seinem Essay, „aber ich nehme immer noch mit der unschuldigen Unbefangenheit der Kindheit den Zauber des Fußballs wahr.“ Der Fußball sei der „zarte Faden“, der ihn mit der Welt verbinde.

Wie kindlich staunend sich Toussaint den Fußball erschließt, zeigt das Kapitel über die Weltmeisterschaft 2006. Schon Stunden vor dem Spiel Schweden gegen Paraguay spaziert er um das Berliner Olympiastadion, wo Hitlers Größenwahn seine Spuren bis heute hinterlässt. Als er auf Fans mit australischen Mützen, Mexikotrikots, Hollandschals trifft, das globale multinationale Fußballvolk also, wendet er sich ab von den Nazibauten.

Schweigende Schweden

Einem Mann im peruanischen Trikot möchte er am liebsten die Hände schütteln, um ihm seine Sympathie zu versichern. Nach dem Siegtor fällt ihm ein schweigender Schwede um den Hals, „wie ich nur selten im Leben umarmt wurde“. Dabei, schreibt Toussaint, sei er für Paraguay gewesen.

Ein Schlüsselerlebnis seiner Sozialisation als Fan ist für ihn die Weltmeisterschaft 2002, die er in Japan verbringt. Toussaints Blick auf Land und Leute ist so fremd wie liebevoll. Würde sein Buch verfilmt, müsste er von Bill Murray gespielt werden. Er vergnügt sich an hysterischen Fans, tauscht mit Tausenden Japanern Lächeln aus, bringt in der U-Bahn ein verängstigtes Mädchen zum Lachen. Es muss ein glücklicher, sinngesättigter Monat gewesen sein.

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Christoph Ransmayr über das Erzählen: Eine Stimme und ein Ohr

Christoph Ransmayr7. Dezember 2015, 10:24

Das Wort vermag den, der es schreibt oder liest nicht nur über Meere und Gebirge, sondern über die Zeit selbst zu erheben – bleibt es doch zumindest lesbar, wenn er selbst bereits seit Jahren oder Jahrtausenden wieder verstummt ist

Im Wort Ozean erheben sich keine Stürme, stampfen keine Schiffe und wird auch kein Mensch je in Seenot geraten. Im Wort Wüste ist noch keiner verdurstet und im Wort Abgrund kein Unglücklicher jemals zu Tode gestürzt. Und dennoch beschwören diese und alle Worte und Sätze, in denen greifbare Wirklichkeit in Sprache verwandelt wird, in unserem Denken und Fühlen etwas, das an die Glücksmöglichkeiten und Katastrophen der realen Welt rührt und in uns Bilder von einer Deutlichkeit aufsteigen lässt, als stünden wir tatsächlich vor der anrollenden Brandung, vor einem geliebten Menschen oder dem Abgrund. Und für den Zauber dieser Verwandlung bedarf es nicht mehr als jener Kraft, die jeder Mensch in sich selbst trägt und ihm ermöglicht, alles, was sich überhaupt sagen lässt oder noch unausgesprochen auf seine Formulierung wartet, zur Sprache zu bringen.

Dass ein Mensch in Worten weder ertrinken noch durch die unzähligen Arten der Grausamkeit zugrunde gehen kann, schenkt dem Zauber der Verwandlung von etwas in Sprache zunächst eine seltsame Friedlichkeit, so, als ob Bücher und jede Schrift uns einen besseren Schutz bieten könnten als jede Waffe oder Panzerung. Wie von einem Kokon umgeben, treten wir aus dem Inneren von Märchen oder anderen, frühesten Erzählungen unserer Kindheit hinaus in die donnernde, anrollende Welt, um dort zu jagen, zu lieben, Städte zu bauen – oder Kriege zu führen. Denn Worte, auch das erfahren wir bereits im frühesten Umgang mit Sprache, Worte sind wie die Menschen, die sie aussprechen, schreiben oder lesen, nicht nur gut. Sie folgen manchmal auch der Pervertierung Luzifers, des Lichtbringers, der aus dem Paradies in die Finsternis stürzte und im Fallen vom Engel zum Satan wurde.

Wer sein Leben der oft begeisternden, oft erschöpfenden Arbeit an der Sprache verschrieben hat, der wird am Anfang aber lange schweigen, lange bloß betrachten und stillhalten müssen, um den Stimmen der Menschen, denen der Tiere oder dem bloßen Geräusch des Windes im Gestrüpp der Antennen zu lauschen. Und er wird, lange bevor er nach eigenen Wortschöpfungen und Sätzen sucht, Fragen stellen und Fragen beantworten, Fragen etwa wie jene, wie kalt und unbewegt die Meerestiefe vier und fünftausend Meter unter dem Kiel eines Frachters ist, der auf einer transatlantischen Route im Sturm liegt. Fragen nach den Namen der Leuchtfische, die durch das submarine Dunkel schweben. Fragen, was das denn ist – Dunkelheit? Und was Trauer, Hoffnung oder ein Abschied? Wie ist es, wenn einer im Lärm der Welt taub wird? Was macht einen Menschen blind? Und was gewalttätig …?

Wort, Klang, Bild

Wenn einer erzählen will, muss er solche und ähnliche und unzählige andere Fragen zu beantworten versuchen und muss doch nach jeder Antwort immer neue Fragen an sich und die Welt richten, bis er sich endlich erheben und etwas so Einfaches und Ungeheuerliches wie „Es war … Es war einmal“ sagen kann. Aber selbst wenn er auf jede Nachforschung verzichtet und sagt: Mir genügt das Meinige, ich spreche nur von mir, ich spreche nur vom Allervertrautesten, nur von dem, was ich allein und am besten weiß – selbst dann erscheint einem Erzähler die Welt noch einmal anders und neu -, muss er sich doch auch der einfachsten Dinge seiner Geschichte erst vergewissern. Wovon immer er spricht – in seiner Geschichte muss ein Erzähler alle Welt noch einmal und immer wieder erschaffen und darf dabei nicht mehr voraussetzen als die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer, seiner Leser, nichts als die Stille, in der er endlich zu sprechen, zu erzählen, zu schreiben beginnt.

Erzählen besteht immer aus einer Stimme und einem Ohr, aus einem Bild und einem Auge, das alle Wirklichkeit ins Bewusstsein, in Herz und Gedächtnis überführt. Dabei ruht jede Silbe eingebettet in die Stille des ungeheuren, uns umgebenden Raumes, in das Unsagbare, und jedes Bild eingebettet in die Finsternis. Gerade dadurch erscheinen Wort, Klang, Bild vielleicht ja als die größten Kostbarkeiten der menschlichen Existenz. Schließlich vermag das Wort den, der es schreibt oder liest, nicht nur über Meere und Gebirge, sondern über die Zeit selbst zu erheben – bleibt es doch zumindest lesbar, wenn er selbst bereits seit Jahren oder Jahrtausenden wieder verstummt ist.

Wenn uns in diesen Tagen blindwütige, religiös verseuchte Berserker den Schluss aufzwingen, die Abwehr ihrer Mordgier und Zerstörungswut wäre am ehesten durch noch mehr Gewalt, noch mehr Panzerung und Überwachung zu erwarten, werden Erinnerungen an die Wurzeln eines Hasses wach, von denen manche tief in unsere eigene, europäische, Geschichte hinabreichen. Jahrhundertelang hat Europa nahe und fernste Kulturen überrannt, ausgebeutet oder zerstört und damit den eigenen Wohlstand begründet. Spanische und portugiesische und niederländische und englische und französische und deutsche und belgische und italienische und immer weitere und noch mehr Kolonialherren haben im Rest der Welt willkürlich Grenzen durch uralte Einheiten gezogen, haben Landesbewohner vertrieben, versklavt, verstümmelt oder erschlagen und mit Handelsstationen und Minen immer auch Massengräber eröffnet.

Wenn sich nun aus verwüsteten und zerrissenen Landstrichen und entsprechend verwüsteten Regionen des Bewusstseins Killer auf den Weg machen, um den Hinrichtungsbefehl eines Predigers zu befolgen oder einen barbarischen Missionsauftrag mit automatischen Waffen und Sprengstoffgürteln zu erfüllen, ist es, als ob sie sich an europäischen Eroberern vergangener Jahrhunderte ein Beispiel nehmen wollten, an Helden der Kolonialgeschichte, die ganze Kontinente terrorisierten, um ihre Bewohner als Lieferanten des europäischen Reichtums gefügig zu machen oder zu vernichten. Unzählige, immer noch offene Rechnungen, stehen so in Bilanzen, die nicht Jahre und Jahrzehnte, sondern Jahrhunderte überspannen. Allein die zehn Millionen Toten, um nur eines, ein einziges Beispiel zu nennen, allein die zehn Millionen Toten, die etwa ein europäischer Massenmörder wie der belgische König Leopold II. im Kongo hinterlassen hat, könnten unter dem Einfluss entsprechender Prediger wohl drei und vier Generationen von Rächern auf den Weg nach Europa bringen.

Aber gegen Menschen, die in ihrer rasenden Wut oder bloßen Dummheit den eigenen Körper in eine Waffe verwandeln und selbst um den Preis des eigenen Lebens nichts mehr wollen als töten, werden auch in Zukunft die meis- ten Verteidigungstechniken wirkungslos bleiben. Natürlich werden die Angegriffenen sich in Notwehr aller ihrer Mittel bedienen, aber die einzige dauerhafte, wenn auch niederschmetternd langsame und deshalb oft zu spät kommende Hilfe kann aus keiner anderen Quelle gespeist werden als jener der Sprache, des Wortes. Nicht die Sensen und Dreschflegel der Bauernkriege haben am Ende die feudale Grausamkeit des Mittelalters zerschlagen, sondern die Gedanken der Aufklärung; das Wort.

Nur eine Gesellschaft, die selbst unter der Bedrohung durch eine Armee von fundamentalistisch religiösen Massenmördern nicht bloß ihre Waffen, sondern auch das Wort wieder einsetzt in seine Dogmen sprengende Kraft, wird sich am Ende – vielleicht – wenn nicht als unbesiegbar, so doch als die stärkere erweisen. Und der Erzähler und Literat, der dieser Gesellschaft beisteht, indem er als Romancier, Essayist, Dramatiker oder in den Strophen seiner Poesie zumindest eine Vorstellung vom wahren Glück und Leiden des Einzelnen ermöglicht, wird zwar niemals ein Prophet sein, aber zumindest ein Helfer. (Christoph Ransmayr, Album, 5.12.2015)

Christoph Ransmayr, geb. 1954, ist österreichischer Schriftsteller und wurde soeben mit dem Prix Jean Monnet de Littérature Européenne und dem Prix du Meilleur livre étranger ausgezeichnet.

  • Ransmayr: "Gegen Menschen, die in ihrer rasenden Wut oder  bloßen Dummheit den eigenen Körper in eine Waffe verwandeln und selbst um den Preis des eigenen Lebens nichts mehr wollen  als töten, werden auch in Zukunft die meisten  Verteidigungstechniken wirkungslos bleiben."

    foto: heribert corn

    Ransmayr: „Gegen Menschen, die in ihrer rasenden Wut oder bloßen Dummheit den eigenen Körper in eine Waffe verwandeln und selbst um den Preis des eigenen Lebens nichts mehr wollen als töten, werden auch in Zukunft die meisten Verteidigungstechniken wirkungslos bleiben.“

Orhan Pamuk über eine Begegnung mit Anselm Kiefer.

Orhan Pamuk und Anselm Kiefer Im Pinselstrich lesen

Im Werk von Anselm Kiefer sind Bücher und Texte heilig. Mich erinnert ihr Anblick stets an meinen ersten Berufswunsch: Maler. Ein Atelierbesuch, ein Abendessen, ein Anliegen: ein Gastbeitrag.

05.04.2015, von Orhan Pamuk

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© Orhan Pamuk Vergrößern Ein Selfie: Künstler und Schriftsteller im Atelier

Manche jetzt ausgestellten Bilder hatte ich schon bei einem Besuch von Anselm Kiefers Atelier in der Nähe von Paris gesehen. Was ich nun empfinde, wenn ich sie wieder betrachte, vermischt sich mit meinen Erinnerungen an jenen Tag im Mai 2014. Seit jeher gehört das Malen für mich zur Vorstellung von dem glücklichen Leben, das ich eines Tages einmal führen würde.

Zwischen meinem siebten und meinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr wollte ich Maler werden und verbrachte in meiner Jugend mit dem Zeichnen und Malen sehr viel Zeit. Von meiner Familie wurde ich darin unterstützt. Man stellte mir sogar eine mit alten Möbeln vollgestellte Wohnung als Atelier zur Verfügung. Ja, eines Tages würde ich ein berühmter Maler sein.

Zwanzig Jahre später hatte dieser Traum sich nicht erfüllt. Ich schrieb stattdessen in Istanbul Romane. Aber immer noch kündete mir die Malerei von einem später einmal eintreffenden Lebensglück.

Der Wunsch, alles auf einmal auszudrücken

Als ich in den achtziger Jahren die herrlichen Werke eines so bedeutenden Malers wie Anselm Kiefer entdeckte, empfand ich immer wieder Neid und Reue bei dem Gedanken an ein Leben, das ich eigentlich hätte leben sollen und doch verpasst hatte. Zugleich keimte in mir die Einsicht, dass ich diese Art von glücklichem Leben gar nicht hätte haben können. Wie ich aus den großen, starken Bildern Kiefers ersah, bestand Malerglück nicht nur, wie in Kindheit und Jugend gedacht, aus purer Vorstellung und Träumerei. In die geheimnisvolle Gleichung, die man Kunst nennt, spielen auch ein energischer Pinselstrich und das kraftvolle Werken eines ganzen Malerkörpers hinein. Mit meinem eigenen Körper, meinen Schultern, Armen und Händen hätte ich solche Bilder nicht hervorbringen können. Die Vitalität, die aus Anselm Kiefers Bildern sprach, half mir ein wenig, diese bittere Wahrheit zu akzeptieren.

Große Anselm-Kiefer Ausstellung © José Alvarez/Editions du Regard Vergrößern Blick in Anselm Kiefers früheres Atelier in Barjac

Dennoch verfolgte mich noch über Jahre hinweg wie eine Sünde, die man zu verdrängen sucht, das vage Ansinnen, einmal jemand wie Anselm Kiefer zu werden oder wenigstens ein ordentlicher Maler. Zu dieser beglückenden Unruhe trug auch bei, dass Kiefer außer seinen dramatischen Monumentalwerken besonders in der Frühphase auch kleine Hefte mit fotografischen Werken angefertigt hatte, die ihn als einen ganz besonderen Künstler auswiesen, mit dem sich insbesondere auch Schriftsteller und Bücherliebhaber anfreunden konnten. Heftreihen wie „Heroische Sinnbilder“, „Ausbrennen des Landkreises Buchen“ oder „Märkischer Sand“ hatten schon früh den Gedanken in mir geweckt, dass der Wunsch, alles auf einmal auszudrücken, den Menschen unweigerlich zum Buch hinführt.

Heilig durch ihre Beschaffenheit

In Kiefers Werk sind Bücher als solche mindestens ebenso heilig wie die darin enthaltenen Texte. Dieses Gefühl entsteht aus der Art, wie einem bei Kiefer Buchstaben und Worte die Heideggersche „Dinglichkeit“ von Texten vor Augen führen. Jene ersten Bücher sowie die vielen weiteren, die Kiefer sein ganzes Leben lang produziert hat, erinnern genauso wie die später aus Blei- und anderen Metallplatten gefertigten großformatigen Bücherskulpturen den Betrachter daran, dass die Heiligkeit eines Buches nicht nur aus dem Text, sondern auch aus der äußeren Beschaffenheit erwachsen kann. In einem Schriftsteller wie mir erwecken Anselm Kiefers papierene und metallene Bücher sogar den Anschein, als seien Bücher sogar gerade wegen dieser Beschaffenheit heilig.

Kiefers Bücher regen dazu an, sich nicht nur dem zu widmen, was Bücher darstellen und bedeuten, sondern auch zu sehen, wie ihre verschiedenen Strukturen zueinander in Beziehung stehen. So wie man nicht von einzelnen Ziegeln verzaubert wird, sondern von der Wand, die daraus entsteht. Nun hat Kiefer zwar ein Faible für Ziegelmauern und Ziegeleien und bildet auch einzelne Ziegel ab, doch beim Betrachten seiner Bilder nimmt man nicht die Ziegel an sich wahr, ja nicht einmal die ganze Wand als solche, sondern eben gerade jene strukturelle Beschaffenheit. Ob manche Bilder Kiefers nun gerade deswegen so schön sind oder wir vielmehr aus ihrer Schönheit heraus zu solchen Gedankengänge angeregt werden, vermag ich meist nicht zu entscheiden.

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T.C. Boyle: „Wie viel Mist haben wir heute!“ | ZEIT ONLINE.

„Wie viel Mist haben wir heute!“

Der Held in T.C. Boyles neuem Roman „Hart auf hart“ radikalisiert sich in der Natur. Liegt in der Wildnis noch das größte Versprechen von Freiheit? Interview: 

T.C. Boyle: Kultur, T.C. Boyle, Henry David Thoreau, Google, Ernst Jünger, Natur, Wildnis, Demokratie, Kinderkrankheit, Opium, USA, Alaska

Der Schriftsteller T.C. Boyle  |  © Jamieson Fry

ZEIT ONLINE: Mister Boyle, Ihr aktueller Roman Hart auf hart erzählt von einem jungen Mann, Adam, den es zurück in die Wälder zieht. Er ist gewalttätig. Er ist frustriert von unserer modernen westlichen Gesellschaft.

T.C. Boyle: Ja. Aber wir alle sind frustriert von der Gesellschaft. Jeder auf seine Weise. Wir sind frustriert von Regeln. Gehen Sie in einen deutschen Park! Das erste, was Sie sehen, sind unglaublich viele Regeln. Spucken verboten, Hunde verboten, von Brücken springen verboten, Spaß haben verboten, Atmen verboten. Das ist doch schrecklich. Andererseits: Gäb’s keine Regeln, wäre da nicht mal ein Park! Da wäre nur Dreck. Adam, dieser verstörte junge Mann, will sich zurückziehen in die Natur und nur von ihr leben. Er will sein selbst angebautes Opium verkaufen. Er will unabhängig sein.

ZEIT ONLINE: Gut, aber er läuft mit einem Sturmgewehr durch die Gegend.

Boyle: Er ist schizophren, und er leidet unter Wahnvorstellungen. Jeden, den Adam für einen Feind hält, nennt er Chinese.

ZEIT ONLINE: Ironischerweise schießt Adam mit einem chinesischen Sturmgewehr.

Boyle: Mein Roman basiert ja auf einer wahren Begebenheit. Im Jahr 2011 gab es einen Mann in Fort Bragg, der das getan hat, was Adam in meinem Buch tut. Ich habe den dicken Polizeireport und all die Details und die Ironie der Dinge stehen da drin. Aber um daraus Kunst zu machen, müssen diese Details gären und eine Struktur bekommen. Wenn Sie diese Parallelen und die Ironie sehen, freut mich das. Aber es ist die reale Welt, über die ich schreibe.

Video: Literatur - T.C. Boyle stellt sich Leserfragen

Er bezeichnet sich selbst als arroganten Punk und Besserwisser. Der Autor T.C. Boyle beantwortet Fragen von ZEIT ONLINE-Lesern und erklärt, was Schreiben zur Sucht macht. Video kommentieren

ZEIT ONLINE: In Ihrem Buch ist die Natur ein Ort der Radikalisierung. In der deutschen Literatur denkt man da sofort an Ernst Jünger, an den Waldgang, an eine Welt außerhalb der Ordnung.

Boyle: Das ist eine interessante Verbindung. Aber auch in den USA war der Wald, die Natur im Allgemeinen, lange Zeit ein Ort für die Unzufriedenen. Als das Land noch unerschlossen war, konnten die wirklich unzufriedenen, seltsamen Menschen einfach in die nächste Wildnis gehen. Danach gingen Menschen, die zurück zur Natur wollten, einfach nach Alaska. Das war die letzte Grenze in Hippie-Zeiten. Jetzt ist sogar Alaska nicht mehr die letzte Grenze. Nun gibt es keine Wildnis mehr.

ZEIT ONLINE: Natur als Ort des Ungehorsams. Da ist ja auch Henry David Thoreau nicht weit, der in eine Hütte zog und den Staat Staat sein ließ.

Boyle: Thoreau wird meistens als der Eremit der Wälder angesehen. Aber was die wenigsten dabei erwähnen: Er verbrachte einige Zeit im Gefängnis, weil er seine Steuern nicht zahlen wollte. Vergangenen Sommer bekam ich den Henry David Thoreau Preis und die Gastgeber nahmen mich mit zum Nachbau von Thoreaus Hütte am Walden Pond. Es war ungefähr drei Quadratmeter groß. Alles drin, was man brauchte! Ein Ofen, ein Bett, ein Stuhl, das war’s. Aber Thoreau lebte ja nur wenige Meilen von einem Ort entfernt. Er konnte also jeden Tag ins Café gehen, über Politik reden und dann ging er zurück in den Wald.

ZEIT ONLINE: Ihre Figur Adam würde wohl sagen, Thoreau war ein Heuchler.

Boyle: Ja, vermutlich!

Berlinale: Andreas Dresens „Als wir träumten“.

Endstation Sehnsuchtsblick

Andreas Dresen übersetzt Clemens Meyers illusionslosen Milieuroman „Als wir träumten“ in einzigartige, berückende Bilder. Und setzt damit Maßstäbe für das deutsche Kino.

10.02.2015, von Andreas Platthaus

Berlinale 2015 - Als wir träumten

© dpa Vergrößern So schön bunt nur im Kino: Ruby O. Fee und Merlin Rose in Andreas Dresens Romanverfilmung „Als wir träumten“

Es gibt eine Szene in Andreas Dresens Wettbewerbsbeitrag „Als wir träumten“, die man nie mehr vergisst. Nicht weil die illegale Diskothek in einem abgewrackten Industrieareal von Leipzig so großartig in Szene gesetzt wird; auch nicht, weil hier Dresens junge Darsteller eine geradezu unheimliche Intensität der Blicke und Gestik entfalten; und gleichfalls nicht, weil hier ein stillgestellter Moment intensivster Konfrontation in einem sonst auf größtes Tempo hin inszenierten Film erreicht ist – sondern weil sich plötzlich Bild, Handlung und Tonspur wechselseitig zu widersprechen scheinen. Immer noch blitzt das Stroboskop der Diskothek, obwohl die Musik längst schweigt, und so werden die nun unbewegten Akteure, die eben noch tanzten, im Sekundentakt aus dem Dunkel ins gleißende Licht und wieder zurück gerissen. Aktion ohne jede Reaktion. Und da diese Szene dauert, sehr lange sogar, wird irgendwann das einzige Geräusch, das ihr unterliegt, unerträglich: ein metallisches Klackern. Der Klang des nimmermüden Stroboskop.

So etwas hat man noch nie gehört. Und auch noch nie gesehen. Und da auf der Leinwand kein Wort fällt, das die resultierende Beklemmung aufheben oder von ihr ablenken könnte, werden auch die nichtdeutschsprachigen Zuschauer in der gestrigen Berlinale-Wettbewerbspremiere von Dresens Film sie nie wieder vergessen.

© Pandora Film Verleih Vergrößern Kinotrailer: „Als wir träumten“

Man hat so etwas auch noch nie gelesen, obwohl „Als wir träumten“ die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Clemens Meyer aus dem Jahr 2006 ist. Zwar kommt der Streit zwischen den Betreibern der illegalen Diskothek und einer Gruppe Skinheads auch im Buch vor; doch dort ist er kein zentrales Element, weil Meyer sich auf die verbindende Kraft des Diskothekenbetriebs für seine fünf jungen Helden konzentriert. Zwar erzählt der Roman auch vom Scheitern dieses Projekts, aber er tut es poetologisch notwendig als gleichsam immer schon vorausgesetztes Ende jener Zeit, in der die Protagonisten träumten. Dresen dagegen will uns mit der Entwicklung der Handlung überraschen, und, weiß Gott, das gelingt ihm. Dazu mussten er und sein Drehbuchautor, der mittlerweile dreiundachtzigjährige Defa-Veteran Wolfgang Kohlhaase (es ist bereits die dritte gemeinsame Produktion der beiden nach „Sommer vorm Balkon“ und „Whisky mit Wodka“), sich von Meyers „Als wir träumten“ gar nicht lösen.

As We Were Dreaming - 65th Berlin Film Festival © dpa Vergrößern „Als wir träumten“: Stene mit Merlin Rose, Marcel Heupermann und Julius Nitschkoff

Man kann sich kaum eine textgetreuere Kinoadaption dieses Romans vorstellen, was der Film auch gleich zu Beginn klarmacht, wenn die Off-Erzählstimme von Daniel Lenz (genannt „Dani“) in einer spät im Film noch einmal wortwörtlich wiederholten Formulierung aus dem ersten Kapitel des Buchs sagt: „Es gibt keine Nacht, in der ich nicht von allem träume, und ständig tanzen die Erinnerungen.“ Aber das Erinnerungskaleidoskop, das hier angesprochen ist, wird im Film anders begriffen als in der Vorlage. Meyers Kunst liegt im ständigen Wechsel der Zeitebenen, bis hin zu unmittelbaren Übergängen von einer in die andere im selben Abschnitt. Das kann ein Film nicht leisten, gerade weil der Schnitt es scheinbar so einfach machte. Doch ein Schnitt bleibt immer sichtbar, während man von Meyers Text auf eine Weise in die Irre geführt wird, was dem labyrinthischen Leipzig der unmittelbaren Nachwendezeit, von dem er erzählt, genau entspricht: Als Leser sind wir genauso getrieben und verloren wie die Protagonisten.

Michel Houellebecq: Moral ist der falsche Maßstab | ZEIT ONLINE.

Wenn Satire alles darf, warum nicht auch Michel Houellebecq? Die Diskussionen um seinen neuen Roman sind bisweilen hanebüchen und zeugen von einem Missverständnis. von Nils Markwardt

Houellebecq Soumission

Michel Houellebecqs neuer Roman in einer Pariser Buchhandlung  |  © Jacky Naegelen/Reuters

Schon Tage bevor Michel Houellebecqs neuer Roman Unterwerfung (Soumission) in den französischen Buchhandlungen auslag, war der Skandal perfekt. Der nicht einmal 300 Seiten starke Text, der das Szenario einer islamischen Machtübernahme in Frankreich entwirft, galt als literarischer Brandsatz. Laurent Joffrin, der Chefredakteur der linksliberalen Tageszeitung Libération, konstatierte etwa, das Erscheinen von Unterwerfung sei „nicht nur ein literarisches Ereignis, das nur mit ästhetischen Kriterien bewertet werden kann. Nolens volens hat dieser Roman eindeutig eine politische Resonanz. (…) Er markiert in der Geistesgeschichte das Datum, an dem die Ideen der extremen Rechten – wieder – in die hohe Literatur eingedrungen sind.“

Der Journalist Sylvain Bourmeau, der kürzlich ein ausführliches Interview mit Houellebecq für das amerikanische Literaturmagazin Paris Review führte, bescheinigte dem Autor „literarischen Selbstmord“. Hierzulande, wo Unterwerfung am kommenden Freitag erscheint, schaffte es das Buch sogar in die Tagesthemen, in denen man dem Roman attestierte, das „Schreckensszenario“ einer islamischen Herrschaft auszubuchstabieren. Die taz sekundierte schließlich, dass das Buch „islamophobe Ressentiments“ schüre und es Pegida-Demonstranten „als Horrorerlebnis zur Bettlektüre“ gereichen würde.

Unter normalen Umständen hätten sich die Wogen nun womöglich relativ schnell wieder geglättet, da jeder, der den Roman gelesen hat, eigentlich zur Einsicht gelangen müsste, dass solch schrille Einschätzungen allzu abenteuerlich sind und Houellebecq mit Sicherheit keine Ideen der extremen Rechten proklamiert.

Video: Michel Houellebecq - Mein Buch stellt keinen bedrohlichen Islam dar

Noch vor dem Terroranschlag in Paris hat der französische Autor Michel Houellebecq sein neues Buch „Unterwerfung“ verteidigt. Der Roman entwirft eine politische Fiktion für das Jahr 2022, in der Frankreich einen muslimischen Präsidenten hat. Video kommentieren

Momentan herrschen jedoch keine normalen Umstände. Denn am 7. Januar, jenem Tag, als Unterwerfung in Frankreich veröffentlicht wurde, ereignete sich das Attentat auf das Pariser Satiremagazin Charlie Hebdo, welches insgesamt zwölf Menschen das Leben kostete; zwei Tage später die Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt, während der weitere vier Menschen starben.

Von nun an war die Rezeption von Unterwerfung untrennbar an diese islamistisch motivierten Anschläge gekettet. Nicht zuletzt auch deshalb, weil das Satiremagazin in seiner aktuellen Ausgabe eine Houellebecq-Karikatur auf dem Cover hatte. Dementsprechend schrieb etwa die FAZ: „Die Schüsse auf die Redaktion von Charlie Hebdo galten auch Houellebecq.“ Im Stern verstieg man sich sogar zu dem hanebüchenen Satz: „Für alles, was jetzt noch kommt, trägt auch er seinen Teil Verantwortung.“

Hysterische Reaktionen

Houellebecq selbst, der mit dem Wirtschaftsjournalisten Bernard Maris auch einen Freund bei dem Anschlag auf Charlie Hebdo verlor, zeigte sich schockiert, sagte alle weiteren Termine ab und hält sich nun an einem unbekannten Ort auf. Die Debatte um sein Buch läuft weiter. Diskutiert wird dabei nicht zuletzt weiterhin die Frage, wie moralisch oder unmoralisch es nun sei, das literarische Szenario einer europäischen Islamisierung zu entwerfen? Und bisweilen sind es dabei paradoxerweise die gleichen Leute, die sich zwar lautstark mit Charlie Hebdo solidarisieren und die Satirefreiheit verteidigen, über Houellebecq jedoch mindestens die Nase rümpfen.

Angesichts der Pariser Attentate müssen derzeit nun leider nicht wenige Menschen an ein paar Selbstverständlichkeiten erinnert werden. Zuvorderst daran, dass Islam nicht mit Islamismus zu verwechseln ist und Gläubige, gleich welcher Religion, nicht im Kollektivsingular existieren. Ob mancher hysterischer Reaktionen auf Unterwerfung muss man indes ebenso ins Gedächtnis rufen, dass ein Roman nicht wie ein Sachbuch, ein politisches Manifest oder eine Bedienungsanleitung zu lesen ist. Und das bedeutet zunächst vor allem, dass Moral kein primäres Kriterium der Literaturkritik sein kann. Denn wer Romane an moralischen Maßstäben misst, kastriert die Kunst.

Video: Michel Houellebecqs Unterwerfung - Eine tragische Satire gegen Europa in seiner jetzigen Verfassung

In seinem Zukunftsroman „Unterwerfung“ erzählt Michel Houellebecq von einem islamischen Frankreich im Jahr 2022. Ist dieses vieldiskutierte Buch nach den schrecklichen Anschlägen von Paris eine Warnutopie? Video kommentieren

Das heißt nun freilich nicht, dass das Label Literatur etwa die Verbreitung von Rassismus und Fremdenhass rechtfertigen könnte. Es heißt aber sehr wohl, dass Kunst radikal amoralisch sein darf. Das zeigt sich beispielhaft an den Büchern des Marquis de Sade.

Denn das Werk dieses Wüterichs der Weltliteratur, der anlässlich seines 200. Todestags jüngst noch einmal ausgiebig von den Feuilletons gewürdigt wurde, offenbart sich ja gewissermaßen als eine riesige, gleichermaßen monströse wie sexistische Gewaltfantasie. Und zwar derart, dass selbst hartgesottene Horrorfans bei der Lektüre von Die 120 Tage von Sodom oder Justine vermutlich kräftig schlucken müssen. Gleichwohl attestierte beispielsweise Simone de Beauvoir dem Marquis jenen ungeheuren Verdienst, „die Wahrheit des Menschen gegen jeden Abwehrmechanismus der Abstraktion und Entfremdung proklamiert zu haben.“ Ähnlich urteilte Albert Camus, der in de Sades „enormer Kriegsmaschine“ die „Argumente der Freidenker“ versammelt sah. Um genau dies zu erkennen – und die Texte de Sades nicht als, sagen wir, Apologie eines pornografischen Proto-Faschismus misszuverstehen –, bedarf es jedoch jenes genauen Umgangs mit Literatur, den man sich auch in der aktuellen Debatte um Unterwerfung vermehrt wünschen würde.

  1. Seite 1 Moral ist der falsche Maßstab
  2. Seite 2 Die Differenzierung ist nicht immer einfach
  3. Seite 3 Es geht überhaupt nicht um den Islam

„KDD“-Erfinder Orkun Ertener und sein Krimidebüt „Lebt“ – DIE WELT.

Jüdische Moslems zwischen allen Stühlen

Orkun Ertener ist einer unserer besten Drehbuchschreiber. Er hat „KDD“ erfunden, ist Grimmepreisträger. Jetzt gibt er sein Romandebüt mit einem mitreißenden Krimi. Beim Kölsch erzählt er, wieso.

Von Stellv. Ressortleiter Feuilleton
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Bevor jetzt jemand denkt, Kriminalliteratur sei ein unkompliziertes Geschäft. Es ist ein grauer Tag in Köln, an dem wir Orkun Ertener treffen. Und alles geht ein bisschen durcheinander. Ein grüner Schriftzug leuchtet durch den Regen. Bismarckstraße, Belgisches Viertel, eine vom nahen Medienpark zu einer Art Kölner Altona hochgejazzten Ecke der Domstadt.

„Alcazar“ steht in Grün über der Tür der Eckkneipe, die mal die legendäre alte Frau Schmitz gegründet hat. Der hat man im Krieg das Haus zerschossen. Bis zum ersten Stock hat sie’s wieder aufgebaut, dann kam eine Kölner Architektenlegende und hämmerte einen Kasten drüber, einen Kasten… Aber das ist jetzt wirklich eine andere Geschichte.

Drinnen jedenfalls, in der alten Frau Schmitz ihrem altem Laden, der jetzt auch schon seit Menschengedenken „Alcazar“ heißt, was irgendwie mal an französische Lebensart erinnern sollte, drinnen gibt es Frankfurter Grüne Sauce und Curry und ein obergäriges blondes Bier, das Symbol für freiheitliches Denken sein soll. Böll-Kölsch.

Ein Kriminalroman über (beinahe) alles

Alles hängt irgendwie mit allem zusammen. Bei zweimal Rindfleisch-Salat und zweimal Freiheitsbier geht es um die Qualen des deutschen Fernsehens und eine untergegangene jüdische Kultur, um die Freiheit des Menschen und die Mühsal des Schreibens von Romanen, um Türken, Osmanen, Doppelexistenzen, Religionen, Mord und Totschlag, das absolut Böse und Istanbul und Marburg.

Und eben um Orkun Ertener, Grimmepreisträger, Drehbuchgott, ein Mann, der so herzlich unkompliziert, uneitel und ruhig mitten mit Getöse des „Alcazar“ sitzt, als wäre er sein Buddha.

Das ist jetzt ungefähr so despektierlich, wie zu sagen, wer Krimis schaut im deutschen Fernsehen müsste Ertener vom Abspann kennen, von den Abspännen einiger der großartigsten Serien und der wenigen wirklich großartigen Münsteraner „Tatorte“. Obwohl das alles wiederum ein bisschen stimmt.

„KDD“ kann gegen Dänen und Briten bestehen

Es scheint erstens tatsächlich alles rund und ruhig an und um Orkun Ertener. Und dass er mit „KDD“ die einzige gescheite Kriminalserie neben Dominik Grafs „Im Angesicht des Verbrechens“ geschrieben hat, lässt sich nicht leugnen. Es gab Freitagabende, sie sind nicht so lang her, da liefen gleich zwei Serien („Die Chefin“ und „Letzte Spur Berlin“) hintereinander, die sich seiner Fantasie verdanken.

Aber deswegen sitzen wir hier jetzt nicht neben der Durchreiche an den herrlichen Tischchen. Oder doch. Ertener, 1966 in Istanbul geboren, mit vier Jahren nach Deutschland gekommen, in Rüsselsheim aufgewachsen, Student in Marburg, jetzt um die Ecke sesshaft, ist nämlich neben André Georgi und Sascha Arango gleich der dritte herausragende deutsche Drehbuchschreiber, der in diesem Jahr seinem bisherigen Brotberuf untreu wurde und einen Thriller geschrieben hat.

Drei Thriller von drei Drehbuchgöttern, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. „Tribunal“ heißt der von Georgi und führt vom Den Haager Gerichtshof für Menschenrechte mitten hinein in die klaffenden Wunden Ex-Jugoslawiens. „Die Lüge und andere Wahrheiten“ heißt der von Arango und ist das Beste, was Highsmithonians seit dem Ableben ihres Idols zu lesen sich wünschen konnten.

Mord- und Moralgeschichte

„Lebt“ heißt der von Ertener und er zeigt, zu was das Genre in der Lage ist, wenn man seine Grenzen nur weit genug auszutesten wagt. Erteners Debüt ist ein philosophischer Exkurs, Geschichtsunterricht, Mord- und Moralgeschichte und das blutige Drama mehrerer an und in sich selbst verzweifelnder Figuren.

Und das Produkt einer jahrzehntelangen Sehnsucht und langsam gewachsener Frustration. Schriftsteller, sagt Ertener, habe er eigentlich immer werden wollen. Literarisch geschrieben hat er immer.

Selbst die Exposés seiner Fernsehsachen sind ihm immer zu Erzählungen geworden. Weil er da schon versucht hat, einen Ton zu finden, einen Ton vorzugeben, hinter den zurück die Produzenten, Regisseure nicht mehr konnten.

Das Fernsehen ist ihm dazwischen gekommen

Das Fernsehen war nicht beabsichtigt, das ist ihm, der Schriftsteller werden wollte, zwei hessische Schriftstellernachwuchspreise eingeheimst hatte, dazwischen gekommen. Er hat Medienwissenschaft und Neuere deutsche Literatur studiert in Marburg. Dann hat ihn ein Kumpel zu einer Drehbuchwerkstatt geschleppt, einer Art Stipendium für Nachwuchsautoren.

Seine Serie „KDD“ hätte das ZDF verjüngen können, wurde aber am falschen Sendeplatz versenkt

Da ist er durchgefallen. Hat aber anschließend ein Kärtchen bekommen aus München. Von Silvia Koller, einer Fernsehlegende des Bayerischen Rundfunks. Die hatte im Auswahlgremium gesessen und war gerade ins Fernsehspiel des Senders gewechselt, verantwortlich auch für den „Tatort“.

Die hatte Ertener überzeugt. Nicht lang später saß Ertener, der in seinem Leben noch kein Drehbuch geschrieben hatte, mit einem Auftrag da. Er sollte einen „Tatort“ schreiben für das damals neue Duo Leitmayr und Batic.

Erstes Drehbuch, erster „Tatort“

Wann war egal. Das Thema aber nicht. Der hessische Sohn eines türkischen Rechtsanwalts und einer deutsch-italienischen Sozialarbeiterin sollte etwas über bayerische Volksmusik schreiben. „Und die Musik spielt dazu“ hieß die Folge. Erteners Drehburchdebüt war die 300. „Tatort“-Folge.

Das war 1991. Ertener war 25. Und weil das ganz gut lief und es die Aufbruchzeit der Privaten war und Auftrag nach Auftrag kam und Ertener zwei Kinder hatte, wurde der angehende Schriftsteller Ertener zum Drehbuchautor Ertener.

Die Familie zog um vom toten Hessenwinkel nach Köln. Ertener hatte sein fernsehfilmisches Lebensthema gefunden – horizontal erzählte Krimiserien wie „KDD“, Serien, die wie Romane funktionieren, Geschichten ihrer Figuren durchspielen über mehrere Folgen, Serien, die es mit den Dänen und Amerikanern aufnehmen können.

Vergeigte Verjüngung im ZDF

Weil das aber ein ziemlich zähes Geschäft war, wuchs die Frustration. Das ZDF zum Beispiel hatte „KDD“ – gespielt von einem championsleagueverdächtigen Team der besten deutschen Schauspieler – zur Verjüngung des Publikums dringend gebraucht. Setzte die Serie dann aber auf den „Derrick“-Sendeplatz auf den Freitagabend an, wo kein Unterdreißigjähriger mit einigermaßen intaktem Sozialleben den Fernseher einschaltet.

Der angegreiste Rest der Zuschauer wendete sich erschrocken ab von der harten, realistischen „KDD“- Welt, die da auf einmal im Wohnzimmer stand, und dem abendlichen Fischefüttern zu. Nach drei Staffeln verstarb „KDD“. „Die Chefin“ und „Letzte Spur“ wurden nicht so, wie er sich das gedacht hatte. Die Frustration war da.

Da kam der alte Romanplan ins Spiel. Seit Jahrzehnten war er da. Seit Anfang der Nullerjahre hatte er ein Thema. Sagt er. Da hatte er einen Dokumentarfilm gesehen über die Dönme. Eine ganz besondere Kultur.

Juden, konvertiert zum Islam

Eine jüdische Religionsgemeinschaft, gegründet vom Charismatiker Schabbtai Zvi im 17. Jahrhundert, die offiziell zum Islam konvertiert war. Bestens integriert, Motor der Moderne im toleranten multikonfessionellen Saloniki, Basis diverser Verschwörungstheorien (Kemal Atatürk soll – sagen die, die ihm und seiner Staatsidee schaden wollten – Dönme gewesen sein, er wurde, sagt Ertener, aber nur von Dönme erzogen).

Bevor sie dann zwischen die Stühle geriet. Zwangsumgesiedelt und mehr oder weniger enteignet, während des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustauschs in den Zwanzigern – sie waren ja Moslems –, verfolgt, ermordet Anfang der Vierziger von den Nazis – sie waren ja Juden. Sie beschlossen zu schweigen. Sie gaben sich auf. Heute sind sie vergessen. Humus für Verschwörungstheoretiker.

Das hat ihn fasziniert. Diese Doppelexistenz, diese Doppelperspektive auf die Welt, das Geheimnis, die Philosophie der Grenzüberschreitung, die das Denken der Dönme ausmacht. Der selbstgewählte Abbruch der Tradition, das nicht mehr Weitergeben von Kultur. Die Geschichtsgeschichten, die sich um die Dönme anlagern.

Die Geschichte eines Ghostwriters

Und dann hat er, dem das Schreiben schwerer fällt, als sich das Ergebnis am Ende liest, dem es Arbeit ist, sich hingesetzt, als der Fischer-Verlag gefragt hat, ob er denn eine Geschichte habe, und siebzig Seiten geschrieben. Den Anfang der Geschichte des Ghostwriters Can Evinman.

Der ist Mitte Vierzig, in Istanbul geboren, nach Deutschland gekommen, kein Klon von Ertener. Er schreibt – auf der Flucht vor dem eigenen – das Leben anderer auf. Dann soll er, der glaubt, seine Eltern seien, als er Kind war, bei einer Wattwanderung ertrunken, das Leben der Schauspielerin Anna Roth aufschreiben. Die ist verheiratet mit einem Großunternehmer von sinistrer, blendender Gestalt.

Schabbtai Zvi taucht auf, ein uralter Nazi, das absolut Böse. Can, der Lebensaufschreiber, erfährt, dass sein eigenes Leben nur aufgeschrieben war. Blut fließt, es wird alles immer schneller. Es geht alles in eins. Es ist kompliziert. Es geht alles auf. Es reißt einen mit.

Figuren – einsam, traurig und verzweifelt

Die Figuren sind so einsam, traurig und verzweifelt wie alle damals im „KDD“. Manchmal meint man wie damals am Freitagabend ein Klavier einsam hämmern zu hören. Wie die Glocken des Schicksals. „Lebt“ weiß viel. Und lebt trotzdem. Es hat Ton und Stil. Man lässt sich mitziehen über alle Bildungswiesen. Und freut sich über jede.

Ertener, der irgendwie keinen rechten Hunger auf Rindfleischsalat hat heute, erzählt noch davon, wie er das Echo der multikulturellen Türkei erlebt hat, als Kind, in den Ferien, unter lauter fünfsprachigen Verwandten. Und wie öde Istanbul spätestens seit Erdogan geworden ist.

Goldgräberstimmung im Fernsehen

Und vom Fernsehen. Dass da gerade eine Art Goldgräberstimmung herrscht. Dass da was zu gehen scheint mit dem neuen Online-Fernsehen, neuen Kooperationen, mit der allmählichen Anpassung der deutschen Produktions- und Finanzierungsgegebenheiten an internationale Standards.

Er will es abwarten. Er kann es abwarten. Er wird überall gebraucht. „Lebt“ ist ein großartiger Wurf geworden. Der zweite Roman ist im Werden.

Da geht er jetzt hin. Durchs Belgische Viertel. Die Sonne hat den Regen vertrieben. Im Alcatraz, hat er noch gesagt, gibt’s regelmäßig Singletanzbörsen. Inzwischen für unser Alter. Jetzt aber schnell weg aus dieser komplizierten Geschichte.

Karl Ove Knausgård: Der Entschleuniger | ZEIT ONLINE.

Diese Lektüre ist ansteckend: In den autobiografischen Büchern des norwegischen Schriftstellers Karl Ove Knausgård passiert nichts Spektakuläres – und doch verfallen ihm die Leser weltweit wie sonst nur „Harry Potter“. von 

Der Schriftsteller Karl Ove Knausgård

Der Schriftsteller Karl Ove Knausgård  |  © dpa

Diesem Sog konnte ich mich irgendwann nicht mehr entziehen. Es gibt Bestseller, es gibt von der Kritik gerühmte Bücher, es gibt Skandalbücher – aber manchmal, selten, treten Bücher in dein Aufmerksamkeitsfeld, deren wachsender Ruhm sich wie ein neuartiges Virus per Tröpfcheninfektion und nicht auf den normalen Wegen medialer Vermarktung zu verbreiten scheint. Wie bei einer Grippewelle ist man dann überrascht, wen es im weiteren Bekanntenkreis schon alles erwischt hat. Im Moment geht die Knausgård-Epidemie um. Die unterschiedlichsten Leute aus den verschiedensten Berufswelten (was immer ein interessanter Indikator ist) sprechen einen auf den norwegischen Schriftsteller Karl Ove Knausgård, Jahrgang 1968, an und bitten um professionelle Hilfe: „Was hat dieser Autor mit mir gemacht? Ich kann nicht mehr ohne ihn!“ Da beschreibt einer auf Hunderten von Seiten fast ohne stilistische Effekte und gänzlich ohne dramaturgische Cliffhanger den mehr oder weniger ruhigen Fluss seines unspektakulären Lebens, und die Leute können nicht genug davon kriegen.

Sucht ist die Zentralmetapher, mit der Knausgård-Leser ihr Lektüreverhalten beschreiben. Das gab es zuletzt bei 13-Jährigen mit Harry Potter. Das große autobiografische Projekt von Knausgård heißt im Original Min Kamp und umfasst sechs Bände. Der deutsche Verlag hat aus nachvollziehbaren Gründen davon abgesehen, die Bücher unter dem Titel Mein Kampf in den Handel zu bringen. Die ersten drei auf Deutsch erschienenen Bände heißen Sterben, Lieben und Spielen. Jetzt ist Band vier erschienen: Leben.

Ich bin ein Spätzünder, ich habe die ersten drei Bände nicht gelesen, sondern bin gleich bei Band vier eingestiegen, um das Knausgård-Syndrom am eigenen Leibe zu überprüfen – naturgemäß mit der für Kritiker typischen Skepsis gegenüber angeblichen Hypes …

Es hat auch bei mir funktioniert. Die Droge hat angeschlagen – und es fällt mir nicht leicht zu sagen, welche Wirkstoffe da am Werk sind. Gewiss natürlich der Authentizitätseffekt. Knausgård erzählt in Min Kamp von seinem Leben ohne vorsätzliche Fiktionalisierung und den entsprechenden Kulissenzauber. Deswegen passiert auch nichts Krasses, wie wir es oft in bemüht radikalen Romanen schlucken müssen. Das Krasse als Effekt der poetischen, symbolischen Verdichtung kommt hier nicht vor. Das Krasse baut sich hingegen langsam, aber dann umso mächtiger in der genauen Protokollierung des Alltäglichen unserer Wünsche, Sehnsüchte und Triebe auf.

Bücher, die ihre Wahrhaftigkeit ausstellen, können schnell etwas Ranschmeißerisches haben. Bei Knausgård dagegen stellt sich der Realitätseffekt durch eine extreme, gleichzeitig sanfte Annäherung von erzählter Zeit und Erzählzeit her. Es fühlt sich an, als wäre man plötzlich von der digitalen Datenkomprimierung erlöst und würde das Leben wieder analog, eins zu eins wahrnehmen. Man könnte es eine Entschleunigungskur nennen. Als wäre man endlich bei dem Tempo angekommen, in dem das Leben nicht mehr durch Geschwindigkeit verzerrt an einem vorbeirauscht, sondern in dem man es in seiner Körnigkeit geradezu wie mit den Händen zu betasten vermag. Es ist ein Marketingbegriff geworden, aber Knausgårds Erzählen ist eine Schule der Achtsamkeit.

Aber genügt das, um zu erklären, warum seine Bücher so viele Leser in den Bann ziehen? Langsame Bücher – denken wir an Peter Handke – sind ja meist Bücher, die man nicht verschlingt. Knausgård hingegen schreibt langsame Bücher, die man schnell liest. Wie ist das möglich? Welche artistischen Verfahren setzt der Autor ein?

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