Literaturkritik: Der beste Leser | ZEIT ONLINE.

James Wood, der berühmte amerikanische Literaturkritiker, erklärt auf grandiose Weise sein Handwerk.

James Wood ist der berühmteste Literaturkritiker der Welt. Als berühmtester Literaturkritiker der Welt ist man kein Star (es ist also nicht schlimm, wenn Sie, lieber Leser, von seinem Namen noch nie gehört haben), aber doch eine Autorität, deren Wort in vielen Ländern Gewicht hat. Wood schreibt für den New Yorker , und sein Ansehen ist deshalb grenzüberschreitend, weil man eben nur als anglofoner Literaturkritiker über die Sprachgrenzen hinweg sich einen solchen Ruf erwerben kann. Vielleicht sitzt der geistreichste Literaturkritiker der Welt in São Paulo – wir werden es vermutlich nie erfahren.

Es ist ausgesprochen reizvoll zu beobachten, wie in anderen Ländern und Sprachen über Literatur geredet wird. Sind unsere eigenen Maßstäbe möglicherweise provinziell? Gibt es tatsächlich auch im Werturteil so etwas wie Weltliteratur oder sind unsere Geschmacksurteile kulturrelativ? Hat das Ausland einen anderen Blick auf die deutsche Literatur? Was heißt es für unser eigenes kritisches Selbstverständnis, dass der Rest der Welt die deutsche Literatur vor allem durch die drei Namen Thomas Bernhard , W. G. Sebald und Peter Handke verkörpert sieht? Aber auch: Gibt es woanders eine andere Art der Lektüre und Sprachbeobachtung?

James Wood, Jahrgang 1965, hat ein Buch geschrieben, das jetzt auch auf Deutsch vorliegt: Die Kunst des Erzählens. (Die deutsche Ausgabe ist mit einem Vorwort von Daniel Kehlmann versehen.) Das Buch hat es in sich, weil es wirklich am Text arbeitet und die großen Fragen der Literatur an der einzelnen konkreten Textstelle überprüfbar macht. Man könnte auch sagen: Nachdem man James Wood gelesen hat, beschleicht einen als Literaturkritiker das ungute Gefühl, bisher aus Düsenjet-Perspektive über die Textlandschaften hinweggeflogen zu sein, weshalb die Reiseeindrücke vor allem aus Achttausendern bestehen, die einem auch aus der Ferne und bei hoher Geschwindigkeit ins Auge springen. James Wood hingegen ist mit einem kleinen, wendigen Helikopter unterwegs. Er kann nah heranfliegen und uns genau berichten, über welchen Felsvorsprung der Wasserfall der Worte in die Tiefe stürzt. Die Kunst des Erzählens ist eine Schule des close reading . Es gemahnt uns daran, mehr über die Form als über den Inhalt nachzudenken.

 

Eine normale Literaturrezension liest sich ungefähr so: »Der Autor XY greift in seinem neuen Roman das Thema des internationalen Terrorismus auf, und indem er eine Geschichte über eine Einwandererfamilie erzählt, ist sein Buch auch ein bewegendes Plädoyer für eine Welt, in der die Kulturen miteinander ins Gespräch kommen.« Das ist literaturkritisch natürlich völlig irrelevant. Groß ist die Literatur nämlich nicht, weil sie dieses oder jenes Thema aufgreift, sondern weil ihr in ihrem sprachlichen Ausdruck ein Moment der Intensität, der Überraschung, der Verfremdung oder der Schönheit gelingt.

Intuitiv sind wir uns alle einig, dass James Joyce’ Erzählung Die Toten mit einem tollen ersten Satz loslegt: »Lily, die Tochter des Verwalters, musste sich buchstäblich die Beine ablaufen.« Aber was macht diesen Satz so körnig, so lebendig? James Wood zeigt an ihm den raffinierten Einsatz der Figurenrede. Wirklich »buchstäblich« kann sich ja niemand die Beine ablaufen, weshalb das Adverb eben keines der Erzählerstimme ist, sondern direkt von Lily souffliert wurde, von der man sich vorstellen kann, wie sie ihren Freundinnen berichtet: »Ich musste mir buch-stäb-lich die Beine ablaufen.« Hier findet also ein höchst beiläufiger, äußerlich nicht markierter Wortaustausch zwischen dem Autor und seiner Figur statt. Während der Satz sonst dem Erzähler gehört, meldet sich mit diesem Adverb Lily selbst zu Wort.(…)

 

Juli Zehs Poetikvorlesung: Vom Nur-So zum Roman – Autoren – FAZ.

08.07.2013 ·  Juli Zeh verteidigt in ihrer Frankfurter Poetikvorlesung Literatur als einen Rückzugsraum der Anarchie, eingefangen zwischen zwei Buchdeckeln. Und beschreibt damit zugleich ihre eigenes Verfahren.

© Fricke, Helmut Animierend: Juli Zeh

Am Ende der dritten Vorlesung war Juli Zeh bei ihren Kritikern angelangt. Versammele sie alle Stimmen, die seit je versicherten, die Autorin Zeh tauge nichts, dann klinge das in etwa so: „Zuerst das Gute: Der neue Roman von Juli Zeh ist weniger lang als seine Vorgänger.“ Die Konstruktion der Rahmenerzählung aber sei ebenso bemüht wie die Sprachfähigkeit der Autorin begrenzt. Juli Zeh sei eine „Schwallmadame“, „Quatschnudel“, „Dauerpowerfrau“, und „apokalyptisch altkluge Angeberin“. Glücklicherweise wolle sie sich nun ihrer juristischen Doktorarbeit zuwenden. „Da kann sie weiter Thesenklappriges aufeinanderstapeln. Und das Beste: Lesen muss es nur einer.“

Das, sagte Juli Zeh anschließend, stamme nicht von ihr, sondern sei eine kleine Zitatencollage aus Rezensionen ihrer Bücher der letzten Jahre. Ihre Frankfurter Poetikvorlesung kam damit der Literaturdefinition der Romantiker relativ nah: dass ein Werk nämlich immer auch seine Kritik enthalten solle. Das galt auch jenseits ironischer Anklänge. Denn Zehs Poetikvorlesung, einige Tage vor Beginn bereits unter dem Titel „Treideln“ im Schöffling Verlag erschienen, war mit nahezu jedem Satz eine Wiederbelebung romantischen Literaturverständnisses. Wenn sie schreibe, hatte Zeh in der zweiten Vorlesung erklärt, dann in Form des „Nur-So“: „Das Nur-So ist eine Textart, die jederzeit gelöscht werden kann. Sie dient keinem Leser, sondern ausschließlich dem Autor. Das Nur-So besteht aus Textfetzen, Szenen, Kurzdialogen, einzelnen Sätzen oder auch kleinen, in sich geschlossenen Episoden. Ein Nur-So kann zu beträchtlicher Länge anwachsen.“ Etwa so seien fast alle ihre Romane entstanden. (…)

 

Sprechen und Sprechkrisen

„Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“ (1/3)

Von Dagmar Lorenz

Sprache gilt von alters her als Grundbedingung des Menschseins. Im ersten Teil der Dreierserie „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“ widmet sich die Literaturwissenschaftlerin Dagmar Lorenz in ihrem Essay dem Thema „Sprechen und Sprechkrisen“.

Bereits in der Antike taucht die Frage auf, ob Sprache wirklich zur Verständigung tauge – und ob sie imstande sei, Wirklichkeit zu beschreiben. In späteren Epochen wird dieser Zweifel als Bruch zwischen Sprache, Subjekt und Wirklichkeit bemerkt. Doch erst in den Jahren um 1900 erfährt die Sprachskepsis eine Radikalisierung: mit Konsequenzen auf die literarische Produktivität einer jüngeren Autorengeneration.

Davon handelt auch die Dreierserie „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“. Den Beginn macht ein Essay der Literaturwissenschaftlerin Dagmar Lorenz zum Thema „Sprechen und Sprechkrisen“. Im zweiten Teil folgt am 23.09.2012 ein Gespräch mit dem französischen Kulturhistoriker Jacques le Rider über den Provokateur und Sprachkritiker Fritz Mauthner (1849-1923), und Dagmar Lorenz wendet sich abschließend dem Sprechen und Schreiben in unserer Gegenwart zu – angefangen vom „Jargon der Eigentlichkeit“ bis zum Gender-Slang.

Im ersten Teil der Serie „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“ widmet sich Dagmar Lorenz in ihrem Essay den „Sprach- und Sprechkrisen in der klassischen Moderne“:

„Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.“

So beginnt ein Gedicht von Rainer Maria Rilke aus dem Jahre 1897. Beschworen wird hier die Angst vor dem definitorischen Gebrauch der Wörter – eine paradoxe Angst, wie es auf den ersten Blick scheint, denn, so könnte man fragen: Besteht nicht gerade die Funktion von Sprache darin, Dinge und Sachverhalte zu bezeichnen und sie so erst begreifbar zu machen? Hier, bei Rilke, bewirkt das exzessive „Sich verständlich machen“ offenbar eher das Gegenteil: Das Verstehen wandelt sich ins Verfehlen:

„Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.“

Von der Angst, über die Anklage, bis hin zum Appell: Am Schluss des Gedichtes ist es die Welt der Dinge, die gegen die Ansprüche des Benennens und Aussprechens bewahrt werden soll:

„Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: Sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.“

Dass die undefinierte, unbenannte Dingwelt als „lebendig“ erscheint, ihre sprachliche Benennung sie hingegen „starr und stumm“ mache, also gleichsam töte, ist ein Gedanke, der insbesondere in der Literatur der Jahre um 1900 in mehrfachen Varianten auftaucht: als Symptom und Ausdruck eines Sprachbewusstseins, das sich als krisenhaft begreift.

Lässt man die Jahrzehnte zwischen 1880 und etwa 1920 Revue passieren, so fällt auf, dass in dieser Zeitspanne auf ganz unterschiedlichen Schauplätzen eine überaus intensive, ja nahezu obsessive Auseinandersetzung mit „Sprache als Problem“ stattfindet: angefangen von der Wirkung, welche die Schriften Friedrich Nietzsches auf eine nachfolgende Generation ausübten, über die Sprachkritik eines Fritz Mauthner bis hin zu Ludwig Wittgenstein und den Anfängen des Wiener Neopositivismus.

Parallel dazu finden sich die Sprachpolemiken eines Karl Kraus und Sigmund Freuds berühmter Aufsatz über den Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Im Wiener Parlament ebenso wie in den Regionen der vielsprachigen Habsburgermonarchie toben sogenannte „Sprachenkämpfe“. Die Literatur jener Jahre bringt neue Sprechweisen hervor: Arthur Schnitzler kreiert den deutschsprachigen „inneren Monolog“, und während Hugo von Hofmannsthal in seinem Opernlibretto „Elektra“ die Ästhetik des Verstummens probt, wird in Jung Berliner Literatenkreisen das lyrische Sprechen zum expressionistischen Schrei.

Warum also kommt es ausgerechnet in den Jahren um 1900 zu einer solchen Ballung von Sprach- und Sprechdiskursen auf ganz unterschiedlichen Ebenen? Ein Rückblick in die Vorgeschichte der abendländischen Sprachreflexion zeigt, wie sehr sich der Blick auf die Sprache im Verlaufe des neuzeitlichen Denkens gewandelt hat – und welche Problemlage sich in den Jahren um 1900 daraus ergibt.

Reflexion über die menschliche Sprache findet von alters her statt. Schon an deren Anfang war bekanntlich, wie es in der Bibel heißt, das Wort – und mit ihm der Gedanke vom göttlichen Ursprung der Sprache. Aristoteles betrachtete den Menschen als „zoon logon echon“: als ein „Lebewesen, das Sprache hat“ und aufgrund dieser Eigenschaft erst in der Lage sei, ein soziales Gemeinwesen zu schaffen.

Und spätestens seit Platon wird das Verhältnis zwischen Sprache und außersprachlicher Wirklichkeit diskutiert. Entspringen die Wörter dem Wesen der Dinge? Stehen die sprachlichen Bezeichnungen in einer gleichsam natürlichen Beziehung zu den bezeichneten Dingen? Oder sind die Wörter bloß das Resultat einer sozialen Konvention, einer Verabredung unter den Menschen? Und wie steht es mit dem Verhältnis zwischen der Sprache und dem Denken? Gibt es ein vorsprachliches Erkennen, dem die Sprache dann nachträglich zugeordnet wird? Und ist Sprache in der Lage, sämtliche Dinge dieser Welt angemessen abzubilden?

Die Forderung, dass sie es zumindest sein sollte, beeinflusste noch die neuzeitliche Philosophie. So beispielsweise galt es für Denker wie Francis Bacon, John Locke oder Gottfried Wilhelm Leibniz als ausgemacht, dass Sprache dafür da sei, Wirklichkeit abzubilden. Dass dieses Ideal jedoch schon an der konstitutiven Unzulänglichkeit der Sprache selbst scheitern muss, erkannte im 18. Jahrhundert schon ein Aufklärer wie Georg Christoph Lichtenberg, als er formulierte:

„Es ist ein ganz unvermeidlicher Fehler aller Sprachen, dass sie nur Genera von Begriffen ausdrücken und selten das hinlänglich sagen, was sie sagen wollen.“

Lichtenberg erkannte: Die Differenz zwischen den sprachlichen Zeichen und dem, was bezeichnet werden soll, ist unaufhebbar. Ebenso unmöglich ist es, etwa Empfindungen bruchlos auszudrücken, oder das Denken unmittelbar zur Sprache zu bringen.

Dies alles scheitert schon daran, dass es immer einen Spielraum zwischen dem Gedanken und seinem Ausdruck gibt, der die Wirkung des Ausgesprochenen unkontrollierbar erscheinen lässt. Doch diese Erfahrung des doppelten Bruchs zwischen Sprache, Bewusstsein und Wirklichkeit führt bei den Aufklärern des 18. Jahrhunderts nicht etwa zu einer prinzipiellen Sprachskepsis, sondern entweder zu einer Haltung der Selbstbeschränkung, wie etwa bei Gotthold Ephraim Lessing:

„Die Sprache kann alles ausdrücken, was wir deutlich denken; dass sie aber alle Nuancen der Empfindungen soll ausdrücken können, das ist ebenso unmöglich, als es unnötig sein würde.“

… oder allenfalls zu einer aufklärerisch motivierten Kulturkritik, die sprachliche Irrtümer zu vermeiden sucht oder sich an der Wirklichkeit selbst abarbeitet.

Ein grundlegender Wandel des Sprachverständnisses vollzieht sich in der Sprachphilosophie der Romantik, insbesondere bei Wilhelm von Humboldt, der im Anschluss an Herder und Hamann eine Theorie der sprachlichen Weltanschauung formuliert – was bedeutet: Sprache formt, nach Humboldt, die vorgegebene Realität zu einer Weltsicht. Insofern prägt sie das individuelle Vorstellungsvermögen des Menschen. Damit aber wird Sprache nicht mehr als untergeordnetes Werkzeug zum Abbilden von Realität begriffen. Sie wird stattdessen in das Bewusstsein des Menschen selbst verlegt. Der Einzelne ist also an die Sprache und ihre jeweiligen Gesetzmäßigkeiten unwiderruflich gebunden. Humboldt sagt:

„Durch denselben Act, vermöge dessen der Mensch die Sprache aus sich heraus spinnt, spinnt er sich in dieselbe ein, und jede zieht um das Volk, welchem sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern herauszugehen möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer andren hinüber tritt.“

Es gibt also, nach Humboldt, keine Möglichkeit, die Grenzen des Sprachlichen an sich zu überschreiten. Andererseits ist Sprache nun gleichsam von der Funktion befreit, Realität abbilden zu müssen – was ihr zwar neue, individuelle Ausdrucksmöglichkeiten eröffnet, ihr aber auch die Grundlage für eine selbstverständliche Rückbindung an die Welt der Dinge entzieht.

Eine weitere Wende in der Sprachreflexion wird im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts durch Friedrich Nietzsche eingeleitet, dessen Einfluss auf die kulturellen Avantgarden der Generationen nach 1870 kaum überschätzt werden kann. So wird in Nietzsches Schrift „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ der romantische Gedanke von der Sprache, die Welt im Bewusstsein des Menschen erst hervorbringt, nochmals radikalisiert. Dass Sprache überhaupt die Verhältnisse zwischen realen Dingen adäquat beschreiben könne, verneint Nietzsche:

„Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden, und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen.“

Fassen wir zusammen: Für Friedrich Nietzsche sind Verstand und Sprache nicht etwa Mittel zur Abbildung von Wirklichkeit oder zur Erhellung von Sachverhalten oder gar zur Suche nach Wahrheit. Ganz im Gegenteil! Sprache hat vor allem eine soziale Funktion. Sie dient dem Menschen als Mittel der Verstellung, der Täuschung und Illusionsbildung. Er bedient sich ihrer, um seine eigennützigen Bedürfnisse zu maskieren und sich das Wohlwollen der Gesellschaft zu sichern.

Auch hinter Aussagen wie „wahr“ oder „falsch“ verbirgt sich eine Übereinkunft zwischen den Menschen über die verbindliche Verwendung von Zeichen. „Wahres“ Sprechen meint also ausschließlich die Übereinstimmung mit den Konventionen des Sprachgebrauchs – und muss – da Sprache und Wirklichkeit völlig unterschiedlichen Sphären angehören – notwendigerweise in Lüge umschlagen: ja, die Annahme, es gäbe Wahrheit, bringt die Lüge erst hervor.

Nietzsches Schlussfolgerung daraus: Nicht der Trieb zur Wahrheit, sondern der „Trieb zur Metaphernbildung“ reguliert die Verwendung von Sprache. Erst indem sich der Mensch als „Sprachbildner“ betätigt, sich also eines ästhetischen Verfahrens bedient, werden Subjekt und Objekt überhaupt sinnvoll aufeinander beziehbar. Wie Sprache konkret funktioniert, beschreibt Nietzsche wie folgt:

„Ein Nervenreiz, zuerst übertragen in ein Bild! Erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedes Mal vollständiges Überspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andre und neue.“

Dass Bild und Laut eigenständige Funktionen übernehmen und Sprache nicht primär als bedeutungstragendes Medium aufzufassen sei, sind Gedanken, die auf die späteren Lautmalereien des Expressionismus und Dadaismus verweisen.

Verschärft wird dieses Krisenbewusstsein auch durch die Entwicklungsschübe in den Naturwissenschaften im Verlaufe des 19. Jahrhunderts. Mit zunehmender Verwissenschaftlichung und der Ausdifferenzierung in Natur- und Geisteswissenschaften ergaben sich neue Anforderungen an die Sprache als Beschreibungswerkzeug – was das Problem aufwarf, dass die natürliche Sprache als zunehmend untauglich für die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnis begriffen wurde.

Wie sehr diese Skepsis gegenüber der Vermittlungsfunktion von Sprache zugleich eine Krise des Sprechenden darstellt, formuliert in den Jahren um die Jahrhundertwende der experimentelle Physiker Ernst Mach, der mit Richard Avenarius als ein Vertreter des sogenannten Empiriokritizismus gilt. Machs Bedeutung insbesondere für die Literaturavantgarde der Wiener Moderne ist beachtlich. Allein sein seit 1886 in immer neuen Auflagen herausgegebenes Werk „Die Analyse der Empfindungen“ erwies sich als ein Erfolgsbuch, von dem der einflussreiche Wiener Publizist Hermann Bahr 1903 behauptete, dass es

„die Lebensstimmung der neuen Generation auf das Größte ausspricht.“

Die „Lebensstimmung“, die Ernst Mach und seinem Denken zugeschrieben wurde, faszinierte ganz unterschiedliche Autoren: Unter ihnen finden wir den Sprachkritiker Fritz Mauthner, aber auch Robert Musil, Hugo von Hofmannsthal oder Richard Beer Hofmann. Sie alle zeigten sich beeindruckt von den Konsequenzen, welche die von Ernst Mach entworfene Psychologie der Sinneswahrnehmung zeitigte. Was ist damit gemeint?

Ernst Mach zufolge existiert kein grundsätzlicher Gegensatz zwischen der äußeren Welt der Dinge und uns, die wir subjektiv diese Welt wahrnehmen. Jede Art von Wirklichkeit, so Mach, löst sich vielmehr auf in subjektiv wahrgenommene Sinnesgegebenheiten oder anders formuliert: Sowohl die innere, psychische Welt des Menschen als auch die äußere Welt bestehen aus gleichartigen Elementen der Empfindung und Wahrnehmung. Es sind die unterschiedlichen, mehr oder weniger flüchtigen Sinneseindrücke, die wir von außen empfangen und die unsere jeweilige Weltwahrnehmung bestimmen. Welt und Wirklichkeit erscheinen uns also als Resultate einer impressionistischen Wahrnehmung unserer Sinne: Eine Auffassung, die an den Impressionismus in der Malerei denken lässt, aber auch an die poetischen Großstadtimpressionen etwa eines Charles Baudelaire.

Da in der Perspektive Ernst Machs sich auf diese Weise alle Arten von Wirklichkeit und Erkenntnis relativieren, kann es natürlich auch keine objektive Wahrheit geben. Auch Sprache kann nie eindeutig sein. Denn Wörter erhalten ihre Bedeutungen dadurch, dass sie subjektive Empfindungen hervorrufen – und zwar sowohl im Sprechenden als auch im Angesprochenen. Und da diese Empfindungen schon bei zwei Menschen nie hundertprozentig übereinstimmen, umgrenzen Wörter allenfalls einen Bedeutungsraum.

Auch das sprechende Individuum selbst ist keine eindeutige, von der Außenwelt abgegrenzte Einheit. Das „Ich“ eines individuellen Menschen besteht nämlich ebenfalls aus einem Komplex von Erinnerungen, Stimmungen und Gefühlen, die sich im Verlaufe der Jahre – je nach Situation, Lebenslage und Zufall ständig verändern oder neu kombinieren.

„Größere Verschiedenheiten im Ich verschiedener Menschen, als im Laufe der Jahre in einem Menschen eintreten, kann es kaum geben. Wenn ich mich heute meiner frühen Jugend erinnere, so müsste ich den Knaben (einzelne wenige Punkte abgerechnet) für einen anderen halten, wenn nicht die Kette der Erinnerungen vorläge.“

Insofern sei es eigentlich unsinnig, so Mach, überhaupt noch von einem „Ich“ zu sprechen, denn es existiert einfach nicht. Fazit also:

„Das ‚Ich‘ ist unrettbar!“

Im Hinblick auf die Sprache aber stellt sich dann die Frage:

„Wer eigentlich spricht wirklich, wenn ein ‚Ich‘ ‚Ich‘ sagt?“

Man könnte die bekannten Schlüsseltexte der literarischen Moderne um 1900 getrost als mögliche Antworten auf diese eine Frage lesen – wobei die jeweilige Antwort zu einem guten Teil aus der innovativen Formensprache herauszulesen ist, deren sich etwa Autoren wie Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer-Hofmann oder Rainer Maria Rilke – letzterer in seinem Tagebuchroman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ bedienen.

Ein anderes berühmtes Beispiel hierfür bietet einer der ersten literarischen Texte, die konsequent in der Form eines „inneren Monologs“ verfasst sind: Arthur Schnitzlers Novelle „Leutnant Gustl“. Der Text protokolliert den sich ununterbrochen abspulenden Gedankenstrom aus der Innenperspektive einer fiktiven Figur. Es sind die Gedanken eines Leutnants der österreichisch-ungarischen k.u.k.-Monarchie, eben jenes Leutnant Gustl, die ihm innerhalb eines begrenzten Zeitraums – nämlich exakt zwischen 21:45 bis 06:00 Uhr am Morgen des darauffolgenden Tages – in den Sinn kommen.

„Wie lang‘ wird denn das noch dauern? Ich muss auf die Uhr schauen… schickt sich wahrscheinlich nicht in einem so ernsten Konzert. Aber wer sieht’s denn? Wenn’s einer sieht, so passt er gerade so wenig auf, wie ich, und vor dem brauch‘ ich mich nicht zu genieren… Erst viertel auf zehn?… Mir kommt vor, ich sitz‘ schon drei Stunden in dem Konzert. Ich bin’s halt nicht gewohnt…“

Nur wenige Absätze weiter wird ein banaler Zwischenfall in der Menschenmenge vor der Konzertsaal-Garderobe eine Kaskade unterschiedlichster Gefühle, Assoziationen und Handlungsimpulsen im Kopf unseres Leutnants auslösen. Gustl wird in der anonymen Masse von einem ihm flüchtig bekannten Bäckermeister angerempelt und fühlt sich als Leutnant in seiner Ehre gekränkt. Da es der niedrige soziale Rang des Bäckers dem Leutnant verbietet, seinen Beleidiger zum Duell zu fordern, glaubt Gustl, seine Ehre nur noch durch seinen Selbstmord wiederherstellen zu können – zumal er davon ausgeht, dass der Bäcker den Vorfall herumerzählen wird.

Den Rest der Nacht verbringt Gustl in der inneren Überzeugung, ein Todeskandidat zu sein – bis er am darauffolgenden Morgen durch Zufall erfährt, dass der Bäcker noch in derselben Nacht an einem Schlaganfall verstorben ist. Das ändert die Lage für Gustl schlagartig: Denn nun ist es ausgeschlossen, dass der scheinbar ehrverletzende Vorfall allgemein bekannt wird. Gustl stellt erleichtert fest, dass er am Leben bleiben darf: Doch das Gefühl der Erleichterung bewirkt keineswegs die Einsicht in die Absurdität des militärischen Ehrenkodexes. Stattdessen fiebert der Leutnant einem für denselben Tag angesetzten Duell entgegen.

Was diesen Text zu einem Dokument der modernen Sprachkrise macht, ist die paradoxale Verfasstheit der hier präsentierten inneren Rede: Als Leser bleibt uns nahezu kein Gedanke, keine Gefühlsregung des fiktiven Leutnants verborgen: Das ganze Psychodrama eines von Minderwertigkeitskomplexen, kompensatorischer Aggressivität, hasserfülltem Antisemitismus und Standesdünkel geprägten Subalternen wird aufgerollt, die ganze seelische Misere eines auch materiell armen Teufels, der seine jämmerliche Lage hinter einer äußeren Renommier-Fassade eines k.u.k.-Offiziers verbirgt.

Wir erfahren alles über den Leutnant, indem wir seinem assoziativ gelenkten Bewusstseinsstrom folgen: – ein Verfahren, das übrigens an die psychoanalytische Erzählmethodik des Schnitzler-Zeitgenossen Sigmund Freud erinnert. – Und doch erfahren wir so gut wie nichts über Gustl selbst.

„Ein Gemeiner von der Verpflegsbranche ist ja jetzt mehr als ich: ich bin ja überhaupt nicht mehr auf der Welt… es ist ja aus mit mir… Ehre verloren, alles verloren!… Ich hab‘ ja nichts anderes zu tun, als meinen Revolver zu laden und… Gustl, Gustl, mir scheint, du glaubst noch immer nicht recht d’ran? Komm‘ nur zur Besinnung… es gibt nichts anderes… wenn du auch dein Gehirn zermarterst, es gibt nichts anderes! – Jetzt heißt’s nur mehr, im letzten Moment sich anständig benehmen, ein Mann sein, ein Offizier sein, sodass der Oberst sagt: Er ist ein braver Kerl gewesen, wir werden ihm ein treues Angedenken bewahren! … „

Je subjektiver, persönlicher und einzigartiger Gustels Erzählung anmutet, desto mehr fällt auf, dass das Gespräch, das Gustl mit sich selbst führt, fast ausschließlich aus stereotypen Redewendungen, standestypischen Werturteilen und Alltagsweisheiten besteht. Nicht ein unverwechselbares „Ich“-Individuum offenbart sich hier, sondern ein mehr schlecht als recht aus Versatzstücken eines längst überlebten militärischen Ehrenkodexes zusammengezimmertes Rollen-Ich eines beliebigen Leutnants.

Dem Leser präsentiert sich eine entindividualisierte Rede, in der das „Ich“ der Figur Gustl vor allem als Sprachrohr von zeittypischen Allgemeinplätzen erscheint: als Leerstelle sozusagen, die stellvertretend für eine Art – Freud würde sagen – „Über Ich-Instanz“ steht. Und tatsächlich: Das französische Lexem „Lieutenant“, das Arthur Schnitzler einst im Originaltitel seines Textes verwendete, heißt wörtlich übersetzt nichts anderes als „Stellvertreter“.

Am Beispiel dieses „Lieutenants Gustl“ wird deutlich, dass am vorläufigen Ende der sprachkritischen Betrachtungen im 18. und 19. Jahrhundert ein Subjekt steht, das seiner sprachlichen Autonomie beraubt ist. Statt eines autonomen Individuums, das Sprache sozusagen von außen kritisch betrachten kann, erfährt sich nun ein prekäres „Ich“ als gleichsam untrennbar eingesponnen in Sprachlichkeit. Zugleich ist dieses „Ich“ scheinbar ausweglos einer vergesellschafteten Sprache unterworfen.

Die spezifischen Ausprägungen dieser vergesellschafteten Sprache um 1900 sind vor allem auf zwei zeittypische Tendenzen zurückzuführen: zum einen auf den Bedeutungszuwachs von Sprache überhaupt, zum anderen auf den Boom der modernen Massenpresse.

Dass die Versprachlichung von Welterfahrung ins Zentrum der europäischen Kultur um 1900 rückt, belegt nicht nur die literarische Moderne dieser Jahre. In den Jahren 1901 und 1902 erscheint die Erstausgabe der „Beiträge zu einer Kritik der Sprache“ in drei Bänden von Fritz Mauthner. In Anlehnung an Ernst Mach und Nietzsche wettert Mauthner darin gegen den von ihm als „Wortaberglauben“ geschmähten Geist seiner Epoche. Und ein junger Kritiker, Hermann Häfker, bestätigt indirekt die Diagnose Mauthners in der Rezension von dessen Werk wie folgt:

„In der That gewinnt die Sprache, das Wort, im heutigen praktischen Leben eine Bedeutung, wie sie eine solche wohl noch nie in der Weltgeschichte gehabt hat. […] Sie beginnt allmählich die wahre Rolle eines Mittlers zwischen allen menschlichen Werten anzunehmen.“

Eine notwendige Folge, so erscheint es jedenfalls im Rückblick, von Modernisierungsprozessen. So werden beispielsweise in den sich industrialisierenden Gesellschaften Europas zunehmend konkrete, personale Beziehungsnetze durch abstrakte sprachliche Kommunikation ersetzt: sei es auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Verwaltung, der Technik, der Schulbildung, aber etwa auch der politischen Repräsentation: In einem Zeitalter, das durch das Aufkommen von Massenparteien gekennzeichnet ist, gewinnt der manipulativ geschickte Redner an Gewicht. Nicht umsonst vermerkt der Dichter Hugo von Hofmannsthal in seinem „Buch der Freunde“:

„Politik ist Magie. Wer die Mächte aufzurufen weiß, dem gehorchen sie.“

Und solch ein Aufruf ist noch umso wirkungsvoller, wenn er in der Zeitung abgedruckt ist. Das neue Massenmedium und seine Machart erfordert auch eine neue Sprache: eingängige Formulierungen, schmückende Vergleiche, bildkräftige Beschreibungen, grelle Reklameslogans – und dies alles in kurzer Zeit von professionellen Journalisten niedergeschrieben und auf die erforderliche Anzahl und Länge der Zeilen gestutzt.

Der schnelle Erscheinungstakt des neuen Mediums – in manch europäischer Hauptstadt erschienen manche Zeitungen zweimal am Tag – erforderte veränderte Schreibgewohnheiten. Schriftsteller, die ihre Texte einst ausschließlich im Medium „Buch“ veröffentlichten, ergriffen die Gelegenheit, ihr Gehalt durch das Verfassen von Zeitungsfeuilletons aufzubessern. Der Zeitungsroman in Fortsetzungen etablierte sich als ökonomisch lukrative Textform. Und so ist es auch kein Zufall, dass selbst Arthur Schnitzlers „Lieutenant Gustl“ im Jahre 1900 zunächst nicht als Buch, sondern in der Wiener Neuen Freien Presse erschien.

Von den Zeitgenossen erbittert diskutiert wurden freilich auch die Konsequenzen, die der Wandel von der literarisierten Büchersprache zum kommerzialisierten journalistischen Schreiben erzeugte. Das kommerzialisierte Schreiben und Reden unter Zeitdruck bringt die Sprache als stereotype Wendung und Phrase hervor – in deren Gestrüpp, so empfanden es wenigstens zahlreiche Kritiker, die wirklichen Sachen und Sachverhalte – so sie überhaupt existent sein sollten – zum Verschwinden gebracht werden. So klagt der radikale Pressekritiker Karl Kraus:

„Ich habe die Überzeugung, dass die Ereignisse sich gar nicht mehr ereignen, sondern dass die Klischees selbsttätig fortarbeiten. Oder wenn die Ereignisse, ohne durch die Klischees abgeschreckt zu sein, sich doch ereignen sollten, so werden die Ereignisse aufhören, wenn die Klischees zertrümmert sein werden. Die Sache ist von der Sprache angefault.“

Die Sprache, die alles anfault, was sie berührt, wird zum Thema und Krisensymptom vor allem in den literarischen Texten der deutschsprachigen Moderne um 1900. In Rainer Maria Rilkes Großstadtroman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ ringt der Ich-Erzähler mit der vorgegebenen Sprache, die sich ihm als Mittel der literarischen, aber auch mündlichen Mitteilung zusehends entzieht.

In Hugo von Hofmannsthals berühmtem Chandos-Brief von 1902 hingegen, ist es kein moderner Dichter wie Rilkes Malte, sondern ein fiktiver Adliger des Renaissance-Zeitalters, der in die Bodenlosigkeit einer Sprach- und Daseinskrise stürzt.

In beiden Fällen wird der Krisenhaftigkeit von Sprache und Sprechen mit einer Art von subversiver Strategie begegnet. Rilkes „Malte“-Text endet mit der Legende vom verlorenen Sohn, die, sozusagen gegen den Strich gebürstet, von einer geglückten Verweigerung des kommunikativen Einverständnisses erzählt. Über den in den Schoß seiner Familie zurückgekehrten Sohn heißt es dort:

„Es muss für ihn unbeschreiblich befreiend gewesen sein, dass ihn alle missverstanden, trotz der verzweifelten Eindeutigkeit seiner Haltung. Wahrscheinlich konnte er bleiben. Denn er erkannte von Tag zu Tag mehr, dass die Liebe ihn nicht betraf, auf die sie so eitel waren und zu der sie einander heimlich ermunterten. Fast musste er lächeln, wenn sie sich anstrengten, und es wurde klar, wie wenig sie ihn meinen konnten.“

Hofmannsthals Lord Chandos hingegen erfährt zuweilen Augenblicke einer Art von Offenbarung, die ihm zumindest punktuell einen Zugang zu den Dingen der unverstellten Wirklichkeit ermöglichen.

„Es ist mir dann, als bestünde mein Körper aus lauter Chiffern, die mir alles aufschließen. Oder als könnten wir in ein neues ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein treten, wenn wir anfingen, mit dem Herzen zu denken. Fällt aber diese sonderbare Bezauberung von mir ab, so weiß ich nichts darüber auszusagen.“

Das angemessene Ausdrucksmedium für diese Art von Erfahrung ist nicht im Bereich des Sprachlichen zu finden. Der Zugang zum „Leben“, wie Hofmannsthal und seine Zeitgenossen es auszudrücken pflegten, verweist vielmehr auf das Problem einer Metasprache, das einige Jahre später von Ludwig Wittgenstein in seinem „Tractatus logico-philosophicus“ aufgegriffen werden sollte: Demnach kann Sprache allenfalls zum Gemeinten heranführen. Das Gemeinte selbst aber ist nicht durch Sprache vermittelbar. Wittgenstein schreibt:

„Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist.“

Das Bewusstsein für das Prekäre des vergesellschafteten Sprachgebrauchs und die Suche nach einem Jenseits der Sprache förderte vermutlich auch das um die Jahrhundertwende zu beobachtende Interesse etwa Hofmannsthals an außersprachlichen Ausdrucksformen wie Ballett oder Pantomime. Nicht zufällig finden sich auch in den gemeinsam mit Richard Strauß realisierten Opernprojekten immer wieder Gesten des sprachlichen Verstummens.

Freilich: Manchmal schützt auch die allzu nachdrücklich betriebene Geste des Verstummens nicht vor Geschwätzigkeit: Das zeigen die vielen populären Rilke Nachahmer, Ursprungs- und Innerlichkeitsjünger bis in unsere Tage hinein. Es schadet daher nicht, sich letztlich an Ludwig Wittgenstein zu halten und an seinen berühmten Satz:

„Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.“

„Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“ (2/3)

Der französische Kulturwissenschaftler Jaques Le Rider

Jaques Le Rider im Gespräch mit Dagmar Lorenz

Bereits in der Antike taucht die Frage auf, ob Sprache wirklich zur Verständigung taugt. In späteren Epochen wird dieser Zweifel als Bruch zwischen Sprache, Subjekt und Wirklichkeit registriert. Doch erst um 1900 erfährt die aufkommende Sprachskepsis eine Radikalisierung.

Von dieser Radikalisierung handelt auch unsere Dreierserie „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“. Im zweiten Teil bringen wir dazu ein Gespräch mit dem französischen Kulturwissenschaftler Jacques Le Rider. Die Fragen stellt Dagmar Lorenz.

„Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“ (3/3)

Vom Jargon der Eigentlichkeit zum Gender Slang

Von Dagmar Lorenz

Die Angst vor der drohenden Verdrängung des Deutschen qua Fremdwort begleitet den Gebrauch der deutschen Sprache schon einige Jahrhunderte. Doch nicht nur Anglizismen rufen mit schöner Regelmäßigkeit engagierte Sprachkritiker auf den Plan.

Im dritten Teil unserer Dreierserie „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“ widmet sich Literaturwissenschaftlerin Dagmar Lorenz in ihrem Essay dem Thema

„Vom Jargon der Eigentlichkeit zum Gender Slang“

„Angry Birds für Bastler:
Ein Selbstbau-Gamecontroller soll die Haptik des Kultspiels „Angry Birds“ verbessern, eine Webcam das Wohnzimmer zur Skype-Telefonzelle aufrüsten und ein Mini-PC dumme Fernseher schlau machen: die Gadgets der Woche.“

Dies ist die Ankündigung zu einem Artikel über neue Computeranwendungen, gefunden in der Internetausgabe des Nachrichtenmagazins „Spiegel“: ein Text, der – so unschuldig er auch auf den ersten Blick daherkommt – sich in den Augen unserer deutschen Sprachhegerinnen und -heger gleich mehrfach versündigt haben dürfte.

Erstes Vergehen: die Überschrift, im Journalistenjargon auch „Headline“ genannt: Wäre der „Spiegel“ das Mitteilungsblatt einer x-beliebigen deutschen Stadtverwaltung und seine Redaktion das örtliche Presseamt, so hätte ein Satz wie: „Angry Birds für Bastler“ nie und nimmer die Zensur, pardon, die geschlechtersensible Sichtung der örtlichen Gleichstellungsbeauftragten passiert.

Aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit müsse es, so argumentierte dann unsere fiktive Gleichstellungsbeauftragte, zwingend heißen: „Angry Birds für Bastlerinnen und Bastler“ , oder „Angry Birds für Bastler Schrägstrich „innen““ oder – vermutlich eher in Universitätsstädten – „Angry Birds für „BastlerInnen“ mit groß geschriebenem Binnen-„I“. Denkbar wäre auch – das schlägt beispielsweise das vom Familienministerium einst finanzierte GenderKompetenzZentrum Berlin vor: „Angry Birds für Bastelnde“.

Zweites Vergehen: die leidigen Anglizismen. Viel gescholten etwa durch den Nestor der populären Sprachkritik, Wolf Schneider, der bereits Generationen von Absolventen deutscher Journalistenschulen mit Kursen und Buchtiteln à la „Deutsch für Profis“, respektive „Wege zu gutem Stil“, wie es im Untertitel heißt, in den rauen Medienalltag entlassen hat. Ob die „Gadgets der Woche“ Gnade vor seinen gestrengen Augen finden würden? Eher nicht.

Drittes Vergehen: Wie war das? „Ein Selbstbau-Gamecontroller soll die Haptik des Kultspiels ‚Angry Birds‘ verbessern, eine Webcam das Wohnzimmer zur Skype-Telefonzelle aufrüsten“. Die Vorstellung, dass eine Webkamera selbsttätig das eigene Wohnzimmer aufrüsten könnte – wenn auch vielleicht eher „umrüsten“ gemeint ist und das Ergebnis eine Telefonzelle zu friedlichem Gebrauch sein soll, mutet dann doch leicht gruselig an.

Ein Sprach-Unterhalter und Glossenschreiber wie Bastian Sick würde sich eine solche „Steilvorlage“, wie es heutzutage in Politik und Medien heißt, kaum entgehen lassen. Denn – ähnlich wie Wolf Schneider – verspricht auch Bastian Sick seinem Publikum vor allem einen Leitfaden zu vermeintlich richtigem Sprachgebrauch. Wenn auch sein Buch mit dem schönen Titel „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ zum spontanen Durchstöbern des Sprachdickichts ermuntert – am Ende der Exkursion stehen dann doch wieder Hinweisschilder. Im Vorwort heißt es dazu:

„Zunächst einmal ist es kein Lehrbuch, allenfalls ein lehrreiches Buch. Sie können es von vorn nach hinten lesen oder von hinten nach vorn oder einfach irgendwo mittendrin anfangen. Die Orientierung verlieren dabei können Sie nicht, denn überall sind Hinweisschilder aufgestellt, die Ihnen helfen, sich im Irrgarten der deutschen Sprache zurechtzufinden.“

Den Irrgarten der deutschen Sprache beackern darüber hinaus seit vielen Jahren diverse Sprachvereine, wie etwa die „Gesellschaft für deutsche Sprache“ oder der „Verein deutsche Sprache“. Letzterer hat einen sogenannten Anglizismen-Index herausgegeben, über den es sicherheitshalber auf der Vereinswebpage heißt:

„Der Anglizismen-Index ist weder puristisch noch fremdwortfeindlich.“

Dennoch muss man sich offenbar Sorgen machen, denn:

„Der Index ordnet die 7.400 aufgeführten Anglizismen zu 3 Prozent als den deutschen Wortschatz ergänzend ein; 18 Prozent differenzieren ihn zumindest, während 79 Prozent der Anglizismen des Index existierende, voll funktionsfähige und verständliche Wörter aus der deutschen Sprache zu verdrängen drohen.“

Die Angst vor der drohenden Verdrängung des Deutschen qua Fremdwort begleitet den Gebrauch der deutschen Sprache schon einige Jahrhunderte lang: Waren es in früheren Epochen vor allem Fremdwörter aus dem Französischen, so sind es schon seit einigen Jahrzehnten vor allem gewisse Anglizismen, welche mit schöner Regelmäßigkeit engagierte Sprachkritiker auf den Plan rufen. Letztere sorgen sich darüber hinaus auch immer wieder um Stilblüten, die falsche Verwendung von Dativ- und Genitiv-Formen, die sträfliche Vernachlässigung von Konjunktiven.

„Laienlinguistische Sprachkritik“ nennt solches Tun die akademische Sprachwissenschaft, die sich selbst wohlweislich jeder Werturteile enthält. Sie verweist auf den antiquierten Sprachbegriff, der solchen sprachlichen Reinheitsbestrebungen zugrunde liegt. Während sich in der Linguistik nämlich spätestens mit Ferdinand de Saussure zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Auffassung von Sprache durchsetzte, die, statt auf naturgegebenen Gesetzmäßigkeiten, auf einem per Konvention oder Vereinbarung geregelten System von Zeichen beruht, hielt die populäre Sprachkritik an einem Begriff von Sprache als einem Organismus fest, der „erkranken“ und „verfallen“ kann und deshalb „geschützt“, „bewahrt“ und „gepflegt“ werden muss.

Zuweilen allerdings kann es auch vorkommen, dass Sprachkritik sich gerade gegen die behauptete Naturwüchsigkeit eines bestimmten Sprachgebrauchs richtet. Allerdings: Auch in diesen Fällen handelt es sich nicht um Linguistik. Vielmehr fungiert hier Sprache als Symptom politischer, moralischer – oder auch ideologischer Positionen. Der öffentliche Sprachgebrauch und die Debatten darüber spiegeln ein Stück deutsche Gegenwartsgeschichte wider – was die folgenden Beispiele ohne Anspruch auf Vollständigkeit illustrieren:

Beispiel eins: Die Falschmünzer oder Adornos Jargonkritik:
Im Jahre 1964 – die Studentengeneration von 1968 saß noch weitgehend geschlossen im Hörsaal – veröffentlichte Theodor W. Adorno im Frankfurter Suhrkamp-Verlag einen schmalen Band mit dem Titel „Jargon der Eigentlichkeit.“ Darin wandte er sich gegen bestimmte Sprechusancen im damaligen westdeutschen Kultur- und Gesellschaftsleben. Adorno schreibt:

Theodor W. Adorno (Archivbild aus dem Jahr 1968) wandte sich gegen bestimmte Sprechusancen im damaligen westdeutschen Kultur- und Gesellschaftsleben.  (Bild: AP Archiv)
Theodor W. Adorno (Archivbild aus dem Jahr 1968) wandte sich gegen bestimmte Sprechusancen im damaligen westdeutschen Kultur- und Gesellschaftsleben. (Bild: AP Archiv)

„In Deutschland wird ein Jargon der Eigentlichkeit gesprochen, mehr noch geschrieben, [ … ]. Er erstreckt sich von der Philosophie und Theologie nicht bloß Evangelischer Akademien über die Pädagogik, über Volkshochschulen und Jugendbünde bis zur gehobenen Redeweise von Deputierten aus Wirtschaft und Verwaltung.“

Gemeint sind die Sprachattitüden eines vermeintlichen Tiefsinns, die vor allem in den 1950er und 1960er-Jahren Konjunktur hatten. In den von Adorno beschriebenen Kreisen gab man sich gerne modernekritisch und dekorierte seine Sehnsüchte nach dem Überschaubaren, Naturhaften und Ursprünglichen mit solch hochtrabenden Floskeln wie dem “ Wesen der Dinge“ oder dem „Eigentlichen“ im Gegensatz zum „Uneigentlichen“. Abgeschaut ist diese Begrifflichkeit bei Martin Heidegger, der – so spöttelt Adorno – den Vorwurf des Provinzialismus dadurch entkräfte, dass er ihn positiv wende. Als amüsantes Beispiel hierfür dient Adorno etwa folgendes Stück Heidegger-Prosa:

„Wenn in tiefer Winternacht ein wilder Schneesturm mit seinen Stößen um die Hütte rast und alles verhängt und verhüllt, dann ist die hohe Zeit der Philosophie. Ihr Fragen muss dann einfach und wesentlich werden.“

Dazu Adorno:

„Ob Fragen wesentlich sind, darüber lässt allenfalls nach der Antwort sich urteilen, es lässt sich nicht vorwegnehmen und schon gar nicht nach dem Maß einer meteorologischen Ereignissen nachgebildeten Einfachheit.“

Wenn Adorno solche Passagen auf die darin verwendete Begrifflichkeit hin abklopft, geht es ihm nicht darum, eine, wie er schreibt, „bescheidene Anzahl signalhaft einschnappender Wörter“ auf den Index unerlaubten Wortgebrauchs zu setzen. Er beabsichtigt nach eigenem Bekunden vielmehr, der „Sprachfunktion“ dieser Signalwörter „im Jargon nachzugehen“.

Um „Jargon“ handelt es sich, nach Adorno, dann, wenn die konkrete Bedeutung an und für sich banaler Worte überspannt wird, bis letztere schließlich gar nichts Konkretes mehr bedeuten. Insofern bewirkt der Gebrauch des Jargons, dass es schließlich gar nicht mehr auf den Inhalt des Gesagten ankommt, sondern ausschließlich darauf, eine bestimmte Wirkung bei einem Publikum zu erzielen, dessen Zustimmung man sich ohnehin schon sicher sein kann. Argumentation ist da nicht mehr erforderlich, ebenso wenig muss man sich als Zuhörer der Mühe unterziehen, das Gesagte zu verstehen.

Jargonhafte, floskelhafte Sprache tendiert also zur Inhaltsleere. Ihre Worte sind, wie Adorno schreibt, beliebig „austauschbare Spielmarken“. Dennoch suggerieren Spielmarken-Begriffe, wie „Wesen“, „Eigentlichkeit“, „Urgrund“ fälschlicherweise, dass ihnen ein unveränderlicher Gehalt zukomme, der jeder Veränderung, jeder Geschichtlichkeit von Sprache entzogen sei.

Bei all seiner Kritik an der sprachlichen Falschmünzerei war es Adorno jedoch in letzter Konsequenz nicht um Sprach-, sondern um Ideologiekritik zu tun. Wenige Jahre später dann kam zwar der Gebrauch der „Eigentlichkeits-Sprache“ aus der Mode – der Jargon jedoch keineswegs. Der wandelte sich spätestens in den 1970er-Jahren zum ideologiekritischen Jargon der Frankfurter Schule. Und ein gutes Jahrzehnt lang tönte aus Volkshochschulen, Uni-Seminaren, evangelischen Akademien und Feuilletons das „Sich selbst zur Ideologie werden“ des „falschen Bewusstseins“ in ebensolch formelhafter Weise, wie vordem das Eigentliche aus den eingebildeten oder tatsächlichen Blockhütten der Heideggerianer.

Beispiel zwei: Von Unmenschen und Unwörtern:
Hatte es sich Adorno einst mit guten Gründen versagt, dem Jargon mit einem Index verbotener Wörter zu Leibe zu rücken, so sind andere Autoren in dieser Hinsicht weniger zögerlich. Die Kritik an einem Sprachgebrauch, der als scheinhaft, in ethischer Hinsicht defizitär oder als einem bestimmten Konzept von Wirklichkeit nicht angemessen empfunden wird, verführt offenbar zum Aussprechen von Berührungstabus – und zur Aufrichtung gebrauchssprachlicher Normen.

Dass damit zweifellos noble Absichten verbunden sein können, zeigt das bekannte Beispiel eines Buches, das 1957 unter dem Titel „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“ erschien. Verfasst hatten es die Publizisten Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind in der aufklärerischen Absicht, dem deutschen Publikum etwas mehr als ein Jahrzehnt nach dem Krieg die Sprache des Nationalsozialismus „fremd zu machen“, wie die Autoren sich ausdrückten.

Zahlreiche Wörter, die Sternberger und seine Mitautoren damals als sprachliche Symptome nationalsozialistischer Unmenschlichkeit auflisteten, darunter zum Beispiel „Zeitgeschehen“, „durchführen“, „Gestaltung“ oder „Kontakte“ – erscheinen uns heutzutage nicht mehr sonderlich suspekt zu sein. Den Autoren von damals war es allerdings nicht primär um isolierte Worte zu tun. Sie leiteten die Bedeutung eines Wortes aus seinem Gebrauch in bestimmten Zusammenhängen ab – wobei, wie sie behaupteten – die Kontextbedeutung im Verlaufe der Zeit in die Wortbedeutung eingehen und sie dominieren könne.

Aber: Sind es wirklich die Wörter, denen moralische Qualitäten zukommen? Oder sind diese moralischen Qualitäten nicht vielmehr als Eigenschaften von Sprechern zu betrachten, die diese Wörter zu bestimmten Zwecken gebrauchen? Dolf Sternberger jedenfalls war von der Existenz einer moralisch als unmenschlich zu wertenden Sprache überzeugt:

„Meine Behauptung, nein: meine Überzeugung ist, dass diese Maßstäbe der Sprache nicht fremd oder äußerlich, sondern ganz und gar angemessen und eingewachsen sind – eben deswegen, weil die Menschlichkeit der Sprache ihr letztes und schärfstes Wesensmerkmal bildet, und weil man sich Geist und Sprache ’nie identisch genug denken kann‘ – im Guten wie im Bösen.“

Solchen sprachkritischen Programmen widersprach schon damals der Sprachwissenschaftler Peter von Polenz, erblickte er in ihnen doch untaugliche Versuche, eine moralisch motivierte Kulturkritik mit Hilfe veralteter sprachwissenschaftlicher Methodik zu begründen: Denn solches Urteilen über „die Sprache“ ignoriert, nach von Polenz, ihre Unterscheidung in „langue“ , dem durch Regeln bestimmten Sprachsystem, und „parole“, der in ihm realisierten Redeweise. Peter von Polenz:

„Sobald aber solche Deutung von Sprache zu einer Verurteilung wird [ … ], müssen sich die Wege von Sprachkritik und Sprachwissenschaft trennen. Sprachkritik hat es dann nur mit Sprache als ‚parole‘ zu tun, ist also Stilkritik gegenüber dem Sprachgebrauch. Erhebt sich dennoch Anspruch auf Sprache als ‚langue‘, ist sie nur eine Methode der Kulturkritik.“

Dergleichen Einwände jedoch bewirkten wenig. Statt sich in mühsamer Kleinarbeit den Strukturen der Sprache und den historischen Ursachen eines bestimmten Sprachgebrauchs zu nähern, schien es verlockender, das gesamte Sprachsystem selbst in den moralischen Wertemaßstab einzubinden. Das jedenfalls suggeriert der Buchtitel „Linguistik der Lüge“ von Harald Weinrich, der seit seinem Erscheinen im Jahre 1966 immer wieder zahlreiche Neuauflagen erlebte. Dort heißt es:

„Es besteht kein Zweifel, dass Wörter, mit denen viel gelogen worden ist, selber verlogen werden. [ … ] Wer sie dennoch gebraucht, ist ein Lügner, oder Opfer einer Lüge. Lügen verderben mehr als den Stil, sie verderben die Sprache.“

Hatten sich Dolf Sternberger und seine Mitautoren in ihrer Sammlung „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“ noch die Mühe gemacht, die zu kritisierenden Wörter und Wortzusammensetzungen – wenn auch mit linguistisch unzureichenden Mitteln – in ihren unterschiedlichen historischen Funktionalisierungen zu analysieren, so begnügen sich neuere normative Sprachkritiken mit dem moralisch begründeten Verdikt. Eine sprachkritische Aktion, die alljährlich immer wieder für entsprechende Meldungen in den Medien sorgt, ist etwa die von einer Jury aus Germanisten und journalistischen Gastjuroren vorgenommenen Wahl zum „Unwort des Jahres“.

Zum „Unwort des Jahres“ werden in jedem Jahr bis zu drei Begriffe aus dem aktuellen öffentlichen Sprachgebrauch gewählt und der Öffentlichkeit als abschreckende Negativ-Beispiele präsentiert – und zwar mit dem volkspädagogisch inspirierten Ziel, wie es im Internet heißt,

„das Sprachbewusstsein und die Sprachsensibilität in der Bevölkerung zu fördern.“

Chancen, in die nähere Wahl zum „Unwort des Jahres“ zu kommen, haben dabei , so der Informationstext,

„Wörter und Formulierungen, die gegen sachliche Angemessenheit oder Humanität verstoßen.“

Näher erläutert wird dies anhand von Beispielen. So sind Wörter und Wendungen zu indizieren,

„weil sie gegen das Prinzip der Menschenwürde verstoßen,
weil sie gegen das Prinzip der Demokratie verstoßen,
weil sie einzelne gesellschaftliche Gruppen diskriminieren,
weil sie euphemistisch, verschleiernd oder gar irreführend sind.“

Dass Wörter immer in komplexe und teilweise höchst unterschiedliche kommunikative, zeitliche und situative Zusammenhänge eingebunden sind, die ihre jeweilige Bedeutung konnotieren, dass diese Bedeutungen zudem häufig nicht eindeutig bestimmbar, geschweige denn bewertbar sind, dass daher die Juroren ihre Kritik am einzelnen Wort geradezu zwangsläufig mit einer oft auf subjektiver Einschätzung fußenden Haltung begründen müssen, die seinem Gebrauch – vermeintlich – zugrunde liege : all dies lässt sich am Beispiel eines der „Unwörter“ des Jahres 2011 besichtigen.

„Gutmensch. Begründung: Mit dem Ausdruck ‚Gutmensch‘ wird
Insbesondere in Internet-Foren das ethische Ideal des ‚guten Menschen‘ in hämischer Weise aufgegriffen, um Andersdenkende pauschal und ohne Ansehung ihrer Argumente zu diffamieren und als naiv abzuqualifizieren. Ähnlich wie der meist ebenfalls in diffamierender Absicht gebrauchte Ausdruck ‚Wutbürger‘ widerspricht der abwertend verwendete Ausdruck ‚Gutmensch‘ Grundprinzipien der Demokratie, zu denen die notwendige Orientierung politischen Handelns an ethischen Prinzipien und das Ideal der Aushandlung gemeinsamer gesellschaftlicher Wertorientierungen in gemeinsamer rationaler Diskussion gehören.“

Dass der Gebrauch der Vokabel „Gutmensch“ jener Demokratie widersprechen soll, zu deren Grundprinzipien die Redefreiheit gehört, erstaunt dabei ebenso wie die Tatsache, dass sich hier offenbar ein Gremium von Sprachkritikern anmaßt, darüber zu richten, welche Wörter den Prinzipien der Demokratie zuwiderlaufen und welche nicht. Einmal davon abgesehen zeigt das Beispiel jedoch, wie problematisch solche Verdikte im Namen des Ethischen sind, wenn sie es mit uneigentlichen Wortschöpfungen zu tun haben, die mit der Bedeutungskluft zwischen Gesagtem und Gemeintem spielen.

Der viel belächelte „Gutmensch“ ist dann eben nicht gleichzusetzen mit dem, wie die Sprachjuroren schreiben, „ethischen Ideal des guten Menschen“, sondern vielmehr mit dessen ironisch gezeichnetem Zerrbild. Klaus Bittermann, der dem „Gutmenschen“ schon 1994 ein ganzes Buch widmete, das er – in Anspielung auf das Wörterbuch des Unmenschen – mit Wörterbuch des Gutmenschen betitelte, zeichnet darin das satirische Porträt eines Typus aus einem ehemals politisch links gerichteten Öko-Milieu, in dessen Betroffenheitsjargon sich moralinsaure Selbstgerechtigkeit mit Gesinnungskitsch mischt.

Es spricht übrigens einiges für die historische Verwandtschaft des Gutmenschen mit den zahlreichen uns aus der Literatur des 19. Jahrhundert überlieferten Spießbürgern und gestrengen Tugendwächtern. Und schlägt man gar bei Friedrich Nietzsche und in dessen Schrift Zur Genealogie der Moral nach, so mag man selbst dem „guten Menschen“ nicht immer trauen:

„Alles, was sich heute als ‚guter Mensch‘ fühlt, ist vollkommen unfähig, zu irgend einer Sache anders zu stehn als unehrlich-verlogen, abgründlich-verlogen, aber unschuldig-verlogen, treuherzig-verlogen, blauäugig-verlogen, tugendhaft-verlogen. Diese ‚guten Menschen‘, – sie sind allesamt jetzt in Grund und Boden vermoralisiert und in Hinsicht auf Ehrlichkeit zu Schanden gemacht und verhunzt für alle Ewigkeit: wer von ihnen hielte noch eine Wahrheit ‚über den Menschen‘ aus!.“

Beispiel drei: Genderslang und Sprachdiktat:
Wer heutzutage, im Jahre 2012, von „den Studenten“ oder „den Lehrern“ spricht und damit Lehrer und Studenten beiderlei Geschlechts meint, der setzt sich dem Verdacht aus, eine männlich geprägte Sprache in frauendiskriminierender Absicht zu gebrauchen, oder, schlimmer noch: den Ausschluss von Frauen aus der Sprache zu betreiben. In jedem Falle wird er sich rechtfertigen müssen.

Da hilft es ihm wenig, dass er darauf hinweist, es handele sich bei „den Studenten“ um eine allgemeine Bezeichnung für Menschen, die studieren, und also keineswegs um eine „männliche“ Formulierung , in der die Frauen nur am Rande „mitgemeint“ sind, wie die feministische Sprachkritik immer wieder behauptet. Es hilft ihm ebenso wenig, dass er auf dem Unterschied zwischen Genus – dem grammatischen Geschlecht – und Sexus, dem natürlichen, biologischen Geschlecht, beharrt.

Und dass er demnach argumentiert: Das deutsche Sprachsystem kennte bekanntlich drei Genera, nämlich das Maskulinum, das Femininum und das Neutrum. Insofern sei mit dem simplen Kurzschluss vom grammatischen auf das natürliche Geschlecht nicht viel gewonnen – was Wörter belegten wie „das Mädchen“, „das Vereinsmitglied“ oder gar „der Tisch“.

Doch Argumente, die auf Sprachstrukturen Bezug nehmen, finden kaum mehr Beachtung. Vor rund drei Jahrzehnten hatten sich feministische Sprachkritikerinnen erstmals daran gemacht, „das Deutsche als Männersprache“ zu entlarven, wie ein Buchtitel von damals hieß. In der fragwürdigen Tradition staatlicher Sprachlenkung ließ sich daraus dann die Forderung ableiten, dass die Sprache nun zugunsten von Frauen geändert werden müsse.

Der daraus resultierende Jargon kompensatorischer Geschlechtergerechtigkeit herrscht inzwischen in allen Institutionen unserer Mainstream-Kultur. Im Bemühen, dem vermeintlichen Ausschluss von Frauen aus der Sprache zu begegnen und Frauen, wie es hieß, sprachlich „sichtbar zu machen“, wurden Personen-, Gruppen- und Berufsbezeichnungen kreiert, Syntax und Lexik teilweise verändert.

Über den korrekten Gebrauch der sogenannten „geschlechtergerechten“, beziehungsweise „geschlechtersensiblen“ Sprache in Behörden, Unternehmen und Universitäten wachen inzwischen Kontrollgremien, die sich wiederum auf entsprechende Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften stützen. Was dies für das Texten etwa von Infobroschüren bedeutet, wird in einer Checkliste zur Öffentlichkeitsarbeit des Familienministeriums wie folgt erläutert:

„Geschlechtersensibel heißt nicht nur, auf differenzierende Formulierungen zu achten, sondern auch, ausschließlich männliche Formulierungen gerade in männlich dominierten Bereichen (wie zum Beispiel „Wissenschaftler“, „Professor“, „Chef“) bewusst zu vermeiden. Sprachklischees sollten tabu sein (‚Lieschen Müller‘ für die Frau von der Straße mit dem einfachen Begriffsvermögen, ‚Otto Normalverbraucher‘ für den Durchschnittstypen in der Gesellschaft). Verallgemeinernde Aussagen sollen durch differenzierte Aussagen zu Männern und Frauen ersetzt werden. Sexismen sind nicht akzeptabel. Eingangsbemerkungen bei Broschüren oder Berichten wie ‚Zur besseren Lesbarkeit wird das generische Maskulinum verwendet‘ oder ‚Bei männlichen Formulierungen sind Frauen mitgedacht‘ sind ebenfalls nicht akzeptabel.“

Mit der Gerechtigkeit ist das ja bekanntlich so eine Sache: Wer sie partout herbeizwingen will, verkehrt die gute Absicht oft ins Gegenteil: Und so wäre es ja denkbar, dass es gerade der von den Geschlechtersensiblen beförderte sprachliche Separatismus ist, – diese geradezu obsessive Einteilung aller Tätigkeiten, Personen und Bezeichnungen in „weiblich“ und „männlich“ – , der zu einer nahezu ausschließlichen Hervorhebung des biologischen Geschlechts führt – und damit gerade zur wohlfeilen Zementierung jener Geschlechterklischees, die man doch vorgeblich bekämpfen will.

Daneben freilich machen sich die Widerhaken des sprachlichen Geschlechtergerechtigkeits-Programms schon in kurzen alltagssprachlichen Sätzen störend bemerkbar: Dann nämlich, wenn Klammer- und Bindestrich-Bezeichnungen ebenso wie das berühmte große Binnen-I mitten im Wort, lästige Verständnisbarrieren vor ZuhörerInnen und LeserInnen auftürmen, wie folgender Satz der Sprachwissenschaftlerin Ingrid Samel unfreiwillig belegt:

„Ob sich mit dieser Variante des Sprachgebrauchs Sprecherinnen und Sprecher, die der Sprachideologie der Gleichbehandlung anhängen, gegenüber den Vertreterinnen und Vertretern der androzentrischen Sprachideologie durchsetzen, kann von Sprachdokumentarinnen und -dokumentaren beobachtet werden.“

Doch Gerechtigkeit kann auch erfinderisch sein. Zwar geht man nicht soweit, aus sprachökonomischen Gründen wieder auf das bewährte generische Maskulinum zurückzugreifen, doch man kreiert Auswege. Und so hat es sich in jüngster Zeit eingebürgert, die groß geschriebenen Binnen I-s und Schrägstrich-Kompositionen durch ein – scheinbar neutrales – Partizip zu ersetzen.

Auf diese Weise lassen sich dann tatsächlich gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: Die lästigen Paarbezeichnungen – „Studentinnen und Studenten“ – inklusive Klammerkonstruktionen kann man sich guten Gewissens sparen – ohne in den hässlichen Verdacht zu geraten, in männliche Sprachdominanz zurückzufallen. Und so ist es sicher kein Zufall, dass sich das substantivierte Partizip Präsens als neue geschlechtergerechte Personenbezeichnung vor allem an Universitäten zunehmender Beliebtheit erfreut.

Ob das Partizip also wirklich zum Genus-Ersatz taugt? Auch die Journalistin Ulrike Steglich zweifelt in ihrer Internetglosse daran, nachdem sie als Redakteurin einer Berliner Stadtteilzeitung offenbar so manches Mal mit geschlechtersensiblen Sprachvorschlägen bedacht wurde:

„Was feministisch angeblich korrekt ist, ist einfach grammatischer Schwachsinn. Zeitformen scheinen für die Frauenbewegten keine Rolle mehr zu spielen. Meine Söhne lernen gerade Partizipien – was sollen sie, bitte schön, aus diesem -enden-Quark lernen? Ein Lesender ist nun mal etwas anderes als ein Leser. Wer schützt Autoren vor diesem Sprachirrsinn? Und warum liest man in feministisch bewegten Foren eigentlich nie von ‚VerbrecherInnen‘?“

Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus der vereinfachenden Optik, welche – seit den 1980er-Jahren – die vorherrschende Tradition der populären feministischen Sprachkritik in der Bundesrepublik Deutschland bestimmt. Sprache wird in dieser durch die Autorinnen Luise F. Pusch und Senta Trömel-Plötz repräsentierten Tradition ausschließlich als Ausdruck männlicher Vorherrschaft und Macht betrachtet, Kommunikationshandlungen eindimensional nach der Zugehörigkeit der Beteiligten zum männlichen oder weiblichen Geschlecht interpretiert und bewertet: Was dann regelmäßig im essentialistischen Klischee mündet, wonach „der Mann“ einen konfrontativen Gesprächsstil praktiziere, während „die Frau“ in friedlicher und kooperativer Weise kommuniziere.

Dass solch naive Zuschreibungen durch keine seriöse empirische Forschung belegt werden kann – darauf macht in den letzten Jahren eine jüngere Generation von Sprach- und Kulturwissenschaftlerinnen aufmerksam. In ihren Augen mehr als fraglich ist auch jene simplifizierende Vorstellung, auf der letztlich die behördlichen Regelungen zum Gebrauch einer geschlechtergerechten Sprache fußen und die von der Voraussetzung ausgeht, dass staatliche Eingriffe in den Sprachgebrauch letztlich auch eine Veränderung des Denkens bewirken müssten. Die Sprachwissenschaftlerin Ruth Ayaß stellt in ihrem Buch über „Kommunikation und Geschlecht „gar die Frage,

“ … inwiefern die feministische Sprachkritik zu einer Veränderung von Sprache beigetragen hat. In offiziellen Dokumenten werden die Richtlinien für einen „geschlechtergerechten“ Sprachgebrauch heute vielfach umgesetzt. Ob sich dieser offizielle Wandel auch umfassend (über akademische Zirkel hinaus) in der Alltagssprache durchsetzen kann, ist fraglich. Auch andere Versuche von Sprachnormierungen erwiesen sich als eher erfolglos.“

Das allerdings wiederum lässt hoffen. Was aber das Reden und Schreiben in und über die Sprache angeht, so lohnt es sich, noch einmal nachzuschlagen – dieses Mal allerdings bei Jacob Grimm, der in der Vorrede zu seiner Deutschen Grammatik aus dem Jahre 1819 allen Sprachwissenschaftlern, Sprachkritikern und Sprachwächtern folgende Zeilen ins Stammbuch schrieb:

„Sobald die Kritik gesetzgeberisch werden will, verleiht sie dem gegenwärtigen Zustand der Sprache kein neues Leben, sondern stört es gerade auf das Empfindlichste. Weiß sie sich dagegen von dieser falschen Ansicht frei zu halten, so ist sie eine wesentliche Stütze und Bedingung für das Studium der Sprache und der Poesie.“