UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer: „Vor unseren Augen kreiert sich ein mörderisches System“. von Herbert Ludwig / FASSADENKRATZER Der UN-Sonderberichterstatter über Folter (englisch UN Special Rapporteur on Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment), Nils Melzer, warnt erneut eindringlich davor, dass investigativer Journalismus, der Kriegsverbrechen und andere Straftaten von Regierungen aufdeckt, von den USA…

Nils Melzer: „Vor unseren Augen kreiert sich ein mörderisches System“. — KRITISCHES NETZWERK – Subversiv & ablehnend gegenüber Imperialismus, Neoliberalismus, Ausbeutung Sozialdarwinismus, Überwachungsstaat, Desinformation

Die Perversion von Politik und Kunst

CDU, AfD und Bauhaus wollen nicht, dass Feine Sahne Fischfilet in Dessau auftritt. Nicht weiter schlimm. Dramatisch aber ist das Missverständnis, das dem zugrunde liegt.
Feine Sahne Fischfilet: Jan "Monchi" Gorkow, Sänger der Band Feine Sahne Fischfilet aus Mecklenburg-Vorpommern
Jan „Monchi“ Gorkow, Sänger der Band Feine Sahne Fischfilet aus Mecklenburg-Vorpommern © Daniel Karmann/dpa

Nun sage noch jemand, die deutsche Popmusik sei unpolitisch geworden oder habe keine Erkenntnisse mehr zur politischen Lage zu stiften. Das Gegenteil ist der Fall, nirgendwo gelangt die politische Lage so früh, so deutlich und unmittelbar zur Erscheinung wie im Pop. Falls jemand beispielsweise noch geglaubt haben sollte, dass es im Deutschland des Jahres 2018 eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem bürgerlichen Konservatismus und der Neuen Rechten gibt, dann zeigt die Gruppe Feine Sahne Fischfilet das Gegenteil auf: So wie sie beide in der Aggression gegen sich eint, demonstriert sie die Geistesverwandtschaft von CDU und AfD. Jetzt wieder in Sachsen-Anhalt, wo offenbar auf politischen Druck ein Konzert von Feine Sahne Fischfilet im Bauhaus in Dessau verboten wurde.

Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Niemand hat ein Recht darauf, im Bauhaus in Dessau aufzutreten, auch nicht Feine Sahne Fischfilet. Es handelt sich um eine Institution, in deren Stiftungsrat sich die politischen Mehrheitsverhältnisse im Land widerspiegeln. Und wenn die politische Mehrheit im Land sich für die Einschränkung der künstlerischen Freiheit ausspricht, dann haben alle Menschen, denen die künstlerische Freiheit am Herzen liegt, ja die Möglichkeit, bei den nächsten Landtagswahlen die politischen Mehrheitsverhältnisse zu ändern. Bis dahin bieten sich auch einer Band wie Feine Sahne Fischfilet immer noch genügend andere Auftrittsmöglichkeiten, auf die CDU und AfD keinen direkten Zugriff haben.

Dennoch ist interessant, wie das Bauhaus seine Entscheidung begründet. Das Konzert von Feine Sahne Fischfilet habe man abgesagt, weil „politisch extreme Positionen, ob von rechts, links oder andere … am Bauhaus Dessau keine Plattform“ finden sollten, heißt es in der Pressemitteilung. Auf welchem Weg man zu der Einschätzung gelangt ist, dass es sich bei Feine Sahne Fischfilet um eine „politisch extreme“ Band von „links“ handelt, wird nicht erläutert. Als „linksextrem“ gilt nach Definition des Amtes für Verfassungsschutz jeder, der „die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung“ überwinden und stattdessen „ein herrschaftsfreies oder kommunistisches System“ errichten möchte. Dieses Vorhaben kann man aus dem musikalischen Werk der Band nicht herauslesen. Sollte die Stiftung Bauhaus über neue Quellen und Informationen verfügen, so wäre es nützlich, wenn sie diese öffentlich machen könnte.

Seit Bekanntgabe des Auftrittsverbots haben viele Menschen in den sozialen Netzwerken ihre Zustimmung bekundet. Dies geschah meist mit der Begründung, dass Feine Sahne Fischfilet zu Gewalt gegen Polizisten aufrufe und vom Verfassungsschutz beobachtet werde. Korrekt ist, dass die Band zwischen 2011 und 2014 viermal im Verfassungsschutzbericht auftauchte, wegen vermeintlich staats- und polizeifeindlicher Passagen im Lied Staatsgewalt aus dem Jahr 2009. Darin erzählt der Feine-Sahne-Fischfilet-Sänger Jan „Monchi“ Gorkow davon, wie er auf einer friedlichen Demonstration von der Polizei grün und blau geprügelt wird, weil er eine Meinung verkündet, die den Polizisten nicht passt; und wie er daraus eine Rachefantasie entwickelt: „Was ihr könnt / können wir schon lange / Die Bullenhelme, die sollen fliegen / Eure Knüppel kriegt ihr in die Fresse rein.“ Dieser Vergeltungswunsch ist fraglos abzulehnen und der damit verbundene Antifa-Straßenkämpfer-Maskulinismus mindestens unangenehm. Gleichwohl handelt es sich um eine gesungene Passage in einem Lied, das wesentlich gerade nicht von Gewaltwünschen handelt, sondern von einem Ohnmachtsgefühl.

Seit wann ist Kunst 1:1 zu nehmen?

Man kann solche Fantasien zweifellos als realen Selbstermächtigungsaufruf interpretieren. Das geht aber nur dann, wenn man zugleich der Ansicht ist, dass es zwischen einem künstlerischen Ausdruck und einer politischen Aussage keinen Unterschied gibt; dass also alles, was in einem Lied oder auf einer Konzert- oder Theaterbühne geäußert wird, eins zu eins zu verstehen ist. Würde man diesem Argument folgen, müsste man beispielsweise auch sämtliche Auftritte des Rappers Sido verbieten, der in seinem Arschficksong auf drastische Art erzählt, dass er sexuelle Lust nur beim schmerzhaften Quälen von Frauen zu empfinden vermag. Sido trat im Jahr 2016 im Bauhaus in Dessau auf, ohne dass der Stiftungsrat, die CDU oder die AfD irgendeinen Protest dagegen erhoben hätten.

Viele Debatten der jüngeren Zeit, in denen das Verhältnis von Pop und Politik zur Sprache kam, umkreisten das Problem der Ambivalenz. Etwa wenn es darum ging, ob ein Rapper wie Kollegah seine antisemitischen und sexistischen Texte tatsächlich so meint, wie er sie äußert, oder ob es sich dabei nicht um ein „Rollenspiel“ handelt. Selbst bei scharfer Kritik an solchen reaktionären Figuren wurde die Möglichkeit der Ambivalenz, des Nicht-so-gemeint-seins, doch immerhin abgewogen. Bei der Kritik der Neuen Rechten an Feine Sahne Fischfilet wird diese Möglichkeit von vornherein ausgeschlossen. Für sie steht außer Frage, dass hier alles genauso gemeint ist, wie es gesagt wird. Darin – und das ist das eigentlich Interessante an diesem Fall – zeigt sich eine generelle Verkehrung von Ästhetik und Politik auf der Seite der Neuen Rechten.

Zu deren typischen und hinlänglich analysierten rhetorischen Mustern zählt ja gerade der strategische Gebrauch von Ambivalenzen, das Wechselspiel aus Provokation und Relativierung: Man sagt etwas, über das sich alle aufregen, und behauptet hinterher, es sei „alles nicht so gemeint“ gewesen. Dieses Muster stammt seinerseits natürlich aus dem Feld des Ästhetischen. Eigentlich ist die Kunst ja der Bereich des Lebens, in dem „alles nicht so gemeint“ ist, wie es erscheint. Auch Feine Sahne Fischfilet könnten dies für ein Lied wie Staatsgewalt in Anspruch nehmen. Es wird ihnen aber nicht zugestanden, und das nicht nur aus einem kurzfristig politischen Kalkül, sondern aus strukturellem Grund. So wie die Neuen Rechten die Politik ästhetisieren und mit kalkulierten Mehrdeutigkeiten durchsetzen – so wollen sie umgekehrt der Kunst jedes Recht auf Nicht-so-gemeint-sein entziehen. Es gehört zum Wesenskern dieser politischen Ideologie, dass sie die  Hoheit über die Ambivalenzproduktion absolut für sich allein beansprucht. Ästhetische Gegenstände kommen in diesem Weltbild nur noch als Medium zur Verbreitung eindeutiger politischer Botschaften vor.

Dieser Umstand wurde uns durch das Bauhaus Dessau jetzt noch einmal in dankenswerter Klarheit vor Augen geführt. Klar ist aber auch, dass in einer Gesellschaft, in der die Ästhetisierung der Politik und die Entästhetisierung der Kunst zum Abschluss gelangt, eine ästhetische Institution wie das Bauhaus kein Daseinsrecht mehr besitzt.

Überwachung: Wer blickt da durch? | ZEIT ONLINE. (3.11.13)

Niemand weiß, ob er überwacht wird. Und genau dieses Nichtwissen macht uns zu Sklaven des Internets. von 

So zynisch es klingt: Der NSA-Skandal hat auch sein Gutes. Seitdem Edward Snowden den Kontrollwahn der US-Geheimdienste ans Tageslicht gebracht hat, ist es mit der Internet-Lobhudelei vorbei. Die denkfaule intellektuelle Begleitlobby von Google, Facebook und Co. ist kleinlaut geworden. Wer bislang gegen ihre digital correctness verstoßen und es gewagt hatte, dem Jubelchor der Techno-Evangelisten zu widersprechen, der wurde per Mausklick als „Kulturkritiker“ aussortiert. Er war ein analoger Altmensch, der in der Besenkammer seiner Vorurteile die Morgenröte der Zukunft verschläft.

Tatsächlich ist nun eine konkrete Utopie zerplatzt, nicht irgendeine luftige Spinnerei, sondern ein ganz handgreifliches und sehr menschenfreundliches Versprechen. Mitten in dieser kontrollsüchtigen Gesellschaft, so lautete das Versprechen, schaffe das Internet eine Zone radikaler Freiheit. Hier könne sich der Bürger unbeobachtet bewegen; fern von den Argusaugen des Staates, ohne Polizei, Gesinnungskontrolle und den sanften Terror der Mehrheit, kurz: ohne den Großen Anderen, all die unsichtbaren Disziplinarmächte, die den Bürger unter Beobachtung stellen, die sein Reden und Denken regulieren und ihn auf Linie bringen. Das Netz sei ein Geschenk des Himmels, ein machtfreier Raum in der übermächtigen Moderne.

Nachdem sogar die Bundeskanzlerin ins Fadenkreuz der Schnüffler geriet, ahnen auch die Wohlmeinenden: Es war ein Irrtum. Das Internet ist zwar immer noch ein Medium der Freiheit, aber zugleich eine Technologie der Macht; es mag das jüngste Kapitel in der Geschichte der menschlichen Emanzipation sein, doch zugleich ist es auch das allerneueste Werkzeug in der langen Geschichte des Kontrollierens und Überwachens.

(…)

Nun wird es ziemlich gemein. Die Beobachtungsmächte – Internetindustrie und Staatsspäher – sammeln nämlich nicht bloß Daten, sondern verbinden und „konfigurieren“ die Informationen, die sie durch automatisierte Abschöpfung über eine Person gewonnen haben. Auf diese Weise entsteht ein digitaler Zwilling, ein beliebig aushorchbarer Doppelgänger im Netz, eine Chiffrenexistenz, die auch dann noch weiterlebt, wenn der Datenspender längst tot ist.

Dieser „persönliche“ Datenzwilling hat für den Originalmenschen etwas zutiefst Unheimliches, und zwar nicht nur deshalb, weil man ihn nicht sieht, sondern weil er zugleich aus Eigenem wie auch aus Fremdem besteht. Sein „Datenkörper“ verdankt sich der lebendigen Ausgangsperson und ihren Suchbewegungen; doch sein „Charakter“ und seine „Seele“ werden von der Internetindustrie definiert – von fremden Blicken, fremden Interessen, fremden Profilern.

Mit einem Wort: Das Ebenbild im Netz ist ein Wesen, das anonyme Beobachter aus Datenmaterie geformt und mit ihrer paranoiden Fantasie „beseelt“ haben. Das Ich ist wieder ein anderer, doch diesmal ist es kein freies Spiel mit wechselnden Masken, sondern es ist Ernst. Niemals wird man wissen, was das eigene Netzdouble so treibt, und niemals wird man erfahren, was die Beobachter alles erspäht, erkundet und gehortet haben. Es ist so, als habe man seinen Schatten verkauft. Der Ausdruck Entfremdung ist dafür ein recht harmloses Wort.

„Ich habe nichts zu verbergen.“ Das ist die Standardphrase, mit der viele achselzuckend auf den Speicherwahn reagieren, auf all die schmutzigen Geheimnisse, die nun aufgeflogen sind. „Ich fühle mich unbeobachtet. Ich denke nicht einmal dran.“

Aber stimmt das? Kann man sich vornehmen, einen Gedanken erst gar nicht zu denken – oder hat man ihn dann bereits gedacht? Die Perfidie der Überwachung besteht ja gerade darin, dass sich die Beobachter nicht identifizieren lassen; man weiß von ihnen nur, dass man nichts von ihnen weiß. Sie müssen gar nicht drohen und fuchteln, es reicht, wenn sie Ungewissheit erzeugen. „Nie sollst du wissen, wann wir dich beobachten, damit du dich nie unbeobachtet fühlen kannst.“ Die Späher sind einfach „da“, sie schleichen durchs Imaginäre und setzen das Leben des Einzelnen in den Konjunktiv: „Es könnte ja sein …“

Das reicht schon. Es könnte sein, dass man beobachtet wird – schon dieser Gedanke ist eine Nötigung, er macht unfrei und zwingt den Internetbenutzer dazu, sich in daueralarmierter Wachsamkeit mit dem Auge des Beobachters zu beobachten. Was weiß er, was ich nicht weiß? Bin ich verdächtig? Bin ich schuldig? Mit der fröhlichen Naivität des Maskenspiels, mit der oft gefeierten Wiederkehr des „Theatralischen“ im Netz, ist es vorbei. Nichts mehr scheint unschuldig und die gespielte Unschuld schon gar nicht.

Natürlich gibt es jederzeit die Möglichkeit, die Flucht nach vorn anzutreten, alle Masken fallen zu lassen und nichts mehr zu verschlüsseln. „Ich habe nichts zu verbergen, und genau das ist mein Geheimnis.“ Man zeigt sich dem anonymen Auge nackt und verbirgt sich durch Enthüllung. Doch seine alte Souveränität erhält man dadurch nicht zurück, denn schließlich tut man es nicht freiwillig.

„Sein ist Gesehenwerden.“ Dieser Satz des irischen Philosophen George Berkeley (1685 bis 1753) ist in der europäischen Kulturgeschichte eine heilige Formel, und in der Digitalmoderne scheint sich seine Einsicht zu erfüllen, wenngleich ganz anders, als sie einmal gemeint war. Für Berkeley ist es der Blick des Gegenübers, der als verlängerter Blick Gottes den Menschen anerkennt und in seinem Sein bestätigt. Ganz anders im Netz: Der Blick des „Gegenübers“ kann nicht erwidert werden, der weltliche Beobachtergott bleibt anonym, voller Argwohn und Rachsucht. Sein Blick ist panoptische Kontrolle, und der Gesehene wird in seinem „Sein“ durch ihn nicht geschaffen, sondern fragmentiert, gespalten, verunsichert.

Die Kulturgeschichte hält übrigens für einen Beobachter, der sich selbst nicht beobachten lässt, ein schönen abendländischen Ausdruck bereit: Es ist der Teufel. Natürlich könnte man den Teufel aus dem Netz austreiben. Man müsste es nur wollen.

Kolumne von Sascha Lobo NSA-Spähaffäre: Nur nicht nachlassen – SPIEGEL ONLINE.

Die Berichterstattung über die NSA-Spähaffäre leidet an zwei großen Problemen: Regierungen attackieren aufklärende Medien – und weite Teile der Bevölkerung interessieren sich kaum dafür.

(…)

Journalismus hat zwei Feinde. Höhere Mächte, die ihn unbrauchbar machen wollen. Und das Desinteresse des Publikums.

Spätestens mit der Spähaffäre hat sich gezeigt, dass die britische Regierung gegen Journalismus kämpft, und die deutsche Regierung interessiert sich allenfalls peripher dafür. Halt, halt, Übertreibungsalarm, gegen Journalismus kämpfen, kann das stimmen? Anfang Oktober bezeichnete der britische Geheimdienstchef die Veröffentlichungen zur Spähaffäre als Geschenk und Hilfe für Terroristen.

Gemeint war der „Guardian“, der Edward Snowdens Leaks publiziert hatte. Die Worte waren offensichtlich mit Billigung der britischen Regierung strategisch gewählt. Es folgte eine Artikelattacke des Boulevardblatts „Daily Mail“, garniert mit Zitaten aus dem Umfeld von Premierminister Cameron: Die Leaks hätten der Sicherheit der westlichen Welt „den größten Schaden der Geschichte“ zugefügt. Als wäre nicht die laufende Verwandlung von Demokratien in lupenfeine, lupenreine Überwachungsstaaten der eigentliche Schaden. Die Größe der Unverfrorenheit, mit der machtwillfährige Medien wie die „Daily Mail“ die Realität verdrehen, lässt sich an der Gegenreaktion erkennen: Mehr als 30 Chefredakteure der einflussreichsten Medien der Welt antworteten im „Guardian“.

(…)

Juli Zeh im Interview: „Ein beobachteter Mensch ist nicht frei“ | Kultur – Frankfurter Rundschau.

Juli Zeh im Interview„Ein beobachteter Mensch ist nicht frei“

 

Thomas-Mann-Preisträgerin Juli Zeh. Foto: dpa

Die Schriftstellerin Juli Zeh, ausgezeichnet mit dem Thomas-Mann-Preis, über die NSA-Affäre, Facebook und die drohende Herrschaft der Algorithmen.

Frau Zeh, in Ihrem offenen Brief an Kanzlerin Merkel schreiben Sie, dass Deutschland zum Überwachungsstaat geworden ist, wir einen historischen Angriff auf unseren Rechtsstaat erleben. Wieso scheint das kaum einen zu interessieren?

Es gibt eine große Verunsicherung darüber, was genau passiert, und ein diffuses Gefühl, dass man eh nichts dagegen unternehmen kann. Das ist ja auch genau das, was die Bundesregierung uns signalisiert. Ich glaube, es wird Jahrzehnte dauern, bis das Ausmaß der Veränderungen ins Bewusstsein der Leute wirklich einsickert. Das hat man auch bei anderen großen gesellschaftlichen, quasi revolutionären Veränderungen gesehen, dem Umweltschutz oder dem Kampf für Frauenrechte.

Könnte es nicht auch sein, dass sich viele gar nicht betroffen fühlen? Es wird ja gern gesagt: Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten.

Ich glaube nicht, dass die Leute das wirklich denken. Das sagen sie, damit man sie mit dem Problem in Ruhe lässt. Wenn man jemanden sagt: Gib mir mal deine Festplatte und lass mich kurz deine E-Mails durchlesen, dann bekommt doch jeder ein mulmiges Gefühl. Die meisten möchten doch nicht einmal, dass die Partnerin oder der Partner die eigenen Mails liest, weil wir nämlich wohl etwas zu verbergen haben. Nicht ein Verbrechen, sondern einfach nur das, was man Privatsphäre nennt. Ein intimer Raum, der uns immer latent peinlich ist und den wir schützen. Ich denke, wer nichts zu verbergen hat, der hat bereits alles verloren.

Wie meinen Sie das?

Die Fähigkeit, Geheimnisse zu haben, oder anders gesagt: das Bewusstsein dafür, dass es eine Intimzone gibt, ist eigentlich das, was den Menschen wirklich ausmacht. Es ist etwas, das zu unserem Wesensgehalt gehört, zu unserer Würde. Ein Gefühl von Scham, ein Gefühl von Peinlichkeit, ein Gefühl, nicht angeschaut werden zu wollen, das schützt unsere Identität. Wenn wir das aufgeben und sagen, ihr dürft mich alle nackt anschauen, fotografieren und meine Briefe lesen, dann gibt man seine Persönlichkeit auf, seinen Stolz, seine Würde und auch seine Identität. Man kann irgendwann nicht mehr „Ich“ sagen. Ohne Geheimnisse gibt es kein Ich. Man verliert dann im Grunde sich selbst. (…)

 

Prism-Affäre: „Stoppen Sie das, Mister Obama!“ | Kultur | ZEIT ONLINE.

Der große Wissenschaftler Noam Chomsky über den amerikanischen Überwachungsskandal und die Angst des Staates vor dem Bürger.

Der amerikanische Linguistik-Professor Noam Chomsky im August 2010 in Peking

Der amerikanische Linguistik-Professor Noam Chomsky im August 2010 in Peking

Eine halbe Stunde bevor Noam Chomsky eintrifft, sind im ehemaligen Bonner Bundestagsgebäude nur noch Stehplätze frei. Eingeladen hat die Deutsche Welle, die ihren 50. Geburtstag feiert und (auch) aus diesem Anlass einen internationalen Kongress ausrichtet: „Die Zukunft des Wachstums und die Medien„. Chomsky ist der Star der Veranstaltung. Nach seiner Rede kommt es zu tumultartigen Szenen. Kongressteilnehmer stürmen mit Kameras auf ihn zu, andere bedrängen ihn mit Autogrammwünschen. Chomsky muss von Bodyguards geschützt werden. Wir treffen ihn in einem ruhigen Nebenraum.