Das Doku-Projekt „Made to Measure“ will untersuchen, ob man das Leben eines Menschen anhand seiner Google-Daten nachspielen kann. Das Experiment zeigt, wie wenig wir inzwischen noch überblicken, was Konzerne aus unseren Datenspuren alles herauslesen können.

Quelle: „Made to Measure“: Die Doppelgängerin

Dazu passt dieses Gespräch zwischen Wolfram Eilenberger und Adrian Daub über die geheimen Vordenker des Silicon Valley aus der tollen Gesprächsreihe „Sternstunde Philosophie“ des SRF (Schweizerisches Fernsehen): https://www.srf.ch/play/tv/sternstunde-philosophie/video/adrian-daub—die-geheimen-vordenker-des-silicon-valley?urn=urn:srf:video:ffa89a05-9cf3-42c0-9c11-bb6ee5529f1f .

Welche Philosophie steckt hinter Google, Facebook und Amazon? Es sind Intellektuelle wie Ayn Rand, Marshall McLuhan oder René Girard, auf die sich Tech-Ikonen des Silicon Valley gerne berufen. Der Literaturwissenschaftler Adrian Daub erklärt die philosophischen Wurzeln der digitalen Revolution.

Das innovative Zentrum der digitalen Revolution ist seit mehr als 50 Jahren das sogenannte Silicon Valley. Warum wurde ausgerechnet dieses schmale Tal im Norden Kaliforniens zum Ausgangspunkt der wohl grössten technischen Revolution der Menschheitsgeschichte? Welche Utopien waren dabei leitend? Welche Philosophinnen und Philosophen prägend? Diesen Fragen geht der in Stanford lehrende Literaturwissenschaftler Adrian Daub nach in seinem Buch «Was das Valley denken nennt. Über die Ideologie der Techbranche». Im Gespräch mit Wolfram Eilenberger legt Daub die Geister frei, die Tech-Ikonen wie Elon Musk, Mark Zuckerberg und Peter Thiel ins Leben riefen – und damit unseren Lebensalltag auch in Zukunft entscheidend prägen werden.

Was bedeutet eigentlich Überwachungskapitalismus und wer profitiert davon – die User*innen oder die grossen Unternehmen des Silicon Valley? Vermutlich letztere, die aus dem „sozialen Dilemma“ der ersteren Kapital schlagen – facebook ist nicht nur ein Netzwerk unter Freund*inen, Google weit mehr als eine Suchmaschine. Die amerikanische Ökonomin, Philosophin und Sozialpsychologin Shoshanna Zuboff (die auch in der Dokumentation „The Social Dilemma“ zu Wort kommt) hat den Begriff des Überwachungskapitalismus geprägt. Was genau ist das – und vor allem, was bedeutet es für die User*innen sozialer Netzwerke? Der Überwachungskapitalismus ist ein Verfahren, in dem nicht mehr Gewinn durch Umwandlung von Ressourcen mit Hilfe von Arbeit in neue Produkte generiert wird, sondern die menschliche Erfahrung selbst zum Rohstoff gemacht wird. Hierbei werden durch informationsverarbeitende Technologien menschliche Erfahrungen in Verhaltensdaten umgewandelt und verkauft, was Konzerne zu Profit führt und ihnen mehr Kapital einbringt. Das Verhalten der Menschen im Netz und in den sozialen Netzwerken liefert Erkenntnisse. Die großen Unternehmen machen diesen Verhaltensüberschuss zu Gewinn, indem sie aus freiwillig gelieferten Daten Prognosen zum Verhalten in der Zukunft tätigen – und außerdem die User*innen manipulieren. Gert Scobel setzt sich mit Fluch und Segen der sozialen Medien auseinander – auch und grade hier, auf youtube.

Dirk Helbing, Professor für Computational Social Science an der ETH Zürich, spricht über die Ära der Digitalisierung und die Herausforderung, deren Möglichkeiten zum Vorteil der Zivilgesellschaft zu nutzen.

Dirk Helbing im Interview mit Manuela Lenzen, Februar 2020

https://www.wiko-berlin.de/wikothek/koepfe-und-ideen/issue/15/das-kalte-paradies/

Überwachung: Alles vergeben, alles egal?

Als sich herausstellte, dass die Geheimdienste die Bürger umfangreich überwachen, war die Empörung nicht riesig, aber groß. Jetzt ist sie verpufft. Ein Essay über die Gesetze der Erregung
Überwachung: Das Kunstwerk "Menschentracks" von Florian Mehnert
Das Kunstwerk „Menschentracks“ von Florian Mehnert © Christoph Schmidt/dpa

Florian Mehnert wollte aufrütteln, gegen die Totalüberwachung mit den Mitteln der Kunst protestieren, drei Jahre lang. 2013 verwanzte er den Wald und veröffentlichte, was arglose Spaziergänger in die zwischen Laub und Ästen versteckten Abhörmikrofone sprachen. Die sogenannten Waldprotokolle, publiziert auf seiner Website, erzeugten tatsächlich ein paar Wutausbrüche besorgter Bürger, allerdings erregten sich manche mehr über die Spitzeleien des Künstlers, nicht über die Tatsache der Totalüberwachung selbst. Im Juni 2014 ging Mehnert mit dem Experiment Menschentracks an die Öffentlichkeit. Es handelte sich um eine Installation, die aus 42 Videofilmen fremder Smartphones zusammengesetzt war, deren Kameras und Mikrofone Hacker im Dienste des Künstlers ferngesteuert aktiviert hatten. Auch dies ein Versuch, eine Debatte über das Schwinden der Privatsphäre auszulösen, die jedoch mangels Resonanz nicht wirklich zustande kam.

Im März 2015 dann die nächste Aktion: 11 Tage. Elf Tage lang konnten Websitebesucher eine kleine weiße Ratte im Livestream beobachten und mit einer Paintball-Pistole, die mit einer Webcam verbunden war, verfolgen – eine Art Ego-Shooter- beziehungsweise Drohnen-Szenario, das mit dem Tod der Ratte enden sollte. Mehnert kündigte an, die Paintball-Pistole am elften Tag scharf zu schalten. Ein einzelner, zufällig anwesender Website-Besucher würde dann das Tier mit einem Mausklick erschießen. Der Künstler gab ein paar Interviews zu der Brutalität von Drohnen-Morden, dem eigentlichen Erkenntnisziel des Projekts. Dann explodierte alles in Form eines Shitstorms. Menschen unterzeichneten Petitionen, um die Ratte zu retten. Tierschutzvereine griffen den Künstler an. Hacker attackierten seine Website. Es hagelte Mails und Morddrohungen aus vielen Gegenden der Welt, was Mehnert schließlich dazu veranlasste, sich bei der Polizei zu melden und um Personenschutz zu bitten. Am sechsten Tag dann der Abbruch der Aktion und die für die Tierschutzgemeinde erlösende Nachricht: „Die Ratte lebt und hat die Installation verlassen.“

Auch hier heftete sich die Aufmerksamkeit der Empörten an das falsche Thema. Es ging gar nicht um einen vermeintlich skrupellosen Künstler und ein armes, unschuldiges Tier, sondern um den Versuch, die Stimmung aus Gleichgültigkeit, Resignation und Ohnmacht im Angesicht der Überwachung und der achselzuckend akzeptierten Drohnenmorde zu durchbrechen. Vielleicht fehlt dem Überwachungsskandal also einfach die Ratte, das sofort verständliche, emotionalisierende Bild des Opfers. Vielleicht sind die mutmaßlichen Terroristen, die von Drohnen erst beobachtet und dann umgebracht werden, schlicht noch zu weit weg. Vielleicht ist es ein Problem, dass in den Städten Europas keine schwarzen Hubschrauber landen und diejenigen mitnehmen, die irgendwie auffällig geworden sind. Vielleicht ist die Geschichte zu groß und zu abstrakt für das Fassungsvermögen des Menschen. Wer etwas bewirken will, muss vereinfachen. Nur wie?

Seit dem Urknall der Snowden-Veröffentlichungen im Sommer 2013 werden die Instrumente eines gigantischen Kontroll- und Spähapparats sichtbar, an dessen Existenz zuvor nur ein paar Nerds geglaubt haben. Deutlich geworden ist, dass Regierungschefs abgehört wurden, europäische Botschaften, das Berliner Regierungsviertel, das Handy der Kanzlerin, vermutlich Teile der deutschen Wirtschaft und Millionen von Bürgern. Natürlich blieb all dies nicht folgenlos. Immerhin hat man in Deutschland die Enthüllungen intensiv debattiert. Und es gab Demonstrationen, Petitionen, Wutausbrüche von Schriftstellern, Aktionen von Künstlern, Bestseller und Filme. Und es gab und gibt den NSA-Untersuchungsausschuss, der tatsächlich Ergebnisse produziert und zeigt, wie eng NSA und BND kooperiert haben. Auch lässt sich ein weltweit zunehmendes Interesse an Verschlüsselungstechnologien beobachten, selbst bei Netzgiganten wie Google, Facebook und Apple, die um das Vertrauen von Kunden schon aus Marketinggründen werben müssen.

Und doch zündet der Jahrhundertskandal nicht wirklich. Die kollektive Empörung des Publikums, die dem Ganzen erst die gesellschaftsverändernde Resonanz verleihen könnte, bleibt aus. Es existiert keine erfolgreiche NGO oder Partei, die mit dem Thema punkten könnte. Und wer weiß schon, auch nach all den Jahren, wofür Prism steht oder aber Tempora, Dishfire und XKeyscore? Etwa 300 verschiedene Überwachungs- und Spähprogramme sind bislang bekannt geworden, deren Namen niemand auswendig weiß. Auf eine endlose Zahl von Seiten ist der Wikipedia-Artikel zur Überwachungsaffäre angewachsen, gespickt mit informationstechnischem Spezialvokabular. Man kann einen Skandal auch in Details ertränken. Ermüdung durch Präzision.

Als Folge der spürbaren Überforderung und Ignoranz des Publikums hat eine mitunter verzweifelt wirkende Suche nach Strategien und Rezepten begonnen. Netzaktivisten wie Friedemann Karig halten Vorträge mit dem Titel Überwachung macht impotent. Oder sie wählen starke Metaphern wie die Rede vom „unsichtbaren Gift der Überwachung“ – eine Formulierung des Grünen-Politikers Konstantin von Notz. Andere hingegen, wie der Künstler Trevor Paglen, zeigen in Ausstellungen und Präsentationen investigativ entstandene Aufnahmen von Geheimdienst-Standorten und NSA-Unterwasserkabeln, denen eine bizarre, seltsam unheimliche Schönheit eigen ist. Es ist ein Versuch der Gegenspionage, der Überwachung von unten („sous-veillance“), die die Kamera als Waffe im Kampf um Sichtbarkeit benutzt. Wieder andere bringen die Schicksale der Whistleblower oder des WikiLeaks-Gründers Julian Assange auf die Bühne und lassen das Theaterpublikum mit eigenen Aktionen, gehackten Handys und der kribbelnden Drohung einer öffentlichen Blamage die Leichtigkeit des technischen Ausgeforschtwerdens spüren – nach dem Motto: Gleich werden wir alle sehen, auf welcher Pornoseite Sie gestern vorbeigeschaut haben!

Und natürlich gibt es den fulminanten Dokumentarfilm Citizen Four und die schwache Nachbereitung des Snowden-Schicksals in Oliver Stones aktuellem Kinofilm, der das moderne Heldenepos noch mal ein bisschen bunter nacherzählt, leicht fiktionalisiert. Auch die Satiriker haben sich längst zugeschaltet. Der bis dato spektakulärste Fall: John Oliver besuchte Edward Snowden in seinem russischen Exil und drängte ihn in einem höchst aufschlussreichen Interview, zukünftig nicht mehr über rätselhafte Spähprogramme, sondern über die Sammlung von Nacktfotos und Penis-Bildern durch die Geheimdienste zu sprechen. Er erfand ein „Dick Pic“- Programm, ein Penis-Bilder-Programm, spielte Videos ein, die wütende Reaktionen des Publikums zeigen – auch dies eine Intervention mit dem Ziel, dem Geschehen endlich Anschaulichkeit zu verleihen. Vielleicht lässt sich, so Olivers Botschaft, auf dem Umweg über Penisfotos und eine ziemlich riskante Kapitulation vor der Logik der Knalleffekte der Rohstoff der Publikumsempörung neu schürfen.

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TV-Kritik: Supernerds: Was passiert mit uns bei der Digitalisierung? – TV-Kritik – FAZ.

Webcams, Theater und Julian Assange: Mit einem Experiment leuchtete der WDR einige Abgründe der schönen neuen vernetzten Welt aus. Dass nicht alles klappte, ist egal. Denn der Sender riskierte etwas – inhaltlich und formal.

29.05.2015, von Frank Lübberding

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© WDR/Schauspiel Köln/Oliver Abraham Vergrößern Supernerds-Regisseurin Angela Richter und Wikileaks-Gründer Julian Assange

„Wir sind die Guten und fragen um Erlaubnis“, so der Journalist Richard Gutjahr; das machten aber „nicht alle so.“ Um diesen Satz drehte sich ein so interessantes wie lehrreiches Experiment im WDR. Im „Supernerds-Überwachungsabend“ ging es um die Konsequenzen der Digitalisierung.

Die Stichworte hat jeder schon einmal gehört. Es geht um das Sammeln der unzähligen digitalen Spuren, die wir jeden Tag hinterlassen. Um die Erstellung von Persönlichkeits- und Bewegungsprofilen, schließlich um die Überwachung unserer Aktivitäten durch die Geheimdienste. Nur haben wir das alles auch schon verstanden? Oder stolpern wir nicht mit unserem analog geprägten Hirn in diese schöne neue Welt, ohne uns über die Konsequenzen klar zu sein?

Sind Einblicke in die Privatsphäre selbstverständlich?

Aus dieser alten Welt stammt auch noch der Antagonismus von „gut“ und „böse“. Gutjahr erwähnte ihn, als es darum ging, ob der WDR die Computerkameras der Zuschauer nutzen darf. Sie zeigen den Zuschauer beim Zuschauen. Das ist mittlerweile so selbstverständlich geworden, dass sich niemand mehr groß Gedanken über einen solchen Zugriff auf die eigenen Privatsphäre macht. Ist das jetzt schon „gut“, weil der WDR um Erlaubnis fragt? Im Gegensatz zu den bösen Buben, die ohne viel Mühe Handys und Computer zum perfekten Spionagegerät umfunktionieren? Oder dokumentiert sich in dieser Selbstverständlichkeit nicht schon längst jener Strukturwandel in der digitalisierten Gesellschaft, der uns am Ende zu anderen Menschen machen wird?

Noch vor wenigen Jahrzehnten wäre niemand auf die Idee gekommen, dem Rest der Menschheit einen Blick in die eigenen vier Wände zu erlauben; selbst dann nicht, wenn man höflich gefragt hätte. Heute lassen sich viele Menschen freiwillig überwachen. Und das lag sicher nicht daran, weil sie ein junger Mann höflich um Erlaubnis bat.

Alles, was möglich ist, wird auch gemacht

Genau darum geht in der digitalisierten Gesellschaft: Wie sich unsere Lebenswelt verändert und sie sich den technologischen Bedingungen anpasst. Alles, was möglich ist, wird auch gemacht. Auf dieser Logik beruhte auch das Konzept der Sendung. Der „Überwachungsabend“ setzte auf das, was man mit dem digitalen Baukasten am besten kann: Daten zu verknüpfen, um ein Gesamtbild herzustellen. Das ging bis in die künstlerischen und journalistischen Formen hinein.

Es passierte zeitgleich unendlich viel: Ein Theaterstück im Kölner Schauspielhaus namens „Supernerds“. Einspieler zum Thema und Interviews mit Experten. Dazu die heute unvermeidliche Interaktivität mit dem Zuschauer vor Ort und vor den Bildschirmen. Die beiden Moderatoren, außer Gutjahr noch Bettina Böttinger, versuchten diese Teile vor dem Auseinanderfallen zu bewahren. Der Überwachungsabend wurde so zum Sinnbild für das heutige Multitasking. Sicher hat der eine oder andere Zuschauer noch nebenbei Fußball gesehen. Man will überall zugleich sein.

Julian Assange, überlebensgroß

An diesem Punkt wurde aber deutlich, wo das Problem liegt. Es ist eben keineswegs nur der hypertrophe Sicherheitsstaat, der mit der Chiffre 9/11 den Kampf gegen den Terror zu seinem zentralen Existenzzweck machte. Whistleblower wie Edward Snowden ermöglichten uns erst den Blick hinter die Kulissen dieses neuen Behemoth. Gestern Abend wurde der Wikileaks-Gründer Julian Assange live interviewt. Er erschien virtuell und überlebensgroß auf der Bühne des Kölner Schauspiels. Assange wirkte wie ein freier Mensch – und stand doch bloß in seinem kleinen Zimmer in der Botschaft Ecuadors in London. Er kann mit jedem Menschen auf der Welt reden, ist aber in Wirklichkeit eingesperrt. Seine Lebensbedingungen sind schrecklich. Ihm nützt die Freiheit nichts, gestern Abend live auftreten zu können.

Das war durchaus symbolisch. Das reale Gefängnis verträgt sich gut mit der Freiheit in der digitalen Gesellschaft. Nur baut man sich seinen Knast gleich selbst. Der Überwachungsabend versuchte das mit verschiedenen Experimenten anschaulich zu machen. Etwa wie man aus wenigen Informationen von einem Menschen viel über diesen erfahren kann. Oder wie das Kommunikationsverhalten einen Blick in das Wesen dieses Menschen erlaubt. Das reicht von Konsumpräferenzen bis zu sexuellen Vorlieben. Dabei ist man nur einen Klick weit davon entfernt, sich selbst zum Spitzel in eigener Sache zu machen. Die Möglichkeiten zum digitalen Einbruch sind bekanntlich vielfältig. Gutjahr demonstrierte aber am Beispiel von Überwachungskameras, was passiert, wenn man digitale Türen offen lässt. Viele senden ihre Bilder unverschlüsselt, selbst wenn sie eigentlich nur ihren Säugling beim Schlafen im Auge behalten wollen. So kann jeder zusehen, nicht nur die Eltern.

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Der dritte Kreis der Hölle: Dave Eggers’ „Der Circle“ im Vergleich mit Huxley und Orwell.

Dave Eggers’ „Der Circle“ Der dritte Kreis der Hölle

Normierung war einmal Sache der Polizei, in Dave Eggers’ Roman „Der Circle“ übernimmt es das Individuum selbst. Was verbindet und was trennt diese Dystopie von Orwells „1984“ und Huxleys „Schöne neue Welt“?

09.08.2014, von ANDREAS BERNARD

Artist's rendering of the proposed Amazon corporate headquarters in Seattle

© REUTERS Vergrößern Architektur für eine geschlossene Welt: Entwurf für das Amazon-Hauptquartier in Seattle

Es ist ein Kennzeichen der Gegenwart, dass Handlungen, die im 20. Jahrhundert unweigerlich auf autoritäre Staaten bezogen wurden, heute freiwillig und im Zeichen der Individualität geschehen. Auf dem Gebiet der Reproduktionsmedizin haben Verfahren wie die Pränatal- oder Präimplantationsdiagnostik dazu geführt, dass kaum noch Kinder mit Behinderungen geboren werden; besorgte Elternpaare lösen längst jenes prekäre Versprechen ein, das die Eugeniker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur forderten. In den Sozialen Netzwerken pflegen die Benutzer Tag für Tag ihre „Profile“ und teilen der Community per GPS-Signal die neuesten Joggingerfolge oder ihren Aufenthaltsort im Nachtleben mit – lauter Techniken der Wissenserzeugung also, die ursprünglich zur kriminologischen Erfassung abweichender Subjekte entwickelt wurden („Profile“ gab es mehr als hundert Jahre lang nur von Wahnsinnigen und Serienmördern, Ortungsdienste kamen zum Einsatz, um nach entflohenen Straftätern zu fahnden).

Die beiden berühmtesten Schreckensvisionen der Weltliteratur im 20. Jahrhundert spielen genau solche Szenarien totalitärer Unterdrückung durch, von der Empfängnis bis zum Tod. Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ von 1932 handelt von einem autoritären Weltstaat, der Liebe und sexuelle Fortpflanzung unter Strafe stellt und seine Untertanen durch künstliche Erzeugung in Flaschen fabrikgleich produziert. George Orwells „1984“, gut 15 Jahre später erschienen, entwirft das Bild eines Regimes, das seine Bevölkerung durch omnipräsente Bildschirme überwacht und gleichschaltet. Nun erscheint Dave Eggers’ „The Circle“ auf Deutsch, und in den Debatten, die das Buch in den Vereinigten Staaten ausgelöst hat, wurde es immer wieder in die Tradition dieser dunklen Klassiker gestellt.

Verfilmung von George Orwells "1984" © picture-alliance / akg-images Vergrößern Die düstere, klar erkennbare Dystopie: Szene aus einer Verfilmung von George Orwells „1984“

Drei literarische Dystopien, drei Geschichten von einem allmächtigen Gebilde, das seine Umwelt tyrannisiert – und es ist so entscheidend wie verstörend, dass Eggers, dessen Roman sich (bewusst oder intuitiv) stark an die Vorbilder Aldous Huxleys und George Orwells anlehnt, zunächst aus genau entgegengesetzter Perspektive erzählt, aus einer Sphäre der Freiheit und Selbstverwirklichung. In „Schöne neue Welt“ und „1984“ war vom ersten Satz an klar, dass man es mit einem repressiven politischen System zu tun hat (das Huxley als Reaktion auf die eugenischen Forschungen seines Bruders Julian, Orwell unter dem Einfluss des gerade zu Ende gegangenen Zweiten Weltkriegs erschuf).

„Der Circle“ dagegen beginnt in einer beinahe vertrauten Gegenwart, deren demokratische Verfassung immer wieder betont wird, in der Zentrale eines fiktiven Internet-Unternehmens, das nur konsequent zusammenführt, was Google, PayPal, Facebook oder Twitter seit eineinhalb Jahrzehnten unabhängig voneinander getan haben. Mit dem Social-Media-Konzept „TruYou“ hat die Firma Circle alle Konkurrenten überflüssig gemacht: „ein Konto, eine Identität, ein Passwort, ein Zahlungssystem pro Person. Schluss mit mehrfachen Identitäten. Ein einziger Button für den Rest deines Onlinelebens.“ Der Roman begleitet seine Hauptfigur, Mae Holland, bei ihrem heißersehnten Eintritt in den Konzern und ihrem Aufstieg durch die Hierarchien.

Was genau musste geschehen, dass die Internet-Community Nordkaliforniens, entstanden aus dem Geist der Hippies und der 68er-Kultur, von einem Roman in die Nähe totalitärer Regime gerückt wird? Auf den ersten Blick kann es ja keine verschiedenartigeren Konzepte geben: Der Circle ist ein soziales, humanitär engagiertes Unternehmen; seine Geschäftsmodelle feiern Individualität und unterdrücken sie nicht wie der Weltaufsichtsrat in „Schöne neue Welt“ oder der „Gedankentrust“ in „1984“. Dennoch entfalten die auf alle Gänge und Wände des Hauptquartiers projizierten Leitlinien–„Leidenschaft, Partizipation, Transparenz“ – nach und nach eine beklemmende und tyrannische Macht. Aus Freiwilligkeit wird Zwang, aus Aufklärung Despotismus, aus Einzigartigkeit Konformität, und die letzten Außenseiter, die sich diesem Terror der Sichtbarkeit widersetzen wollen, brechen zusammen oder kommen ums Leben, wie Maes engste Vertraute im Unternehmen und ihr ehemaliger Freund.

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