„Brief an die Heuchler“ von Charb auf Deutsch.

Beeilt euch, wenn ihr noch ein wenig lachen wollt!

Charb und wie er die Welt sieht: Zwei Tage vor seiner Ermordung schloss der Chefredakteur von „Charlie Hebdo“ ein Pamphlet ab. „Brief an die Heuchler“ erscheint jetzt in deutscher Sprache.

24.07.2015, von Andreas Platthaus

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© AFP Gegen die rassistischen Heuchler: Stéphane Charbonnier (1967 bis 2015)

Dieses Buch hat keine Bilder. Obwohl sein Autor einer der berühmtesten Zeichner der Welt ist. Das allerdings ist er erst seit dem 7. Januar 2015, dem Tag, an dem er starb. Beim Angriff zweier bewaffneter Männer auf den Sitz der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ in Paris wurde erst ein Wachmann erschossen, dann drangen die Attentäter in die Redaktion ein. Dort ermordeten sie Stéphane Charbonnier und weitere neun Menschen sowie einen Polizisten auf der Straße. Charbonnier war seit 2009 Chefredakteur und einer der produktivsten Zeichner des Blatts, Künstlername: Charb.

Andreas Platthaus  

Zwei Tage vor dem 7. Januar 2015 hatte Charb ein Manuskript abgeschlossen, das sich nicht nur deswegen wie ein Vermächtnis liest. Am Samstag kommt die deutsche Übersetzung heraus. Es ist das erste Buch von Charb auf Deutsch; in Frankreich sind rund zwanzig Titel aus seiner Feder erschienen, darunter das von ihm gezeichnete Album „La Vie de Mahomet“, zu dem die marokkanische Journalistin Zineb El Rhazoui das Szenario geschrieben hat. Darin wird das Leben des Propheten Mohammed in allen Widersprüchen der Überlieferung auf drastisch-krude Weise dargestellt. Keine leichte humoristische Kost.

Islamophobie als ein gutes Geschäft

Charb schuf als Zeichner nicht nur Zerrbilder, er gab selbst das beste Feindbild für radikale Muslime ab. Aber auch für Andersgläubige, und an die adressierte er seine letzte Streitschrift. Ihr Titel lautet „Brief an die Heuchler und wie sie den Rassisten in die Hände spielen“. Das französische Original bezeichnet die Adressaten des Briefs genauer als „escrocs de l’islamophobie“ (Islamophobie-Schurken), und es ist dieses Phänomen, dessen sich Charb in seiner Philippika annimmt. Islamophobie ist für ihn eine Schimäre, die allein der Stimmungsmache dient. „Warum stellen Leute, die aufrichtig gegen den Rassismus zu kämpfen scheinen, eine Zeitung wie ,Charlie Hebdo‘ als rassistisch dar? Eine Zeitung, die für das Wahlrecht der Einwanderer eintritt, die für eine Legalisierung der Situation von Ausländern ohne Aufenthaltspapiere kämpft und für antirassistische Gesetze eintritt … Müssten wir nicht Seite an Seite stehen? Gewiss, aber dabei gerät in Vergessenheit, dass sich diese Leute nicht wirklich für den Kampf gegen den Rassismus interessieren, sondern für die Förderung des Islams.“

Charb sieht eine breite Allianz solcher Förderer: radikale Muslime selbst, aber auch Katholiken, die dem Glauben höhere Würde zusprechen als den Werten der Aufklärung, weiße linke bürgerliche Intellektuelle mit ihrem „ekelhaften Paternalismus“ und die Medien, für die das Thema Islamophobie ein gutes Geschäft ist, obwohl Charb in dem, was sie als Informationen über den Islam ausgeben, die eigentlichen Karikaturen sieht. Er selbst dagegen beansprucht für sich und seine Kollegen die alte Berufsbezeichnung „Pressezeichner“; als Karikaturisten, so Charb, würden sie erst seit 2005 bezeichnet, als die dänischen Mohammed-Cartoons für Aufruhr in der Öffentlichkeit sorgten, weshalb nun jede Zeichnung des Propheten als Karikatur abqualifiziert werde.

Im Kampf zwischen Rassisten und Antirassisten

In diesen zehn Jahren hat sich bei „Charlie Hebdo“ die Zahl von dem Islam gewidmeten Titelbildern und Cartoons stark vermehrt: Als Thema bot die Auseinandersetzung mit dem Fundamentalismus das provokative Potential, das eine Satirezeitschrift braucht. Allerdings widmeten sich diese Zeichnungen nicht dem Islam als solchem, sondern dem Missbrauch seiner Lehre und Praxis durch Fanatiker. Deshalb lehnt Charb zu Recht den Begriff „Islamophobie“ ab, der sich überall in der westlichen Welt als pejorative Bezeichnung durchgesetzt hat; er spricht von „Islamismus-Phobie“, und gegen die könne wohl niemand etwas haben, der sich ansieht, was in der Welt passiert. Auch damit hat er recht.

Charb war überzeugter Kommunist nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, deshalb wurde für ihn „Rassismus“ die zentrale Kategorie politischer Auseinandersetzung. Im Kampf zwischen Rassisten und Antirassisten sieht er das aufgehoben, was bei Marx der Klassenkampf war. Der „Brief an die Heuchler“ ist denn auch viel mehr eine politische als eine ästhetische Streitschrift. Doch im vehementen Kampf von Charb gegen rechts wie links akzentuiert sich eine neue politische Frontstellung, die nicht mehr im klassischen Lagerdenken verharrt, sondern den Wertevorrat der Kombattanten prüft. Charb sieht sich mit allen im Bunde, die bereit sind, die Aufklärung zu verteidigen.

Ein Nachwort wäre hilfreich gewesen

Seine Feinde subsumiert er unter dem Rubrum „Kommunitarismus“, das in Frankreich eine andere Bedeutung hat als in Deutschland. Wir verstehen darunter eine amerikanische Denkrichtung der Soziologie mit starken Gemeinschaftswerten, während die früher starke Kommunistische Partei Frankreichs darin eine Perversion aufgeklärten Denkens sah, die ihr die Anhänger abspenstig machte. Das kommunitaristische Denken konkurrierte mit dem kommunistischen auf dieselbe Weise, wie es die Rede von Islamophobie in Charbs Augen mit dem Rassismus tut: heuchlerisch. Da wird ein alter Konflikt für den neuen fruchtbar gemacht. Das erschließt sich deutschen Lesern nicht; ein Nachwort wäre hilfreich gewesen.

Vor dem Hintergrund von Charbs Ermordung bekommen manche Passagen seines „Briefs an die Heuchler“ ganz anderes Gewicht, als es bei der Niederschrift beabsichtigt war. Wenn Charb schreibt: „Ich sollte eines Tages zum Spaß alle Drohbriefe von katholischen und muslimischen Fundamentalisten veröffentlichen, die mich in der Redaktion von ,Charlie Hebdo‘ erreichten“, dann stockt einem bei der Formulierung „zum Spaß“ der Atem, weil damit auch den Drohungen die Ernsthaftigkeit abgesprochen wird. Doch die Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst passte zum Stil von „Charlie Hebdo“. So sah Charb auch voraus, dass nach dem Attentat die Schuld daran oft den Satirikern zugeschoben wurde, weil sie es an der gebotenen Rücksicht auf religiöse Gefühle hätten fehlen lassen. „Beeilt euch, Freunde der Blasphemie“, steht spät in der Streitschrift zu lesen, „wenn ihr noch ein wenig lachen wollt!“ Ist es schon zu spät dazu? Von Charb jedenfalls wird es keine Bilder mehr geben. Und auch nicht von Cabu, Wolinski, Honoré und Tignous.

Charb: „Brief an die Heuchler“. Und wie sie den Rassisten in die Hände spielen.
Aus dem Französischen von Werner Damson. Tropen Verlag, Stuttgart 2015. 90 S., br., 12,- €.

Quelle: F.A.Z.

Anschlag auf „Charlie Hebdo“: Die Gewalt der Bilder | ZEIT ONLINE.

Wie kann es sein, dass der eine zum Bleistift und der andere daraufhin zum Gewehr greift? Ein Erklärungsversuch von 

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Ein Mann vor der improvisierten Gedenkstätte für die Opfer des Anschlags auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo” in Paris  |  © dpa

Porträts, denen die Augen ausgestochen werden. Skulpturen mit abgeschlagenem Kopf. Selbst kostbarste Zeichnungen, zu Fetzen zerrissen. Und immer ist es Zerstörung aus Angst, einer Angst vor Bildern, die so lebendig, so machtvoll scheinen, dass sie unbedingt ausgelöscht werden müssen. Bis heute ist die Geschichte der Malerei, der Fotografie, der Karikatur auch eine Geschichte ihrer Vernichtung. So blutig aber wie jetzt in Paris war sie noch nie.

Wie kann es sein, dass der eine zum Bleistift greift und ein anderer daraufhin die Waffe zieht? Was ist so gefährlich an ein paar rasch hingeworfenen Karikaturen, dass Menschen dafür sterben müssen? Worin gründet die Gewalt der Bilder?

Um mit einer schlichten Antwort zu beginnen: Jeder, der ein Foto seiner Liebsten zerschneidet, zerschneidet nicht nur ein Stück Papier. Wenn die Schere das Gesicht zerteilt, dann blutet niemand, und niemand schreit auf, und doch ist es ein seltsamer Vorgang, rabiat, erschreckend vielleicht. Denn im Bild ist etwas Abwesendes anwesend. Im Bild kommt dem Menschen etwas entgegen, das sehr fernliegen kann. Nur deshalb trägt ein Vater das Foto seiner Kinder in der Brieftasche mit sich herum: Er will nicht das Bild, er will die Kinder immer dabeihaben. Das Bild schenkt Nähe. Das Bild verleiht aber auch Macht.

Vor dieser Macht fürchten sich manche Urvölker, weil sie meinen, dass mit dem Klick der Kamera ein Teil ihrer selbst davongetragen und fremdbestimmt werden könnte. Es fürchten sich ebenso Prominente, die nicht abgelichtet, nicht „abgeschossen“ werden wollen und ihr Recht am eigenen Bild geltend machen, um der Fremdbeherrschung durch Fotografen und Medien zu entgehen. Umgekehrt wissen viele Mächtige die Macht der Bilder sehr zu schätzen. Sie inszenieren ihre Bedeutung, sie illustrieren ihren Einfluss. Manchmal, wie am Sonntag in Paris, demonstrieren sie im Bild ihren Zusammenhalt. Und weil das so ist, werden neuerdings regelrechte Bilderkriege geführt. Die Redaktionsräume in Paris waren das bislang letzte Schlachtfeld.

Übersicht zu diesem Artikel
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  1. Seite 1 Die Gewalt der Bilder
  2. Seite 2 Der Kampf wird auf symbolischem Terrain ausgetragen
  3. Seite 3 Ganz ohne Bildtabus kommt keine Gesellschaft aus