Der Schwarm als Meute

Wer in sozialen Netzwerken als Feind ausgemacht wird, ist verloren. Jon Ronsons „In Shitgewittern“ ist ein exzellentes Buch über öffentliche Demütigungen im Netz.
"In Shitgewittern": Die Guy-Fawkes-Maske, hier bei einem Protest in London, ist zum Symbol anonymer Mobilisierung geworden.
Die Guy-Fawkes-Maske, hier bei einem Protest in London, ist zum Symbol anonymer Mobilisierung geworden. © Peter Nicholls/reuters

Ist das Internet gekippt? Ökosysteme und Stadtviertel können schließlich auch kippen, warum dann nicht auch soziale Netzwerke? Heute vergeht kaum eine Woche, ohne dass der Schwarm jemanden teert, federt und einmal um den ganzen Globus treibt. Wenn das Internet jemals ein Sozialexperiment war, liegen jetzt die ersten Ergebnisse vor. Ermutigend sind sie eher nicht. Es geht zu wie bei Der Herr der Fliegen.

Der jüngste Fall, der groß genug war, um ein ganzes Land zu beschämen, liegt noch nicht lang zurück, die Betroffene hieß Tiziana Cantone: Im April 2015 hat die Italienerin intime Videos von sich an ihren Ex-Freund verschickt. Später sagte sie, die Videos seien in einer schwierigen Phase ihres Lebens entstanden, in der sie nicht ganz sie selbst gewesen sei.

Die Videos verbreiteten sich im Internet, plötzlich wurde Cantone auf der Straße erkannt, Leute trugen T-Shirts mit Zitaten aus den Filmen, überregionale Zeitungen berichteten über ihre Versuche, vor Gericht die Entfernung der Videos zu erstreiten und zu einem normalen Leben zurückzufinden. Gelungen ist es ihr nicht. Weil die öffentliche Erniedrigung einfach kein Ende nehmen wollte, hat sich Tiziana Cantone Anfang September erhängt.

Belanglose Tweets

Das erste Mal ist es 2013 vorgekommen, dass sich eine ganze Nation in den sozialen Netzwerken versammelt hat, um einer einzelnen Person das Leben zur Hölle zu machen. Damals betraf es die 28jährige Amerikanerin Justine Sacco. Es fing an damit, dass Sacco in London am Flughafen saß, auf ihren Flug nach Kapstadt wartete, und aus Langeweile ein paar belanglose, alberne Tweets schrieb. Sie hatte damals 170 Follower. Nach Twitter-Maßstäben war sie also im Grunde vollkommen allein.

Der letzte Tweet, den sie abschickte, bevor sie für elf Stunden ins Flugzeug stieg, lautete: „Ich fliege nach Afrika. Hoffentlich bekomme ich kein Aids. Nur ein Spaß. Ich bin weiß!“ Dann passierte erst einmal nichts. Kein Retweet, kein Kommentar, nichts. Justine Sacco schaltete ihr Telefon aus.

Millionen Kommentare

Kurz nachdem ihr Flieger in der Luft war, leitete einer ihrer 170 Follower den Tweet an einen Redakteur des amerikanischen Boulevardmagazins Gawker weiter, der ihn wiederum mit seinen 15.000 Followern teilte und die Sache ins Rollen brachte. Innerhalb von Stunden türmte sich eine beispiellose Empörungswelle auf. Millionen Kommentare, Drohungen, Beleidigungen stürzten auf Sacco ein.

Ihr Bild wurde verbreitet, zahllose Menschen forderten ihren Arbeitgeber auf, sie auf der Stelle zu entlassen, andere suchten jedes Detail über ihr Leben zusammen, das im Internet zu finden war, und verwendeten es gegen sie. Ihr Arbeitgeber veröffentlichte umgehend eine Erklärung, in der er sich offiziell von seiner Angestellten distanzierte.