Bei den 70. Internationalen Filmfestspielen von Berlin triumphiert erneut ein iranischer Film. Mohammad Rasoulofs kafkaeskes Puzzle »There Is No Evil« gewinnt den Goldenen Bären. Damit wird das Festival einmal mehr seinem Ruf, besonders für politische Filme geeignet zu sein, gerecht. Eliza Hittmans politisches Teenager-Drama »Never Rarely Sometimes Always« erhält den Großen Preis der Jury. Der…

Es gibt keine Mauern der Vorstellungskraft — intellectures

Film \“In ihren Augen\“: Die Liebe in Zeiten der Militär-Junta | ZEIT ONLINE.

Die Liebe in Zeiten der Militär-Junta

Das argentinische Melodram „In ihren Augen“ gewann überraschend einen Oscar. Doch der Film von Juan José Campanella über die unverheilten Wunden der argentinischen Militärdiktatur hat ihn verdient von 

Die Liebe zwischen Irene Hastings (Soledad Villamil) und Benjamín Espósito (Ricardo Darín) bleibt unausgesprochen

Die Liebe zwischen Irene Hastings (Soledad Villamil) und Benjamín Espósito (Ricardo Darín) bleibt unausgesprochen  |  © Camino Filmverleih

Mit diesem Film hatte bei der Oscarverleihung kaum einer gerechnet. Das weiße Band, Ein Prophet und Ajami galten als Favoriten für den Auslandsoscar. Aber die Wahl fiel auf den argentinischen Beitrag In ihren Augen: eine typisch konservative Entscheidung der Academy, wie viele vorschnell urteilten. Denn anders als seine künstlerisch wie narrativ eigensinnigen Konkurrenten setzt Regisseur Juan José Campanella auf klassisches Erzählkino. Der Tod und die Liebe sind hier die treibenden Kräfte.

Zu Beginn drei Erinnerungsfetzen: ein in verschwommenen Bildern illustrierter Abschied am Bahnhof, ein verliebtes Frühstück zu zweit und die kurzen, schockierenden Bilder einer Vergewaltigung. Drei Möglichkeiten, die Geschichte zu beginnen, aber alle drei landen im Papierkorb. Der pensionierte Ermittler Benjamin Espósito (Ricardo Darín) will ein Buch über jenen Fall schreiben, der ihn sein Leben lang nicht losließ. Eine junge Frau wird 1974 vergewaltigt und erschlagen, die Bilder des Opfers schleudern den jungen Gerichtsbeamten aus der beruflichen Routine. Gegen die Ignoranz seiner korrupten Vorgesetzten verfolgt er den Fall zusammen mit der jungen Richterin Irene Hastings (Soledad Villamil), bis sie den Täter ins Gefängnis gebracht haben. Aber schon bald kommt er wieder frei, weil er in der Haft kollaboriert und politische Gefangene ausspioniert hat. Die Militärjunta bahnt sich gerade den Weg zur Macht und im „Neuen Argentinien“ macht der verurteilte Mörder im Sicherheitsapparat Karriere.

Als ein Mordkommando seinen Kollegen erschießt, flüchtet Benjamin auf einen Posten in die Provinz und kehrt erst 25 Jahre später nach Buenos Aires zurück. In die Retrospektive des Falls mischt sich die zart melodramatische Geschichte einer unausgesprochenen Liebe zwischen Benjamin und Irene.

Regisseur Campanella, der den Roman von Eduardo Sacheri adaptiert, gelingt es, die beiden Erzählebenen so eng miteinander zu verschlingen, dass die kriminalistische Ermittlung und die Ermittlung der eigenen Gefühle oft kaum auseinanderzuhalten sind. Das ist spannend, herzzerreißend und durchzogen von tiefer Melancholie. Gleichzeitig verweist In ihren Augen – auch wenn ein unpolitisches Verbrechen verhandelt und die Zeit der Militärdiktatur fast vollkommen ausgeklammert wird – mit stiller Intensität auf die unverheilten Wunden der argentinischen Geschichte, stellt elementare Fragen nach Schuld, Strafe, Gerechtigkeit und zeigt, wie die traumatische Vergangenheit Täter und Opfer immer noch gefangen hält.

 

Heimatfilm: Heut samma net lustig! | Kultur | ZEIT ONLINE.

Heut samma net lustig!

Ein starker Heimatfilm: „Was weg is, is weg“

Ein absaufender Kleinbus, ein umgestürzter Strommast, ein abgesägter Metzgerarm und ein Atommeiler, der gerade im fernen Tschernobyl durchglüht. Wenn solche Ereignisse gleichzeitig geschehen, handelt es sich um ein echtes Katastrophal. Das ist laut Karl Valentin »eine Art Energie, und wenn die exeplidiert, dann geht’s los, dann is dö ganze Welt hi«. In diesem Fall stürzt die Welt der drei Brüder Hansi, Lukas und Paul ein. Ihre verzwickte Geschichte beginnt anno 1968, als sie noch unschuldige Bauernbuben sind und miterleben, wie der Onkel Sepp seinen Pursogator in Betrieb nehmen will, eine Wundermaschine zur endgültigen Lösung der Energiefrage. Ein Stromschlag beendet das Jahrhundertexperiment. Seither liegt der Erfinder im Koma, und die Familie Baumgarten fällt auseinander. 18 Jahre später beschließt Lukas, die Welt zu retten, und heuert auf einem Greenpeace-Schiff an. Der Prolet Hansi, Vokuhila-Frisur, kanariengelbes Sakko, knallrote Zuhälter-Schleuder, macht windige Geschäfte. Paul ist zu einem Riesenbaby mutiert und hält sich für Jesus. Am Ende führt das Katastrophal alle wieder zusammen, wobei der Lehrsatz von Beckett gilt, dass nichts so komisch ist wie das Unglück.

Was weg is, is weg ist die erste Regiearbeit von Christian Lerch. Der 46-jährige Schauspieler ist kein Neuling im Genre Schwarzer Humor. Er trat in Achternbusch-Filmen auf und war Co-Autor des Drehbuchs zu Marcus H. Rosenmüllers Wer früher stirbt, ist länger tot, einer Komödie, die 1,8 Millionen Kinobesucher begeisterte. Nun ist Lerch ein fulminantes Debüt gelungen: ein Roadmovie auf Feldwegen, ein wilder Schwank, der zwischen Kruzifix und Kernkraft, BMW-Kult und Ökorevolte, katholischer Frömmigkeit und blindem Zukunftsglauben spielt. Jenseits des Absurden treiben den Regisseur allerdings ganz andere Deformationen um: Es geht um das Säurebad der Modernisierung, in dem sich alle Traditionen auflösen, um den Fortschritt, der das ländliche Milieu, die heilige Familie, die sozialen Bindungen zersetzt. Und es geht um die Kraft des Beharrens, den urbayerischen Anarchismus, die List und den Witz der Provinz gegen den Irrsinn unseres Zeitalters.

Ein Heimatfilm im besten Sinne also: Er konterkariert die Heut-samma-lustig-Industrie und ihre leitkulturelle Jodelseligkeit. Was weg is, is weg ist eine Parabel auf das Unwiederbringliche, frei von Schmalz und Nostalgie, zutiefst provinziell und zugleich universell, denn sie thematisiert das Unbehagen an der Globalisierung und ihren Verwerfungen. »Der Mensch braucht so etwas wie Heimat«, sagt Lerch. Sein Film verströmt jenen rückbesinnlichen Zeitgeist, der in den vergangenen Jahren jede Menge Dorfgeschichten und Familienepen hervorgebracht hat, darunter auch grimmige Romane wie Josef Bierbichlers Mittelreich, die den Mythos von der guten alten Zeit dekonstruieren.
Die Drehorte im Umland von Kraiburg am Inn, einer unverkitschten Gegend an der Peripherie Oberbayerns, die Authentizität der Darsteller (herausragend: Maximilian Brückner als Hansi und Johanna Bittenbinder als Mutter Baumgarten), die unverkünstelte Mundart, die valentinös-becketteske Komik – man weiß nicht, ob das in der Norddeutschen Tiefebene ankommt. Aber wer wissen will, was ein Katastrophal ist, sollte sich Was weg is, is weg unbedingt anschauen.