„KDD“-Erfinder Orkun Ertener und sein Krimidebüt „Lebt“ – DIE WELT.

Jüdische Moslems zwischen allen Stühlen

Orkun Ertener ist einer unserer besten Drehbuchschreiber. Er hat „KDD“ erfunden, ist Grimmepreisträger. Jetzt gibt er sein Romandebüt mit einem mitreißenden Krimi. Beim Kölsch erzählt er, wieso.

Von Stellv. Ressortleiter Feuilleton
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Bevor jetzt jemand denkt, Kriminalliteratur sei ein unkompliziertes Geschäft. Es ist ein grauer Tag in Köln, an dem wir Orkun Ertener treffen. Und alles geht ein bisschen durcheinander. Ein grüner Schriftzug leuchtet durch den Regen. Bismarckstraße, Belgisches Viertel, eine vom nahen Medienpark zu einer Art Kölner Altona hochgejazzten Ecke der Domstadt.

„Alcazar“ steht in Grün über der Tür der Eckkneipe, die mal die legendäre alte Frau Schmitz gegründet hat. Der hat man im Krieg das Haus zerschossen. Bis zum ersten Stock hat sie’s wieder aufgebaut, dann kam eine Kölner Architektenlegende und hämmerte einen Kasten drüber, einen Kasten… Aber das ist jetzt wirklich eine andere Geschichte.

Drinnen jedenfalls, in der alten Frau Schmitz ihrem altem Laden, der jetzt auch schon seit Menschengedenken „Alcazar“ heißt, was irgendwie mal an französische Lebensart erinnern sollte, drinnen gibt es Frankfurter Grüne Sauce und Curry und ein obergäriges blondes Bier, das Symbol für freiheitliches Denken sein soll. Böll-Kölsch.

Ein Kriminalroman über (beinahe) alles

Alles hängt irgendwie mit allem zusammen. Bei zweimal Rindfleisch-Salat und zweimal Freiheitsbier geht es um die Qualen des deutschen Fernsehens und eine untergegangene jüdische Kultur, um die Freiheit des Menschen und die Mühsal des Schreibens von Romanen, um Türken, Osmanen, Doppelexistenzen, Religionen, Mord und Totschlag, das absolut Böse und Istanbul und Marburg.

Und eben um Orkun Ertener, Grimmepreisträger, Drehbuchgott, ein Mann, der so herzlich unkompliziert, uneitel und ruhig mitten mit Getöse des „Alcazar“ sitzt, als wäre er sein Buddha.

Das ist jetzt ungefähr so despektierlich, wie zu sagen, wer Krimis schaut im deutschen Fernsehen müsste Ertener vom Abspann kennen, von den Abspännen einiger der großartigsten Serien und der wenigen wirklich großartigen Münsteraner „Tatorte“. Obwohl das alles wiederum ein bisschen stimmt.

„KDD“ kann gegen Dänen und Briten bestehen

Es scheint erstens tatsächlich alles rund und ruhig an und um Orkun Ertener. Und dass er mit „KDD“ die einzige gescheite Kriminalserie neben Dominik Grafs „Im Angesicht des Verbrechens“ geschrieben hat, lässt sich nicht leugnen. Es gab Freitagabende, sie sind nicht so lang her, da liefen gleich zwei Serien („Die Chefin“ und „Letzte Spur Berlin“) hintereinander, die sich seiner Fantasie verdanken.

Aber deswegen sitzen wir hier jetzt nicht neben der Durchreiche an den herrlichen Tischchen. Oder doch. Ertener, 1966 in Istanbul geboren, mit vier Jahren nach Deutschland gekommen, in Rüsselsheim aufgewachsen, Student in Marburg, jetzt um die Ecke sesshaft, ist nämlich neben André Georgi und Sascha Arango gleich der dritte herausragende deutsche Drehbuchschreiber, der in diesem Jahr seinem bisherigen Brotberuf untreu wurde und einen Thriller geschrieben hat.

Drei Thriller von drei Drehbuchgöttern, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. „Tribunal“ heißt der von Georgi und führt vom Den Haager Gerichtshof für Menschenrechte mitten hinein in die klaffenden Wunden Ex-Jugoslawiens. „Die Lüge und andere Wahrheiten“ heißt der von Arango und ist das Beste, was Highsmithonians seit dem Ableben ihres Idols zu lesen sich wünschen konnten.

Mord- und Moralgeschichte

„Lebt“ heißt der von Ertener und er zeigt, zu was das Genre in der Lage ist, wenn man seine Grenzen nur weit genug auszutesten wagt. Erteners Debüt ist ein philosophischer Exkurs, Geschichtsunterricht, Mord- und Moralgeschichte und das blutige Drama mehrerer an und in sich selbst verzweifelnder Figuren.

Und das Produkt einer jahrzehntelangen Sehnsucht und langsam gewachsener Frustration. Schriftsteller, sagt Ertener, habe er eigentlich immer werden wollen. Literarisch geschrieben hat er immer.

Selbst die Exposés seiner Fernsehsachen sind ihm immer zu Erzählungen geworden. Weil er da schon versucht hat, einen Ton zu finden, einen Ton vorzugeben, hinter den zurück die Produzenten, Regisseure nicht mehr konnten.

Das Fernsehen ist ihm dazwischen gekommen

Das Fernsehen war nicht beabsichtigt, das ist ihm, der Schriftsteller werden wollte, zwei hessische Schriftstellernachwuchspreise eingeheimst hatte, dazwischen gekommen. Er hat Medienwissenschaft und Neuere deutsche Literatur studiert in Marburg. Dann hat ihn ein Kumpel zu einer Drehbuchwerkstatt geschleppt, einer Art Stipendium für Nachwuchsautoren.

Seine Serie „KDD“ hätte das ZDF verjüngen können, wurde aber am falschen Sendeplatz versenkt

Da ist er durchgefallen. Hat aber anschließend ein Kärtchen bekommen aus München. Von Silvia Koller, einer Fernsehlegende des Bayerischen Rundfunks. Die hatte im Auswahlgremium gesessen und war gerade ins Fernsehspiel des Senders gewechselt, verantwortlich auch für den „Tatort“.

Die hatte Ertener überzeugt. Nicht lang später saß Ertener, der in seinem Leben noch kein Drehbuch geschrieben hatte, mit einem Auftrag da. Er sollte einen „Tatort“ schreiben für das damals neue Duo Leitmayr und Batic.

Erstes Drehbuch, erster „Tatort“

Wann war egal. Das Thema aber nicht. Der hessische Sohn eines türkischen Rechtsanwalts und einer deutsch-italienischen Sozialarbeiterin sollte etwas über bayerische Volksmusik schreiben. „Und die Musik spielt dazu“ hieß die Folge. Erteners Drehburchdebüt war die 300. „Tatort“-Folge.

Das war 1991. Ertener war 25. Und weil das ganz gut lief und es die Aufbruchzeit der Privaten war und Auftrag nach Auftrag kam und Ertener zwei Kinder hatte, wurde der angehende Schriftsteller Ertener zum Drehbuchautor Ertener.

Die Familie zog um vom toten Hessenwinkel nach Köln. Ertener hatte sein fernsehfilmisches Lebensthema gefunden – horizontal erzählte Krimiserien wie „KDD“, Serien, die wie Romane funktionieren, Geschichten ihrer Figuren durchspielen über mehrere Folgen, Serien, die es mit den Dänen und Amerikanern aufnehmen können.

Vergeigte Verjüngung im ZDF

Weil das aber ein ziemlich zähes Geschäft war, wuchs die Frustration. Das ZDF zum Beispiel hatte „KDD“ – gespielt von einem championsleagueverdächtigen Team der besten deutschen Schauspieler – zur Verjüngung des Publikums dringend gebraucht. Setzte die Serie dann aber auf den „Derrick“-Sendeplatz auf den Freitagabend an, wo kein Unterdreißigjähriger mit einigermaßen intaktem Sozialleben den Fernseher einschaltet.

Der angegreiste Rest der Zuschauer wendete sich erschrocken ab von der harten, realistischen „KDD“- Welt, die da auf einmal im Wohnzimmer stand, und dem abendlichen Fischefüttern zu. Nach drei Staffeln verstarb „KDD“. „Die Chefin“ und „Letzte Spur“ wurden nicht so, wie er sich das gedacht hatte. Die Frustration war da.

Da kam der alte Romanplan ins Spiel. Seit Jahrzehnten war er da. Seit Anfang der Nullerjahre hatte er ein Thema. Sagt er. Da hatte er einen Dokumentarfilm gesehen über die Dönme. Eine ganz besondere Kultur.

Juden, konvertiert zum Islam

Eine jüdische Religionsgemeinschaft, gegründet vom Charismatiker Schabbtai Zvi im 17. Jahrhundert, die offiziell zum Islam konvertiert war. Bestens integriert, Motor der Moderne im toleranten multikonfessionellen Saloniki, Basis diverser Verschwörungstheorien (Kemal Atatürk soll – sagen die, die ihm und seiner Staatsidee schaden wollten – Dönme gewesen sein, er wurde, sagt Ertener, aber nur von Dönme erzogen).

Bevor sie dann zwischen die Stühle geriet. Zwangsumgesiedelt und mehr oder weniger enteignet, während des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustauschs in den Zwanzigern – sie waren ja Moslems –, verfolgt, ermordet Anfang der Vierziger von den Nazis – sie waren ja Juden. Sie beschlossen zu schweigen. Sie gaben sich auf. Heute sind sie vergessen. Humus für Verschwörungstheoretiker.

Das hat ihn fasziniert. Diese Doppelexistenz, diese Doppelperspektive auf die Welt, das Geheimnis, die Philosophie der Grenzüberschreitung, die das Denken der Dönme ausmacht. Der selbstgewählte Abbruch der Tradition, das nicht mehr Weitergeben von Kultur. Die Geschichtsgeschichten, die sich um die Dönme anlagern.

Die Geschichte eines Ghostwriters

Und dann hat er, dem das Schreiben schwerer fällt, als sich das Ergebnis am Ende liest, dem es Arbeit ist, sich hingesetzt, als der Fischer-Verlag gefragt hat, ob er denn eine Geschichte habe, und siebzig Seiten geschrieben. Den Anfang der Geschichte des Ghostwriters Can Evinman.

Der ist Mitte Vierzig, in Istanbul geboren, nach Deutschland gekommen, kein Klon von Ertener. Er schreibt – auf der Flucht vor dem eigenen – das Leben anderer auf. Dann soll er, der glaubt, seine Eltern seien, als er Kind war, bei einer Wattwanderung ertrunken, das Leben der Schauspielerin Anna Roth aufschreiben. Die ist verheiratet mit einem Großunternehmer von sinistrer, blendender Gestalt.

Schabbtai Zvi taucht auf, ein uralter Nazi, das absolut Böse. Can, der Lebensaufschreiber, erfährt, dass sein eigenes Leben nur aufgeschrieben war. Blut fließt, es wird alles immer schneller. Es geht alles in eins. Es ist kompliziert. Es geht alles auf. Es reißt einen mit.

Figuren – einsam, traurig und verzweifelt

Die Figuren sind so einsam, traurig und verzweifelt wie alle damals im „KDD“. Manchmal meint man wie damals am Freitagabend ein Klavier einsam hämmern zu hören. Wie die Glocken des Schicksals. „Lebt“ weiß viel. Und lebt trotzdem. Es hat Ton und Stil. Man lässt sich mitziehen über alle Bildungswiesen. Und freut sich über jede.

Ertener, der irgendwie keinen rechten Hunger auf Rindfleischsalat hat heute, erzählt noch davon, wie er das Echo der multikulturellen Türkei erlebt hat, als Kind, in den Ferien, unter lauter fünfsprachigen Verwandten. Und wie öde Istanbul spätestens seit Erdogan geworden ist.

Goldgräberstimmung im Fernsehen

Und vom Fernsehen. Dass da gerade eine Art Goldgräberstimmung herrscht. Dass da was zu gehen scheint mit dem neuen Online-Fernsehen, neuen Kooperationen, mit der allmählichen Anpassung der deutschen Produktions- und Finanzierungsgegebenheiten an internationale Standards.

Er will es abwarten. Er kann es abwarten. Er wird überall gebraucht. „Lebt“ ist ein großartiger Wurf geworden. Der zweite Roman ist im Werden.

Da geht er jetzt hin. Durchs Belgische Viertel. Die Sonne hat den Regen vertrieben. Im Alcatraz, hat er noch gesagt, gibt’s regelmäßig Singletanzbörsen. Inzwischen für unser Alter. Jetzt aber schnell weg aus dieser komplizierten Geschichte.