Überwachung: Alles vergeben, alles egal?

Als sich herausstellte, dass die Geheimdienste die Bürger umfangreich überwachen, war die Empörung nicht riesig, aber groß. Jetzt ist sie verpufft. Ein Essay über die Gesetze der Erregung
Überwachung: Das Kunstwerk "Menschentracks" von Florian Mehnert
Das Kunstwerk „Menschentracks“ von Florian Mehnert © Christoph Schmidt/dpa

Florian Mehnert wollte aufrütteln, gegen die Totalüberwachung mit den Mitteln der Kunst protestieren, drei Jahre lang. 2013 verwanzte er den Wald und veröffentlichte, was arglose Spaziergänger in die zwischen Laub und Ästen versteckten Abhörmikrofone sprachen. Die sogenannten Waldprotokolle, publiziert auf seiner Website, erzeugten tatsächlich ein paar Wutausbrüche besorgter Bürger, allerdings erregten sich manche mehr über die Spitzeleien des Künstlers, nicht über die Tatsache der Totalüberwachung selbst. Im Juni 2014 ging Mehnert mit dem Experiment Menschentracks an die Öffentlichkeit. Es handelte sich um eine Installation, die aus 42 Videofilmen fremder Smartphones zusammengesetzt war, deren Kameras und Mikrofone Hacker im Dienste des Künstlers ferngesteuert aktiviert hatten. Auch dies ein Versuch, eine Debatte über das Schwinden der Privatsphäre auszulösen, die jedoch mangels Resonanz nicht wirklich zustande kam.

Im März 2015 dann die nächste Aktion: 11 Tage. Elf Tage lang konnten Websitebesucher eine kleine weiße Ratte im Livestream beobachten und mit einer Paintball-Pistole, die mit einer Webcam verbunden war, verfolgen – eine Art Ego-Shooter- beziehungsweise Drohnen-Szenario, das mit dem Tod der Ratte enden sollte. Mehnert kündigte an, die Paintball-Pistole am elften Tag scharf zu schalten. Ein einzelner, zufällig anwesender Website-Besucher würde dann das Tier mit einem Mausklick erschießen. Der Künstler gab ein paar Interviews zu der Brutalität von Drohnen-Morden, dem eigentlichen Erkenntnisziel des Projekts. Dann explodierte alles in Form eines Shitstorms. Menschen unterzeichneten Petitionen, um die Ratte zu retten. Tierschutzvereine griffen den Künstler an. Hacker attackierten seine Website. Es hagelte Mails und Morddrohungen aus vielen Gegenden der Welt, was Mehnert schließlich dazu veranlasste, sich bei der Polizei zu melden und um Personenschutz zu bitten. Am sechsten Tag dann der Abbruch der Aktion und die für die Tierschutzgemeinde erlösende Nachricht: „Die Ratte lebt und hat die Installation verlassen.“

Auch hier heftete sich die Aufmerksamkeit der Empörten an das falsche Thema. Es ging gar nicht um einen vermeintlich skrupellosen Künstler und ein armes, unschuldiges Tier, sondern um den Versuch, die Stimmung aus Gleichgültigkeit, Resignation und Ohnmacht im Angesicht der Überwachung und der achselzuckend akzeptierten Drohnenmorde zu durchbrechen. Vielleicht fehlt dem Überwachungsskandal also einfach die Ratte, das sofort verständliche, emotionalisierende Bild des Opfers. Vielleicht sind die mutmaßlichen Terroristen, die von Drohnen erst beobachtet und dann umgebracht werden, schlicht noch zu weit weg. Vielleicht ist es ein Problem, dass in den Städten Europas keine schwarzen Hubschrauber landen und diejenigen mitnehmen, die irgendwie auffällig geworden sind. Vielleicht ist die Geschichte zu groß und zu abstrakt für das Fassungsvermögen des Menschen. Wer etwas bewirken will, muss vereinfachen. Nur wie?

Seit dem Urknall der Snowden-Veröffentlichungen im Sommer 2013 werden die Instrumente eines gigantischen Kontroll- und Spähapparats sichtbar, an dessen Existenz zuvor nur ein paar Nerds geglaubt haben. Deutlich geworden ist, dass Regierungschefs abgehört wurden, europäische Botschaften, das Berliner Regierungsviertel, das Handy der Kanzlerin, vermutlich Teile der deutschen Wirtschaft und Millionen von Bürgern. Natürlich blieb all dies nicht folgenlos. Immerhin hat man in Deutschland die Enthüllungen intensiv debattiert. Und es gab Demonstrationen, Petitionen, Wutausbrüche von Schriftstellern, Aktionen von Künstlern, Bestseller und Filme. Und es gab und gibt den NSA-Untersuchungsausschuss, der tatsächlich Ergebnisse produziert und zeigt, wie eng NSA und BND kooperiert haben. Auch lässt sich ein weltweit zunehmendes Interesse an Verschlüsselungstechnologien beobachten, selbst bei Netzgiganten wie Google, Facebook und Apple, die um das Vertrauen von Kunden schon aus Marketinggründen werben müssen.

Und doch zündet der Jahrhundertskandal nicht wirklich. Die kollektive Empörung des Publikums, die dem Ganzen erst die gesellschaftsverändernde Resonanz verleihen könnte, bleibt aus. Es existiert keine erfolgreiche NGO oder Partei, die mit dem Thema punkten könnte. Und wer weiß schon, auch nach all den Jahren, wofür Prism steht oder aber Tempora, Dishfire und XKeyscore? Etwa 300 verschiedene Überwachungs- und Spähprogramme sind bislang bekannt geworden, deren Namen niemand auswendig weiß. Auf eine endlose Zahl von Seiten ist der Wikipedia-Artikel zur Überwachungsaffäre angewachsen, gespickt mit informationstechnischem Spezialvokabular. Man kann einen Skandal auch in Details ertränken. Ermüdung durch Präzision.

Als Folge der spürbaren Überforderung und Ignoranz des Publikums hat eine mitunter verzweifelt wirkende Suche nach Strategien und Rezepten begonnen. Netzaktivisten wie Friedemann Karig halten Vorträge mit dem Titel Überwachung macht impotent. Oder sie wählen starke Metaphern wie die Rede vom „unsichtbaren Gift der Überwachung“ – eine Formulierung des Grünen-Politikers Konstantin von Notz. Andere hingegen, wie der Künstler Trevor Paglen, zeigen in Ausstellungen und Präsentationen investigativ entstandene Aufnahmen von Geheimdienst-Standorten und NSA-Unterwasserkabeln, denen eine bizarre, seltsam unheimliche Schönheit eigen ist. Es ist ein Versuch der Gegenspionage, der Überwachung von unten („sous-veillance“), die die Kamera als Waffe im Kampf um Sichtbarkeit benutzt. Wieder andere bringen die Schicksale der Whistleblower oder des WikiLeaks-Gründers Julian Assange auf die Bühne und lassen das Theaterpublikum mit eigenen Aktionen, gehackten Handys und der kribbelnden Drohung einer öffentlichen Blamage die Leichtigkeit des technischen Ausgeforschtwerdens spüren – nach dem Motto: Gleich werden wir alle sehen, auf welcher Pornoseite Sie gestern vorbeigeschaut haben!

Und natürlich gibt es den fulminanten Dokumentarfilm Citizen Four und die schwache Nachbereitung des Snowden-Schicksals in Oliver Stones aktuellem Kinofilm, der das moderne Heldenepos noch mal ein bisschen bunter nacherzählt, leicht fiktionalisiert. Auch die Satiriker haben sich längst zugeschaltet. Der bis dato spektakulärste Fall: John Oliver besuchte Edward Snowden in seinem russischen Exil und drängte ihn in einem höchst aufschlussreichen Interview, zukünftig nicht mehr über rätselhafte Spähprogramme, sondern über die Sammlung von Nacktfotos und Penis-Bildern durch die Geheimdienste zu sprechen. Er erfand ein „Dick Pic“- Programm, ein Penis-Bilder-Programm, spielte Videos ein, die wütende Reaktionen des Publikums zeigen – auch dies eine Intervention mit dem Ziel, dem Geschehen endlich Anschaulichkeit zu verleihen. Vielleicht lässt sich, so Olivers Botschaft, auf dem Umweg über Penisfotos und eine ziemlich riskante Kapitulation vor der Logik der Knalleffekte der Rohstoff der Publikumsempörung neu schürfen.

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