Christoph Ransmayr ist einer der besten deutschsprachigen Erzähler überhaupt. In seinem neuen Roman erzählt ein Wasseringenieur von seinen Abenteuern an den großen Strömen der Welt und dem Trauma seiner Familie.

Ransmayr ist aus der Ferne auf das Territorium seiner eigenen Herkunft zurückgegangen und macht den Dichter wieder zum Seismografen auf einem brüchig gewordenen Boden. Noch einmal ist da jemand aus der Ferne der eigenen Reisen in die letzte Welt zurückgebogen – und sucht die Antworten doch bei sich selbst und der Kraft der Erzählung: „Nach jener Sage, die Mira und ich von Jana wieder und wieder hören wollten, lebten am Seegrund nicht nur leuchtende, nie gesehene Wesen, sondern es stiegen von dort in jeder ersten Vollmondnacht eines neuen Jahres auch Bußgesänge aus einer versunkenen Kathedrale empor, die mit samt ihren Erbauern in einem jahrhundertelangen Regen untergegangen war.“

Quelle: Der Rausch der Erinnerung

Kommt Qualität von quälen?

Christoph Ransmayr ist einer der Größten unserer Gegenwartsliteratur und wurde für seine Bücher vielstimmig gepriesen – und war doch lange gefangen in einer katastrophalen Depression. Jetzt hat er sich aus seinem selbst errichteten Kerker herausgeschrieben und präsentiert seinen neuen Meisterroman „Cox oder Der Lauf der Zeit“. Ich habe ihn in Wien besucht.

„Einige Monate“, antwortet Christoph Ransmayr.

Genauer gesagt: Ransmayr lässt diese Antwort auf meine Frage, wie lange er denn gearbeitet habe am ersten Satz seines neuen Romans, nebenbei einfließen irgendwo halb versteckt in seinen amüsanten kleinen Bericht über seine Suche nach dem Anfang, nach dem Tor, das mich ins Innere meines Romans führt“.

Einige Monate. Für einen Satz.

Mit so etwas muss man rechnen bei Ransmayr. Er ist ein literarischer Perfektionist. Zeit spielt für ihn bei seiner Arbeit keine Rolle. Er „verschwindet“, sagt er, in seinen Geschichten. Er lebt in ihnen. Sie sind sein Zuhause. Warum also sollte er hetzen beim Schreiben, wenn doch die Geschichten seine eigentliche Heimat sind? Ransmayr ist der Beethoven der deutschen Gegenwartsliteratur, der jede seiner Arbeiten mit unbeirrbarer Kraft in Richtung Vollendung vorantreibt. Vier große Romane hat er so geschrieben in über 30 Jahren. Jetzt ist der fünfte fertig.

Cox heißt der Held der Geschichte, er ist Schöpfer der präzisesten und prächtigsten Uhren des 18. Jahrhunderts und folgt einer Einladung, die ihn aus England an den Hof von Peking führt: „Cox erreichte das chinesische Festland unter schlaffen Segeln am Morgen jenes Oktobertages, an dem Qiánlóng, der mächtigste Mann der Welt und Kaiser von China, siebenundzwanzig Staatsbeamten und Wertpapierhändlern die Nasen abschneiden ließ.“

Ein Auftakt-Akkord, den man so rasch nicht vergisst. Natürlich ist auch Cox ein Perfektionist und natürlich darf man Ransmayrs Roman über ihn getrost lesen als Geschichte über den Stolz, die Not und den Irrsinn eines jeden Künstlers, der seine Arbeit in Richtung Vollendung vorantreibt. Cox baut für den Kaiser eine Uhr, die dem Perpetuum Mobile, also einer physikalischen Unmöglichkeit, so nahe kommt, wie man ihm auf Erden nur nahe kommen kann. Und baut sich dabei zugleich selbst eine Falle, der er lebend zu entkommen nur noch wenig Aussicht hat.

Zeit spielt für Ransmayr bei seiner Arbeit keine Rolle, in seiner Arbeit aber ist die Zeit ein beherrschendes Thema: Wie nur wenige andere vermag er in seinen Romanen das langsame Versiegen der Zeit für den Wartenden zu beschwören, das Rasen der Zeit für den Geängstigten oder auch den Stillstand der Zeit in Sekunden des Glücks. Es muss also niemand überrascht sein, wenn er jetzt einen Uhrmacher zur Hauptfigur macht, der mit seinen hochartifiziellen  Chronographen sogar diesen Spielarten des subjektiven Zeiterlebens gerecht zu werden versucht.

Wir sitzen im Restaurant Schnattl in Wiens 8. Bezirk. Wirtin und Wirt begrüßen Ransmayr ebenso herzlich wie vertraut. Auf der Mittagskarte steht österreichische Küche, zwei Gänge, großartig gekocht, aber doch sehr günstig. Ich erinnere ihn an seinen ersten Roman, in der Polarforscher das allmähliche Einfrieren ihres Zeitgefühls oder an seinen zweiten Roman, in dem Seeleute das atemlose Voranstürmen der Zeit während eines Orkans erleben, und Ransmayr kann die entsprechenden Stellen aus dem Kopf seitenlang zitieren. Er arbeitet derart besessen an seinen Romanen, dass er auch Jahrzehnte später noch ganze Kapitel auswendig beherrscht.

Ein Leidenschaft, die für die Leser herrliche Folgen zeitigt: Ransmayrs Romane sind durchkomponiert wie Symphonien. In jedem Satz, in jedem Absatz spürt man Musikalität und Rhythmus.

Ein Leidenschaft, die für den Autor lange fürchterliche Folgen zeitigte: Er schrieb, feilte, änderte, verbesserte bis er, wie er erzählt, „in einem katastrophalen Ausmaß der Depression verfallen war“. Der jeweils nächste Roman wurde für ihn buchstäblich zur Existenzfrage: „Wenn es mir nicht gelang, diesen Roman in der Form zu schreiben, die ich mir vorgenommen hatte, dann wäre ich kein Schriftsteller. Und könnte ich kein Schriftseller sein, dann wollte ich gar nicht mehr sein, denn ich hatte keine anderen Pläne für mich.“

Das Schreiben nahm Züge der Selbstqual, der Selbstzerstörung an. Er schrieb nicht einfach nur den nächsten Absatz, was bei seinen Qualitätsansprüchen schwer genug ist. Nein, er schrieb jeden Absatz in bis zu zwanzig Versionen neu, um alle vorstellbaren Varianten zu erproben, und um sich gegen jede mögliche Kritik unangreifbar zu machen. Bis er begriff, dass der Wunsch unangreifbar zu sein, „keine Haltung ist, mit der man schreiben sollte, jedenfalls nicht, wenn man überleben möchte.“

Was ihm den Ausweg aus der selbstgemauerten Sackgasse gewiesen hat? Ransmayr nennt es: „Strampeln.“ Es gab keinen klar abgezirkelten Weg in die Freiheit, sondern nur verzweifelte Fluchtversuche in alle Richtungen: „Strampeln, eben.“ Heute kann er, wenn erst einmal ein makelloser Absatz auf dem Papier steht, zu sich selbst sagen: „Lass es gut sein“ – und muss nicht mehr zwanghaft dutzende von Varianten entwerfen.

Der Intensität seiner Geschichten, der Schönheit seiner Sprache hat das nicht geschadet. Im Gegenteil, vielleicht ist seine Prosa heute sogar noch etwas überraschender, leuchtender als zuvor. 2012 erschien, wie zum Zeichen, dass er erste tastende Schritte aus dem durch die eigenen Besessenheit errichteten Kerker machte, ein fabelhafter Band mit Reise-Erzählungen von ihm. Wenn er heute, nur vier Jahre später, einen neuen Roman beendet hat, so ist das nach seinen Maßstäben ein geradezu atemberaubendes Produktionstempo.

Cox, sein Romanheld, entpuppte sich dabei als unerwarteter Helfer. Denn, sagt Ransmayr, als wie nach dem Essen noch beim Kaffee sitzen, „es sind nicht nur die Autoren, die ihre Figuren verändern. Auch die Figuren verändern manchmal die Autoren.“ Und Cox, dieser Perfektionist, der selbst den Hinterhalt legt, in den er zu gehen droht, sei vor allem eines gewesen: die perfekte Mahnung.

Christoph Ransmayr über das Erzählen: Eine Stimme und ein Ohr

Christoph Ransmayr7. Dezember 2015, 10:24

Das Wort vermag den, der es schreibt oder liest nicht nur über Meere und Gebirge, sondern über die Zeit selbst zu erheben – bleibt es doch zumindest lesbar, wenn er selbst bereits seit Jahren oder Jahrtausenden wieder verstummt ist

Im Wort Ozean erheben sich keine Stürme, stampfen keine Schiffe und wird auch kein Mensch je in Seenot geraten. Im Wort Wüste ist noch keiner verdurstet und im Wort Abgrund kein Unglücklicher jemals zu Tode gestürzt. Und dennoch beschwören diese und alle Worte und Sätze, in denen greifbare Wirklichkeit in Sprache verwandelt wird, in unserem Denken und Fühlen etwas, das an die Glücksmöglichkeiten und Katastrophen der realen Welt rührt und in uns Bilder von einer Deutlichkeit aufsteigen lässt, als stünden wir tatsächlich vor der anrollenden Brandung, vor einem geliebten Menschen oder dem Abgrund. Und für den Zauber dieser Verwandlung bedarf es nicht mehr als jener Kraft, die jeder Mensch in sich selbst trägt und ihm ermöglicht, alles, was sich überhaupt sagen lässt oder noch unausgesprochen auf seine Formulierung wartet, zur Sprache zu bringen.

Dass ein Mensch in Worten weder ertrinken noch durch die unzähligen Arten der Grausamkeit zugrunde gehen kann, schenkt dem Zauber der Verwandlung von etwas in Sprache zunächst eine seltsame Friedlichkeit, so, als ob Bücher und jede Schrift uns einen besseren Schutz bieten könnten als jede Waffe oder Panzerung. Wie von einem Kokon umgeben, treten wir aus dem Inneren von Märchen oder anderen, frühesten Erzählungen unserer Kindheit hinaus in die donnernde, anrollende Welt, um dort zu jagen, zu lieben, Städte zu bauen – oder Kriege zu führen. Denn Worte, auch das erfahren wir bereits im frühesten Umgang mit Sprache, Worte sind wie die Menschen, die sie aussprechen, schreiben oder lesen, nicht nur gut. Sie folgen manchmal auch der Pervertierung Luzifers, des Lichtbringers, der aus dem Paradies in die Finsternis stürzte und im Fallen vom Engel zum Satan wurde.

Wer sein Leben der oft begeisternden, oft erschöpfenden Arbeit an der Sprache verschrieben hat, der wird am Anfang aber lange schweigen, lange bloß betrachten und stillhalten müssen, um den Stimmen der Menschen, denen der Tiere oder dem bloßen Geräusch des Windes im Gestrüpp der Antennen zu lauschen. Und er wird, lange bevor er nach eigenen Wortschöpfungen und Sätzen sucht, Fragen stellen und Fragen beantworten, Fragen etwa wie jene, wie kalt und unbewegt die Meerestiefe vier und fünftausend Meter unter dem Kiel eines Frachters ist, der auf einer transatlantischen Route im Sturm liegt. Fragen nach den Namen der Leuchtfische, die durch das submarine Dunkel schweben. Fragen, was das denn ist – Dunkelheit? Und was Trauer, Hoffnung oder ein Abschied? Wie ist es, wenn einer im Lärm der Welt taub wird? Was macht einen Menschen blind? Und was gewalttätig …?

Wort, Klang, Bild

Wenn einer erzählen will, muss er solche und ähnliche und unzählige andere Fragen zu beantworten versuchen und muss doch nach jeder Antwort immer neue Fragen an sich und die Welt richten, bis er sich endlich erheben und etwas so Einfaches und Ungeheuerliches wie „Es war … Es war einmal“ sagen kann. Aber selbst wenn er auf jede Nachforschung verzichtet und sagt: Mir genügt das Meinige, ich spreche nur von mir, ich spreche nur vom Allervertrautesten, nur von dem, was ich allein und am besten weiß – selbst dann erscheint einem Erzähler die Welt noch einmal anders und neu -, muss er sich doch auch der einfachsten Dinge seiner Geschichte erst vergewissern. Wovon immer er spricht – in seiner Geschichte muss ein Erzähler alle Welt noch einmal und immer wieder erschaffen und darf dabei nicht mehr voraussetzen als die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer, seiner Leser, nichts als die Stille, in der er endlich zu sprechen, zu erzählen, zu schreiben beginnt.

Erzählen besteht immer aus einer Stimme und einem Ohr, aus einem Bild und einem Auge, das alle Wirklichkeit ins Bewusstsein, in Herz und Gedächtnis überführt. Dabei ruht jede Silbe eingebettet in die Stille des ungeheuren, uns umgebenden Raumes, in das Unsagbare, und jedes Bild eingebettet in die Finsternis. Gerade dadurch erscheinen Wort, Klang, Bild vielleicht ja als die größten Kostbarkeiten der menschlichen Existenz. Schließlich vermag das Wort den, der es schreibt oder liest, nicht nur über Meere und Gebirge, sondern über die Zeit selbst zu erheben – bleibt es doch zumindest lesbar, wenn er selbst bereits seit Jahren oder Jahrtausenden wieder verstummt ist.

Wenn uns in diesen Tagen blindwütige, religiös verseuchte Berserker den Schluss aufzwingen, die Abwehr ihrer Mordgier und Zerstörungswut wäre am ehesten durch noch mehr Gewalt, noch mehr Panzerung und Überwachung zu erwarten, werden Erinnerungen an die Wurzeln eines Hasses wach, von denen manche tief in unsere eigene, europäische, Geschichte hinabreichen. Jahrhundertelang hat Europa nahe und fernste Kulturen überrannt, ausgebeutet oder zerstört und damit den eigenen Wohlstand begründet. Spanische und portugiesische und niederländische und englische und französische und deutsche und belgische und italienische und immer weitere und noch mehr Kolonialherren haben im Rest der Welt willkürlich Grenzen durch uralte Einheiten gezogen, haben Landesbewohner vertrieben, versklavt, verstümmelt oder erschlagen und mit Handelsstationen und Minen immer auch Massengräber eröffnet.

Wenn sich nun aus verwüsteten und zerrissenen Landstrichen und entsprechend verwüsteten Regionen des Bewusstseins Killer auf den Weg machen, um den Hinrichtungsbefehl eines Predigers zu befolgen oder einen barbarischen Missionsauftrag mit automatischen Waffen und Sprengstoffgürteln zu erfüllen, ist es, als ob sie sich an europäischen Eroberern vergangener Jahrhunderte ein Beispiel nehmen wollten, an Helden der Kolonialgeschichte, die ganze Kontinente terrorisierten, um ihre Bewohner als Lieferanten des europäischen Reichtums gefügig zu machen oder zu vernichten. Unzählige, immer noch offene Rechnungen, stehen so in Bilanzen, die nicht Jahre und Jahrzehnte, sondern Jahrhunderte überspannen. Allein die zehn Millionen Toten, um nur eines, ein einziges Beispiel zu nennen, allein die zehn Millionen Toten, die etwa ein europäischer Massenmörder wie der belgische König Leopold II. im Kongo hinterlassen hat, könnten unter dem Einfluss entsprechender Prediger wohl drei und vier Generationen von Rächern auf den Weg nach Europa bringen.

Aber gegen Menschen, die in ihrer rasenden Wut oder bloßen Dummheit den eigenen Körper in eine Waffe verwandeln und selbst um den Preis des eigenen Lebens nichts mehr wollen als töten, werden auch in Zukunft die meis- ten Verteidigungstechniken wirkungslos bleiben. Natürlich werden die Angegriffenen sich in Notwehr aller ihrer Mittel bedienen, aber die einzige dauerhafte, wenn auch niederschmetternd langsame und deshalb oft zu spät kommende Hilfe kann aus keiner anderen Quelle gespeist werden als jener der Sprache, des Wortes. Nicht die Sensen und Dreschflegel der Bauernkriege haben am Ende die feudale Grausamkeit des Mittelalters zerschlagen, sondern die Gedanken der Aufklärung; das Wort.

Nur eine Gesellschaft, die selbst unter der Bedrohung durch eine Armee von fundamentalistisch religiösen Massenmördern nicht bloß ihre Waffen, sondern auch das Wort wieder einsetzt in seine Dogmen sprengende Kraft, wird sich am Ende – vielleicht – wenn nicht als unbesiegbar, so doch als die stärkere erweisen. Und der Erzähler und Literat, der dieser Gesellschaft beisteht, indem er als Romancier, Essayist, Dramatiker oder in den Strophen seiner Poesie zumindest eine Vorstellung vom wahren Glück und Leiden des Einzelnen ermöglicht, wird zwar niemals ein Prophet sein, aber zumindest ein Helfer. (Christoph Ransmayr, Album, 5.12.2015)

Christoph Ransmayr, geb. 1954, ist österreichischer Schriftsteller und wurde soeben mit dem Prix Jean Monnet de Littérature Européenne und dem Prix du Meilleur livre étranger ausgezeichnet.

  • Ransmayr: "Gegen Menschen, die in ihrer rasenden Wut oder  bloßen Dummheit den eigenen Körper in eine Waffe verwandeln und selbst um den Preis des eigenen Lebens nichts mehr wollen  als töten, werden auch in Zukunft die meisten  Verteidigungstechniken wirkungslos bleiben."

    foto: heribert corn

    Ransmayr: „Gegen Menschen, die in ihrer rasenden Wut oder bloßen Dummheit den eigenen Körper in eine Waffe verwandeln und selbst um den Preis des eigenen Lebens nichts mehr wollen als töten, werden auch in Zukunft die meisten Verteidigungstechniken wirkungslos bleiben.“

Reinhold Messner und Christoph Ransmayr im Interview – Gesellschaft/Leben.

»Man kommt nie wieder wirklich zurück«

Den Extrembergsteiger Reinhold Messner und den Schriftsteller Christoph Ransmayr verbindet seit 25 Jahren eine Freundschaft. Ein Gespräch über gemeinsame Reisen, erfrorene Schmetterlinge und die Sehnsucht nach Grenzerfahrung.

Von Thomas Bärnthaler und Gabriela Herpell (Interview)  Fotos: Robert Brembeck


SZ-Magazin: Herr Messner, Herr Ransmayr, Sie sind seit 25 Jahren befreundet. Wie haben Sie beide sich kennengelernt?
Christoph Ransmayr:
1989 hat mir Reinhold einen Brief geschrieben, der mich gefreut, aber auch verlegen gemacht hat. Er hatte mein Buch Die Schrecken des Eises und der Finsternis gelesen und lud mich ein, seine Expedition zum 8500 Meter hohen Lhotse zu begleiten. Da musste ich die Karten auf den Tisch legen und sagen, ich komme zwar auch aus einer Berggegend, aber ich bin kein Höhenbergsteiger, auch kein Eiswanderer oder Abenteurer.
Reinhold Messner: Ich weiß noch, ich bereitete gerade meine Antarktisdurchquerung vor. Eine neue Welt für mich: keine Berge, nur Eis und Kälte. Dementsprechend kamen Ängste, Zweifel auf. Da drückte mir jemand dieses Buch in die Hand, das mich mächtig aufgewühlt hat. Ich dachte: Wenn Eiswandern so schlimm ist, wie darin beschrieben, mache ich die Reise besser nicht. Aber ich wollte diesen Autor kennenlernen. Ich dachte, Christoph sei die Romanfigur Mazzini, der nach Spitzbergen geht und sich dort auf den Spuren der berühmten Payer-Weyprecht-Expedition in der Wildnis verliert.

Und dann sagt Ihnen dieser Autor, dass er nie im Franz-Josef-Land gewesen war, wo das Buch spielt. Waren Sie nicht enttäuscht?
Messner
: Ich war sprachlos und konnte es nicht fassen. Vor allem die Stellen, in denen der Alpinist und Entdecker Julius von Payer zitiert wird, den es ja wirklich gegeben hat, hatten mich beeindruckt. Ich habe dann Payers Bücher noch mal durchgekaut – und keine so guten Passagen gefunden. Also habe ich Christoph gefragt, wo hast du diese Passagen her? Da hat er mir erzählt, dass er sie leise umgearbeitet hatte. Das ist Christophs Stärke. Das kann nur der Dichter. Die meisten Bergbücher sind ja unlesbar, weil darin Menschen wie Roboter einen Berg rauf und wieder runter gehen und dabei Zelte aufbauen. Der Dichter kommt mit seinen Bildern viel näher an die Wahrheit heran.

Aber waren Ihnen die Fakten nicht immer besonders wichtig, Herr Messner?
Messner:
Ach, die Fakten! Machen wir uns nichts vor: Ich kann doch gar nicht wissen, was mein Gedächtnis behält und was es wegwischt. Oft ist die erfundene Geschichte wahrer als die Tatsache. Verdichten ist Reduktion auf das Wahre.

Wie darf man sich die Freundschaft zwischen einem Extrembergsteiger und einem Dichter vorstellen?
Ransmayr:
Die Welt oder das, was man von ihr erfahren will, wird durch den anderen vielschichtiger, vollständiger. Für mich waren die Gespräche mit Reinhold manchmal, als ob ich mit den Vorbildern meiner Romangestalten – Payer und Weyprecht oder auch jemandem wie Shackleton oder Amundsen – reden würde.
Messner: Wir sind miteinander im Gebirge unterwegs. Wir treffen uns regelmäßig und reden über alles Mögliche. Und nach der zweiten Flasche Rotwein kommen wir auf gute Ideen.
Ransmayr: Irgendwann sind wir auch gemeinsam über die Inseln des Franz-Josef-Archipels gewandert, durch eine Gletscherlandschaft, von der ich da und dort das Gefühl hatte, sie sei meine Erfindung, weil ja mein Roman in dieser hocharktischen Wildnis spielt. Wir waren zusammen im Himalaja, in Brasilien, in Indochina, Südostasien, auf der arabischen Halbinsel, auch in der Südsee, aber nie in jenen Höhen, in denen Reinhold seine Alleingänge gewagt hat.

Was hielt Sie davon ab?
Ransmayr
: Diese Höhen würde ich nicht überleben, weil mir dafür nicht nur die Kraft und die notwendigen Eignungen, sondern auch die Leidensfähigkeit fehlen.
Messner: Inzwischen ist er ein ganz passabler Berggeher.
Ransmayr: Ich habe durch ihn eine Welt wiederentdeckt, von der ich damals dachte, sie läge seit Langem hinter mir: die Berge. Als er mich einlud, mit ihm über die alte Payer-Route auf den Ortler zu gehen, war ich überzeugt, dass das meine Möglichkeiten übersteigen würde. Ich habe mich dann auf den Bergen meiner Kindheit im oberösterreichischen Salzkammergut vorbereitet, im Höllengebirge und im Toten Gebirge. Ich ging dabei in meine eigene Geschichte zurück und nahm so einen Faden wieder auf, der in meinem Leben lange nur lose herumgeflattert war.

Wie wichtig ist echte Erfahrung für einen Schriftsteller?
Ransmayr:
Es ist doch Geschwätz zu sagen, die wahren Abenteuer fänden im Kopf statt. Ohne die Erfahrung, die ein Mensch in der Welt tatsächlich gemacht hat, gibt es keine Gedanken und kein Gedankenspiel, gibt es keine Träume, keine Fantasien. Welt heißt dabei natürlich auch zwischenmenschliche Erfahrung, nicht nur das Erlebnis in der Höhe, in der Wüste, der Einsamkeit. Irgendwann muss sich jemand hinausgewagt und vielleicht sogar sein Leben aufs Spiel gesetzt haben, um Bilder, Empfindungen, Gedanken mitzubringen, an denen auch der Dichter, der Philosoph, der Komponist weiterspinnen kann.

Herr Messner, hatten Sie nie Angst, dass Ihrem Freund auf Ihren gemeinsamen Expeditionen etwas zustößt?
Messner:
Zuerst einmal ist für mich erstaunlich, wie geschickt Christoph wurde mit den Jahren. Als wir über die Tafelberge in Franz-Josef-Land geklettert sind, hatten wir ein Gewehr dabei – wegen der Eisbären. Ein paar
Jahre später sind wir im Osten von Tibet, wo Christophs Roman Der Fliegende Berg spielt, sogar auf richtig hohe Berge gestiegen.

Fühlt man sich eigentlich beschützt an der Seite eines Reinhold Messner?
Ransmayr:
Und wie. Die Durchquerung Osttibets hätte ich ohne ihn nie gemacht, und ich wäre auch nicht ohne ihn durch Franz-Josef-Land gegangen. Die Eisbären sind im arktischen Sommer wegen der vielen Robben auf dem Packeis zwar einigermaßen satt, aber es war mehr als beruhigend zu wissen, dass Reinhold ein Gewehr trug und notfalls auch damit umgehen konnte.

Wer gibt das Tempo vor?
Ransmayr:
Reinhold hat auf unseren Wegen die fürsorgliche Art eines Bergführers, der das Tempo einer Gruppe immer das Tempo des Langsamsten sein lässt. Wenn wir zu zweit sind, ist es mein Tempo.
Messner: Christoph ist sehr gut in Form. Wir reden auch nicht viel. Wenn man richtig geht, durch Tiefschnee, redet niemand viel. Bei Achttausender-Besteigungen rede ich einen Satz am Tag, wenn’s hoch kommt.

Im Folgenden ein paar Zitate aus dem Gespräch von Insa Wilke mit Christoph Ransmayr in dem Buch ‚Bericht am Feuer‘ (2014):

‚Ich fühle mich dann vollständig und mit alles Fasern am Leben, weil das Schreiben dann ohne jeden Zweifel ganz und gar meine Sache ist.‘

‚Nur wenn ich eine Ahnung davon habe, wie ungeheuerlich der Raum des Verschwindens ist, kann ich die Umrisse der Sehnsucht nach Unvergänglichkeit und Bleiben skizzieren.‘

Christoph Ransmayr im Gespräch mit Denis Scheck

Wunderbares Gespräch über ‚Atlas eines ängstlichen Mannes!!!

SWR Mediathek – Atlas eines ängstlichen Mannes – Christoph Ransmayr zu Gast bei Thea Dorn.

Tolle Sendung mit meinem Lieblingsschriftsteller Christoph Ransmayr!!!

Buch der Woche im ‚Tagesspiegel‘ vom 28.10.2012 (von Christoph Schröder)

Der letzte Seher

Da ist der Junge, Sohn eines Gärtners in der irischen Grafschaft Cork. Einen Schneemann hatte er gebaut, als zum ersten Mal seit Jahren Schnee gefallen war, und ihn in die Tiefkühltruhe gelegt, um ihn aufzubewahren. Nach einem heftigen Sturm war die Stromversorgung unterbrochen worden. Nun steht der weinende Junge auf der Treppe des Hauses, einen unförmigen Brocken in den Händen, die Reste seines ganzen Stolzes. „Über die windbewegten Blüten hinweg betrachtet, sah der Kleine auf der Treppe aus wie ein kindlicher Atlas, der eine seltsam winterliche Weltkugel gegen den Himmel stemmte.“

Das ist eine Geschichte im neuen Buch des in Oberösterreich geborenen, in Irland lebenden Christoph Ransmayr.

Ein Schriftsteller, der die ganze Welt gesehen und in sich aufgenommen und beschrieben hat, die entlegensten Inseln, die höchsten Berge, die bizarrsten Städte. Ransmayr ist ein Star, und dieses großartige Buch stellt eindrucksvoll unter Beweis, dass es dafür gute Gründe gibt. 70 Episoden sind in „Atlas eines ängstlichen Mannes“ gesammelt; die kürzeste davon umfasst drei, die längste, in der anlässlich einer Umrundung der südpazifischen Insel Pitcairn en passant die realen Hintergründe der Meuterei auf der „Bounty“ mitgeliefert werden, 18 Seiten. Ausschließlich, so schreibt Ransmayr im Vorwort, sei hier „von Orten die Rede, an denen ich gelebt, die ich bereist oder durchwandert habe, und ausschließlich von Menschen, denen ich begegnet bin“.

Das Dokumentarische und das Fiktionale bedingen einander: Ohne die beglaubigte Sicherheit des Erlebten wäre so manche dieser kurzen Geschichten leicht mit dem Wort „abstrus“ abzufertigen; ohne das Literarische allerdings, das in Ransmayrs Sprach- und Gedankenwelt steckt, würde das poetologische und stilistische Bindeglied fehlen. Derjenige, der hier die Welt stemmt, ist die Erzählinstanz selbst. Dass der Erzähler überhaupt dorthin kommt, wo er ist, spricht für seinen Mut. Das bedeutet noch lange nicht, dass der Erzähler psychisch stark wäre. Alles hier ist fragil, alles ist gefährdet. Was Ransmayr in diesem Buch anpeilt, ist nicht weniger als die Rettung der Welt und ihrer Ereignishaftigkeit (und eines Ichs noch dazu) im Vorgang des Erzählens, des Aufschreibens.

Das ist bei diesem Autor nichts Neues. Wer seine früheren Bücher kennt, weiß, dass Ransmayr stets auf schmalem Grat balanciert; auf einem Terrain, in dem die Begriffe Pathos und Deklamation ebenso wenig fern sind, wie es die Kategorie des Erhabenen ist. Ransmayrs Roman „Der fliegende Berg“ aus dem Jahr 2006 war sogar komplett in Versen gehalten. Auch der „Atlas“ hat (neben einer ökologischen) vor allem eine religiöse Dimension, die sich sowohl in der Motivsprache, vor allem aber im Grundkonzept der Geschichten niederschlägt. Jede einzelne nämlich beginnt mit den Worten „Ich sah …“. Die offenkundige Analogie zur Offenbarung des Johannes ist nicht rein strukturell; die Zerstörung, die Grausamkeit, der Tod und der Verfall sind präsent, wohin auch immer der Erzähler kommt. Und zumeist haben sie einen menschlichen Ursprung.

So weit weg uns all diese Orte auch vorkommen mögen, so wenig weltabgewandt ist das, was Ransmayr von dort mitbringt. In Bolivien beispielsweise werden der Erzähler und seine Begleiter Ziel eines Flugzeugangriffs der Truppen des soeben durch einen blutigen Putsch an die Macht gekommenen Generals García Meza. In Laos wird der Reisende mit den Hinterlassenschaften des Vietnamkrieges konfrontiert, „Bomben. Phosphorbomben, Sprengbomben, Streubomben“; ein Krieg, der, wie die Einheimischen sagen, ebenso gut „Laos-Krieg“ hätte heißen können, weil mehr Bomben auf das neutrale Land gefallen seien als auf Deutschland im Zweiten Weltkrieg, und das nur, um die Nachschubwege des Vietcong unbrauchbar zu machen. Anhand mancher Details lässt sich der Zeitrahmen hin und wieder genau bestimmen; die einzelnen Geschichten bleiben allerdings insgesamt von zeitlosem Wert. Und auch, man muss es so sagen, von zeitloser Schönheit.

Die Schönheit des Augenblicks setzt Ransmayr immer wieder gegen die historischen Abgründe. Oft sind es geradezu Erweckungsmomente, profane Epiphanien, die den Geschichten einen Höhe- oder Wendepunkt geben.Der Erzählraum ist nach allen Seiten hin offen, auch zu den Sternen, deren Beobachtung in mehreren der Miniaturen eine Rolle spielt. Die Verwandlung (nicht ohne Grund setzte sich Ransmayrs Erfolgsroman „Die letzte Welt“ mit Ovids „Metamorphosen“ auseinander) ist, wenn kein heiliger, so doch ein magischer Akt. Auch hier schimmert immer wieder das quasi theologische Konstrukt, der Gedanke von der Erlösung durch Worte, durch den Text durch. Das Beeindruckende am „Atlas eines ängstlichen Mannes“: Nie und an keiner einzigen Stelle hat das etwas Peinliches, Pompöses, Selbsterhebendes. Im Gegenteil – vielleicht ist es in technischer und stilistischer Hinsicht sogar Ransmayrs bislang zurückgenommenstes Buch. Trotzdem – oder deswegen – entfaltet es seine Sogwirkung. Der „Atlas“ ist nämlich vor allem ein mitreißendes, packendes Buch. Und ein nicht selten anrührendes noch dazu, besonders dann, wenn Tiere ins Spiel kommen.

Eines der Glanzstücke ist die Beschreibung eines Stierkampfes in Sevilla, in dessen Verlauf der Stier sich als kampfmüde, ja geradezu melancholisch entpuppt. Trotz eines einzelnen Rufes aus dem Publikum wird ihm jedoch keine Gnade gewährt. In einer anderen, in Brasilien angesiedelten Episode, wird eine mächtige Anakonda, „Rainha da Selva“, Königin der Wildnis, mit voller Absicht von einem Lkw-Fahrer überfahren. Äußerlich unbeschädigt, kriecht sie ins Dickicht, um zu sterben, denn die gebrochenen Wirbel werden ihr das Überleben unmöglich machen. Christoph Ransmayr erzählt von Menschen und Glückssuchern; von Tieren, die ein Eigenleben in Unabhängigkeit und Würde führen; und auch von der Entzauberung vermeintlicher Paradiese.

In erster Linie aber ist der „Atlas“ ein Buch über das Schreiben und über die Einsamkeit, das Inseldasein des Schreibenden. „Kalligraphen“, so heißt eine Erzählung. Sie beginnt so: „Ich sah flache Steininseln im spiegelglatten Wasser des Kumming-Sees im Nordwesten von Peking.“ Dort, auf den Inseln, sitzen Männer, die mit von Wasser vollgesogenen Schwämmen Schriftzeichen aus Büchern auf die Steine übertragen. Die Schrift verdampft in der Sonne, wird immer wieder aufs Neue mit neuer Bedeutung überschrieben; ein Akt der Vergeblichkeit; mit dem Resultat eines „mit Schriftzeichen beladenen Floß aus Stein“. Doch für einen kurzen Augenblick steht das Geschriebene dort, hat seinen Wert.

Man stellt sich Christoph Ransmayr als einen solchen Menschen vor; einen, der die Welt erhält, indem er sie immer wieder neu und im Wortsinne beschreibt.

Christoph Ransmayr: Die Kunst, von der Welt Notiz zu nehmen – Nachrichten Kultur – Literarische Welt – DIE WELT.

Ein Geniestreich wie einst „Die letzte Welt“: In seinem „Atlas eines ängstlichen Mannes“ reist Christoph Ransmayr in 70 kleinen Geschichten um die Erde – und findet die Heimat eines Gottes. Von Ulrich Weinzierl


Sein Grabstein, hat Christoph Ransmayr gesagt, soll die lapidare Inschrift „Auf und davon“ tragen. Einstweilen ist er auf Reisen