John Warner stellt mit Blick auf ChatGPT die Frage, was am aktuellen Schreibunterricht eigentlich erhaltenswert ist und was wir getrost über Bord werfen können. Beitrag in Deutsch und Englisch (post in German and English).

Quelle: Was erhaltenswert ist, wird bleiben – ChatGPT und das Schreiben im Unterricht (Gastbeitrag John Warner) – Unterrichten Digital

Kommt Qualität von quälen?

Christoph Ransmayr ist einer der Größten unserer Gegenwartsliteratur und wurde für seine Bücher vielstimmig gepriesen – und war doch lange gefangen in einer katastrophalen Depression. Jetzt hat er sich aus seinem selbst errichteten Kerker herausgeschrieben und präsentiert seinen neuen Meisterroman „Cox oder Der Lauf der Zeit“. Ich habe ihn in Wien besucht.

„Einige Monate“, antwortet Christoph Ransmayr.

Genauer gesagt: Ransmayr lässt diese Antwort auf meine Frage, wie lange er denn gearbeitet habe am ersten Satz seines neuen Romans, nebenbei einfließen irgendwo halb versteckt in seinen amüsanten kleinen Bericht über seine Suche nach dem Anfang, nach dem Tor, das mich ins Innere meines Romans führt“.

Einige Monate. Für einen Satz.

Mit so etwas muss man rechnen bei Ransmayr. Er ist ein literarischer Perfektionist. Zeit spielt für ihn bei seiner Arbeit keine Rolle. Er „verschwindet“, sagt er, in seinen Geschichten. Er lebt in ihnen. Sie sind sein Zuhause. Warum also sollte er hetzen beim Schreiben, wenn doch die Geschichten seine eigentliche Heimat sind? Ransmayr ist der Beethoven der deutschen Gegenwartsliteratur, der jede seiner Arbeiten mit unbeirrbarer Kraft in Richtung Vollendung vorantreibt. Vier große Romane hat er so geschrieben in über 30 Jahren. Jetzt ist der fünfte fertig.

Cox heißt der Held der Geschichte, er ist Schöpfer der präzisesten und prächtigsten Uhren des 18. Jahrhunderts und folgt einer Einladung, die ihn aus England an den Hof von Peking führt: „Cox erreichte das chinesische Festland unter schlaffen Segeln am Morgen jenes Oktobertages, an dem Qiánlóng, der mächtigste Mann der Welt und Kaiser von China, siebenundzwanzig Staatsbeamten und Wertpapierhändlern die Nasen abschneiden ließ.“

Ein Auftakt-Akkord, den man so rasch nicht vergisst. Natürlich ist auch Cox ein Perfektionist und natürlich darf man Ransmayrs Roman über ihn getrost lesen als Geschichte über den Stolz, die Not und den Irrsinn eines jeden Künstlers, der seine Arbeit in Richtung Vollendung vorantreibt. Cox baut für den Kaiser eine Uhr, die dem Perpetuum Mobile, also einer physikalischen Unmöglichkeit, so nahe kommt, wie man ihm auf Erden nur nahe kommen kann. Und baut sich dabei zugleich selbst eine Falle, der er lebend zu entkommen nur noch wenig Aussicht hat.

Zeit spielt für Ransmayr bei seiner Arbeit keine Rolle, in seiner Arbeit aber ist die Zeit ein beherrschendes Thema: Wie nur wenige andere vermag er in seinen Romanen das langsame Versiegen der Zeit für den Wartenden zu beschwören, das Rasen der Zeit für den Geängstigten oder auch den Stillstand der Zeit in Sekunden des Glücks. Es muss also niemand überrascht sein, wenn er jetzt einen Uhrmacher zur Hauptfigur macht, der mit seinen hochartifiziellen  Chronographen sogar diesen Spielarten des subjektiven Zeiterlebens gerecht zu werden versucht.

Wir sitzen im Restaurant Schnattl in Wiens 8. Bezirk. Wirtin und Wirt begrüßen Ransmayr ebenso herzlich wie vertraut. Auf der Mittagskarte steht österreichische Küche, zwei Gänge, großartig gekocht, aber doch sehr günstig. Ich erinnere ihn an seinen ersten Roman, in der Polarforscher das allmähliche Einfrieren ihres Zeitgefühls oder an seinen zweiten Roman, in dem Seeleute das atemlose Voranstürmen der Zeit während eines Orkans erleben, und Ransmayr kann die entsprechenden Stellen aus dem Kopf seitenlang zitieren. Er arbeitet derart besessen an seinen Romanen, dass er auch Jahrzehnte später noch ganze Kapitel auswendig beherrscht.

Ein Leidenschaft, die für die Leser herrliche Folgen zeitigt: Ransmayrs Romane sind durchkomponiert wie Symphonien. In jedem Satz, in jedem Absatz spürt man Musikalität und Rhythmus.

Ein Leidenschaft, die für den Autor lange fürchterliche Folgen zeitigte: Er schrieb, feilte, änderte, verbesserte bis er, wie er erzählt, „in einem katastrophalen Ausmaß der Depression verfallen war“. Der jeweils nächste Roman wurde für ihn buchstäblich zur Existenzfrage: „Wenn es mir nicht gelang, diesen Roman in der Form zu schreiben, die ich mir vorgenommen hatte, dann wäre ich kein Schriftsteller. Und könnte ich kein Schriftseller sein, dann wollte ich gar nicht mehr sein, denn ich hatte keine anderen Pläne für mich.“

Das Schreiben nahm Züge der Selbstqual, der Selbstzerstörung an. Er schrieb nicht einfach nur den nächsten Absatz, was bei seinen Qualitätsansprüchen schwer genug ist. Nein, er schrieb jeden Absatz in bis zu zwanzig Versionen neu, um alle vorstellbaren Varianten zu erproben, und um sich gegen jede mögliche Kritik unangreifbar zu machen. Bis er begriff, dass der Wunsch unangreifbar zu sein, „keine Haltung ist, mit der man schreiben sollte, jedenfalls nicht, wenn man überleben möchte.“

Was ihm den Ausweg aus der selbstgemauerten Sackgasse gewiesen hat? Ransmayr nennt es: „Strampeln.“ Es gab keinen klar abgezirkelten Weg in die Freiheit, sondern nur verzweifelte Fluchtversuche in alle Richtungen: „Strampeln, eben.“ Heute kann er, wenn erst einmal ein makelloser Absatz auf dem Papier steht, zu sich selbst sagen: „Lass es gut sein“ – und muss nicht mehr zwanghaft dutzende von Varianten entwerfen.

Der Intensität seiner Geschichten, der Schönheit seiner Sprache hat das nicht geschadet. Im Gegenteil, vielleicht ist seine Prosa heute sogar noch etwas überraschender, leuchtender als zuvor. 2012 erschien, wie zum Zeichen, dass er erste tastende Schritte aus dem durch die eigenen Besessenheit errichteten Kerker machte, ein fabelhafter Band mit Reise-Erzählungen von ihm. Wenn er heute, nur vier Jahre später, einen neuen Roman beendet hat, so ist das nach seinen Maßstäben ein geradezu atemberaubendes Produktionstempo.

Cox, sein Romanheld, entpuppte sich dabei als unerwarteter Helfer. Denn, sagt Ransmayr, als wie nach dem Essen noch beim Kaffee sitzen, „es sind nicht nur die Autoren, die ihre Figuren verändern. Auch die Figuren verändern manchmal die Autoren.“ Und Cox, dieser Perfektionist, der selbst den Hinterhalt legt, in den er zu gehen droht, sei vor allem eines gewesen: die perfekte Mahnung.

T.C. Boyle: „Wie viel Mist haben wir heute!“ | ZEIT ONLINE.

„Wie viel Mist haben wir heute!“

Der Held in T.C. Boyles neuem Roman „Hart auf hart“ radikalisiert sich in der Natur. Liegt in der Wildnis noch das größte Versprechen von Freiheit? Interview: 

T.C. Boyle: Kultur, T.C. Boyle, Henry David Thoreau, Google, Ernst Jünger, Natur, Wildnis, Demokratie, Kinderkrankheit, Opium, USA, Alaska

Der Schriftsteller T.C. Boyle  |  © Jamieson Fry

ZEIT ONLINE: Mister Boyle, Ihr aktueller Roman Hart auf hart erzählt von einem jungen Mann, Adam, den es zurück in die Wälder zieht. Er ist gewalttätig. Er ist frustriert von unserer modernen westlichen Gesellschaft.

T.C. Boyle: Ja. Aber wir alle sind frustriert von der Gesellschaft. Jeder auf seine Weise. Wir sind frustriert von Regeln. Gehen Sie in einen deutschen Park! Das erste, was Sie sehen, sind unglaublich viele Regeln. Spucken verboten, Hunde verboten, von Brücken springen verboten, Spaß haben verboten, Atmen verboten. Das ist doch schrecklich. Andererseits: Gäb’s keine Regeln, wäre da nicht mal ein Park! Da wäre nur Dreck. Adam, dieser verstörte junge Mann, will sich zurückziehen in die Natur und nur von ihr leben. Er will sein selbst angebautes Opium verkaufen. Er will unabhängig sein.

ZEIT ONLINE: Gut, aber er läuft mit einem Sturmgewehr durch die Gegend.

Boyle: Er ist schizophren, und er leidet unter Wahnvorstellungen. Jeden, den Adam für einen Feind hält, nennt er Chinese.

ZEIT ONLINE: Ironischerweise schießt Adam mit einem chinesischen Sturmgewehr.

Boyle: Mein Roman basiert ja auf einer wahren Begebenheit. Im Jahr 2011 gab es einen Mann in Fort Bragg, der das getan hat, was Adam in meinem Buch tut. Ich habe den dicken Polizeireport und all die Details und die Ironie der Dinge stehen da drin. Aber um daraus Kunst zu machen, müssen diese Details gären und eine Struktur bekommen. Wenn Sie diese Parallelen und die Ironie sehen, freut mich das. Aber es ist die reale Welt, über die ich schreibe.

Video: Literatur - T.C. Boyle stellt sich Leserfragen

Er bezeichnet sich selbst als arroganten Punk und Besserwisser. Der Autor T.C. Boyle beantwortet Fragen von ZEIT ONLINE-Lesern und erklärt, was Schreiben zur Sucht macht. Video kommentieren

ZEIT ONLINE: In Ihrem Buch ist die Natur ein Ort der Radikalisierung. In der deutschen Literatur denkt man da sofort an Ernst Jünger, an den Waldgang, an eine Welt außerhalb der Ordnung.

Boyle: Das ist eine interessante Verbindung. Aber auch in den USA war der Wald, die Natur im Allgemeinen, lange Zeit ein Ort für die Unzufriedenen. Als das Land noch unerschlossen war, konnten die wirklich unzufriedenen, seltsamen Menschen einfach in die nächste Wildnis gehen. Danach gingen Menschen, die zurück zur Natur wollten, einfach nach Alaska. Das war die letzte Grenze in Hippie-Zeiten. Jetzt ist sogar Alaska nicht mehr die letzte Grenze. Nun gibt es keine Wildnis mehr.

ZEIT ONLINE: Natur als Ort des Ungehorsams. Da ist ja auch Henry David Thoreau nicht weit, der in eine Hütte zog und den Staat Staat sein ließ.

Boyle: Thoreau wird meistens als der Eremit der Wälder angesehen. Aber was die wenigsten dabei erwähnen: Er verbrachte einige Zeit im Gefängnis, weil er seine Steuern nicht zahlen wollte. Vergangenen Sommer bekam ich den Henry David Thoreau Preis und die Gastgeber nahmen mich mit zum Nachbau von Thoreaus Hütte am Walden Pond. Es war ungefähr drei Quadratmeter groß. Alles drin, was man brauchte! Ein Ofen, ein Bett, ein Stuhl, das war’s. Aber Thoreau lebte ja nur wenige Meilen von einem Ort entfernt. Er konnte also jeden Tag ins Café gehen, über Politik reden und dann ging er zurück in den Wald.

ZEIT ONLINE: Ihre Figur Adam würde wohl sagen, Thoreau war ein Heuchler.

Boyle: Ja, vermutlich!

Michel Houellebecq: Moral ist der falsche Maßstab | ZEIT ONLINE.

Wenn Satire alles darf, warum nicht auch Michel Houellebecq? Die Diskussionen um seinen neuen Roman sind bisweilen hanebüchen und zeugen von einem Missverständnis. von Nils Markwardt

Houellebecq Soumission

Michel Houellebecqs neuer Roman in einer Pariser Buchhandlung  |  © Jacky Naegelen/Reuters

Schon Tage bevor Michel Houellebecqs neuer Roman Unterwerfung (Soumission) in den französischen Buchhandlungen auslag, war der Skandal perfekt. Der nicht einmal 300 Seiten starke Text, der das Szenario einer islamischen Machtübernahme in Frankreich entwirft, galt als literarischer Brandsatz. Laurent Joffrin, der Chefredakteur der linksliberalen Tageszeitung Libération, konstatierte etwa, das Erscheinen von Unterwerfung sei „nicht nur ein literarisches Ereignis, das nur mit ästhetischen Kriterien bewertet werden kann. Nolens volens hat dieser Roman eindeutig eine politische Resonanz. (…) Er markiert in der Geistesgeschichte das Datum, an dem die Ideen der extremen Rechten – wieder – in die hohe Literatur eingedrungen sind.“

Der Journalist Sylvain Bourmeau, der kürzlich ein ausführliches Interview mit Houellebecq für das amerikanische Literaturmagazin Paris Review führte, bescheinigte dem Autor „literarischen Selbstmord“. Hierzulande, wo Unterwerfung am kommenden Freitag erscheint, schaffte es das Buch sogar in die Tagesthemen, in denen man dem Roman attestierte, das „Schreckensszenario“ einer islamischen Herrschaft auszubuchstabieren. Die taz sekundierte schließlich, dass das Buch „islamophobe Ressentiments“ schüre und es Pegida-Demonstranten „als Horrorerlebnis zur Bettlektüre“ gereichen würde.

Unter normalen Umständen hätten sich die Wogen nun womöglich relativ schnell wieder geglättet, da jeder, der den Roman gelesen hat, eigentlich zur Einsicht gelangen müsste, dass solch schrille Einschätzungen allzu abenteuerlich sind und Houellebecq mit Sicherheit keine Ideen der extremen Rechten proklamiert.

Video: Michel Houellebecq - Mein Buch stellt keinen bedrohlichen Islam dar

Noch vor dem Terroranschlag in Paris hat der französische Autor Michel Houellebecq sein neues Buch „Unterwerfung“ verteidigt. Der Roman entwirft eine politische Fiktion für das Jahr 2022, in der Frankreich einen muslimischen Präsidenten hat. Video kommentieren

Momentan herrschen jedoch keine normalen Umstände. Denn am 7. Januar, jenem Tag, als Unterwerfung in Frankreich veröffentlicht wurde, ereignete sich das Attentat auf das Pariser Satiremagazin Charlie Hebdo, welches insgesamt zwölf Menschen das Leben kostete; zwei Tage später die Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt, während der weitere vier Menschen starben.

Von nun an war die Rezeption von Unterwerfung untrennbar an diese islamistisch motivierten Anschläge gekettet. Nicht zuletzt auch deshalb, weil das Satiremagazin in seiner aktuellen Ausgabe eine Houellebecq-Karikatur auf dem Cover hatte. Dementsprechend schrieb etwa die FAZ: „Die Schüsse auf die Redaktion von Charlie Hebdo galten auch Houellebecq.“ Im Stern verstieg man sich sogar zu dem hanebüchenen Satz: „Für alles, was jetzt noch kommt, trägt auch er seinen Teil Verantwortung.“

Hysterische Reaktionen

Houellebecq selbst, der mit dem Wirtschaftsjournalisten Bernard Maris auch einen Freund bei dem Anschlag auf Charlie Hebdo verlor, zeigte sich schockiert, sagte alle weiteren Termine ab und hält sich nun an einem unbekannten Ort auf. Die Debatte um sein Buch läuft weiter. Diskutiert wird dabei nicht zuletzt weiterhin die Frage, wie moralisch oder unmoralisch es nun sei, das literarische Szenario einer europäischen Islamisierung zu entwerfen? Und bisweilen sind es dabei paradoxerweise die gleichen Leute, die sich zwar lautstark mit Charlie Hebdo solidarisieren und die Satirefreiheit verteidigen, über Houellebecq jedoch mindestens die Nase rümpfen.

Angesichts der Pariser Attentate müssen derzeit nun leider nicht wenige Menschen an ein paar Selbstverständlichkeiten erinnert werden. Zuvorderst daran, dass Islam nicht mit Islamismus zu verwechseln ist und Gläubige, gleich welcher Religion, nicht im Kollektivsingular existieren. Ob mancher hysterischer Reaktionen auf Unterwerfung muss man indes ebenso ins Gedächtnis rufen, dass ein Roman nicht wie ein Sachbuch, ein politisches Manifest oder eine Bedienungsanleitung zu lesen ist. Und das bedeutet zunächst vor allem, dass Moral kein primäres Kriterium der Literaturkritik sein kann. Denn wer Romane an moralischen Maßstäben misst, kastriert die Kunst.

Video: Michel Houellebecqs Unterwerfung - Eine tragische Satire gegen Europa in seiner jetzigen Verfassung

In seinem Zukunftsroman „Unterwerfung“ erzählt Michel Houellebecq von einem islamischen Frankreich im Jahr 2022. Ist dieses vieldiskutierte Buch nach den schrecklichen Anschlägen von Paris eine Warnutopie? Video kommentieren

Das heißt nun freilich nicht, dass das Label Literatur etwa die Verbreitung von Rassismus und Fremdenhass rechtfertigen könnte. Es heißt aber sehr wohl, dass Kunst radikal amoralisch sein darf. Das zeigt sich beispielhaft an den Büchern des Marquis de Sade.

Denn das Werk dieses Wüterichs der Weltliteratur, der anlässlich seines 200. Todestags jüngst noch einmal ausgiebig von den Feuilletons gewürdigt wurde, offenbart sich ja gewissermaßen als eine riesige, gleichermaßen monströse wie sexistische Gewaltfantasie. Und zwar derart, dass selbst hartgesottene Horrorfans bei der Lektüre von Die 120 Tage von Sodom oder Justine vermutlich kräftig schlucken müssen. Gleichwohl attestierte beispielsweise Simone de Beauvoir dem Marquis jenen ungeheuren Verdienst, „die Wahrheit des Menschen gegen jeden Abwehrmechanismus der Abstraktion und Entfremdung proklamiert zu haben.“ Ähnlich urteilte Albert Camus, der in de Sades „enormer Kriegsmaschine“ die „Argumente der Freidenker“ versammelt sah. Um genau dies zu erkennen – und die Texte de Sades nicht als, sagen wir, Apologie eines pornografischen Proto-Faschismus misszuverstehen –, bedarf es jedoch jenes genauen Umgangs mit Literatur, den man sich auch in der aktuellen Debatte um Unterwerfung vermehrt wünschen würde.

  1. Seite 1 Moral ist der falsche Maßstab
  2. Seite 2 Die Differenzierung ist nicht immer einfach
  3. Seite 3 Es geht überhaupt nicht um den Islam

Karl Ove Knausgård: Der Entschleuniger | ZEIT ONLINE.

Diese Lektüre ist ansteckend: In den autobiografischen Büchern des norwegischen Schriftstellers Karl Ove Knausgård passiert nichts Spektakuläres – und doch verfallen ihm die Leser weltweit wie sonst nur „Harry Potter“. von 

Der Schriftsteller Karl Ove Knausgård

Der Schriftsteller Karl Ove Knausgård  |  © dpa

Diesem Sog konnte ich mich irgendwann nicht mehr entziehen. Es gibt Bestseller, es gibt von der Kritik gerühmte Bücher, es gibt Skandalbücher – aber manchmal, selten, treten Bücher in dein Aufmerksamkeitsfeld, deren wachsender Ruhm sich wie ein neuartiges Virus per Tröpfcheninfektion und nicht auf den normalen Wegen medialer Vermarktung zu verbreiten scheint. Wie bei einer Grippewelle ist man dann überrascht, wen es im weiteren Bekanntenkreis schon alles erwischt hat. Im Moment geht die Knausgård-Epidemie um. Die unterschiedlichsten Leute aus den verschiedensten Berufswelten (was immer ein interessanter Indikator ist) sprechen einen auf den norwegischen Schriftsteller Karl Ove Knausgård, Jahrgang 1968, an und bitten um professionelle Hilfe: „Was hat dieser Autor mit mir gemacht? Ich kann nicht mehr ohne ihn!“ Da beschreibt einer auf Hunderten von Seiten fast ohne stilistische Effekte und gänzlich ohne dramaturgische Cliffhanger den mehr oder weniger ruhigen Fluss seines unspektakulären Lebens, und die Leute können nicht genug davon kriegen.

Sucht ist die Zentralmetapher, mit der Knausgård-Leser ihr Lektüreverhalten beschreiben. Das gab es zuletzt bei 13-Jährigen mit Harry Potter. Das große autobiografische Projekt von Knausgård heißt im Original Min Kamp und umfasst sechs Bände. Der deutsche Verlag hat aus nachvollziehbaren Gründen davon abgesehen, die Bücher unter dem Titel Mein Kampf in den Handel zu bringen. Die ersten drei auf Deutsch erschienenen Bände heißen Sterben, Lieben und Spielen. Jetzt ist Band vier erschienen: Leben.

Ich bin ein Spätzünder, ich habe die ersten drei Bände nicht gelesen, sondern bin gleich bei Band vier eingestiegen, um das Knausgård-Syndrom am eigenen Leibe zu überprüfen – naturgemäß mit der für Kritiker typischen Skepsis gegenüber angeblichen Hypes …

Es hat auch bei mir funktioniert. Die Droge hat angeschlagen – und es fällt mir nicht leicht zu sagen, welche Wirkstoffe da am Werk sind. Gewiss natürlich der Authentizitätseffekt. Knausgård erzählt in Min Kamp von seinem Leben ohne vorsätzliche Fiktionalisierung und den entsprechenden Kulissenzauber. Deswegen passiert auch nichts Krasses, wie wir es oft in bemüht radikalen Romanen schlucken müssen. Das Krasse als Effekt der poetischen, symbolischen Verdichtung kommt hier nicht vor. Das Krasse baut sich hingegen langsam, aber dann umso mächtiger in der genauen Protokollierung des Alltäglichen unserer Wünsche, Sehnsüchte und Triebe auf.

Bücher, die ihre Wahrhaftigkeit ausstellen, können schnell etwas Ranschmeißerisches haben. Bei Knausgård dagegen stellt sich der Realitätseffekt durch eine extreme, gleichzeitig sanfte Annäherung von erzählter Zeit und Erzählzeit her. Es fühlt sich an, als wäre man plötzlich von der digitalen Datenkomprimierung erlöst und würde das Leben wieder analog, eins zu eins wahrnehmen. Man könnte es eine Entschleunigungskur nennen. Als wäre man endlich bei dem Tempo angekommen, in dem das Leben nicht mehr durch Geschwindigkeit verzerrt an einem vorbeirauscht, sondern in dem man es in seiner Körnigkeit geradezu wie mit den Händen zu betasten vermag. Es ist ein Marketingbegriff geworden, aber Knausgårds Erzählen ist eine Schule der Achtsamkeit.

Aber genügt das, um zu erklären, warum seine Bücher so viele Leser in den Bann ziehen? Langsame Bücher – denken wir an Peter Handke – sind ja meist Bücher, die man nicht verschlingt. Knausgård hingegen schreibt langsame Bücher, die man schnell liest. Wie ist das möglich? Welche artistischen Verfahren setzt der Autor ein?

Übersicht zu diesem Artikel
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Im Folgenden ein paar Zitate aus dem Gespräch von Insa Wilke mit Christoph Ransmayr in dem Buch ‚Bericht am Feuer‘ (2014):

‚Ich fühle mich dann vollständig und mit alles Fasern am Leben, weil das Schreiben dann ohne jeden Zweifel ganz und gar meine Sache ist.‘

‚Nur wenn ich eine Ahnung davon habe, wie ungeheuerlich der Raum des Verschwindens ist, kann ich die Umrisse der Sehnsucht nach Unvergänglichkeit und Bleiben skizzieren.‘

«Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» von Joël Dicker – 52 beste Bücher – Sendungen – Schweizer Radio und Fernsehen.

Mit seinem packenden Roman einer Mischung aus Thriller, Liebesgeschichte und Entwicklungsroman sorgte der junge Genfer Autor Joël Dicker für die Sensation im französischen Bücherherbst 2012.

Der junge Genfer Autor Joël Dicker war die Sensation im französischen Bücherherbst 2012.

Bildlegende: Der junge Genfer Autor Joël Dicker war die Sensation im französischen Bücherherbst 2012. Piper Verlag

Zum Inhalt: Der hochangesehene Literaturprofessor und Erfolgsautor Harry Quebert gerät als Mörder in Verdacht: Ausgerechnet in seinem Garten findet man die sterblichen Überreste seiner jugendlichen Geliebten Nola, die vor 35 Jahren spurlos verschwunden war.

Queberts ehemaliger Student, der Schrifsteller Marcus Goldmann, will die Unschuld seines Mentors beweisen und macht die Tätersuche gleichzeitig zum Stoff eines neuen Romans.

Im Gespräch mit Luzia Stettler erzählt Joël Dicker vom Entstehen dieser raffiniert gebauten Geschichte und von den Erfahrungen als literarischer Popstar: sein Buch erntete mehrere Preise und breites Lob, und wird jetzt in über 30 Sprachen übersetzt.

Buch- und Hörbuchhinweis:

Joël Dicker. Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert. Aus dem Französischen von Carina von Enzenberg. Piper, 2013.

Joël Dicker. Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert. Ungekürzte Lesung. Sprecher: Torben Kessler. Osterwold Audio, 2013.

Roman \“Ein deutscher Sommer\“: Roman einer Ausnahmesituation | ZEIT ONLINE.

Eine sehr exakte Beschreibung bundesrepublikanischer Milieus: Peter Hennings Roman „Ein deutscher Sommer“ erzählt das Geiseldrama von Gladbeck im Sommer 1988. von 

Geiseldrama von Gladbeck

 

Der Entführer Hans-Jürgen Rösner (links) beantworter mit mit einer Pistole in der Hand Fragen von Journalisten (Archivbild vom 17.8.1988).  |  © dpa

Es gibt Ereignisse, die sich sowohl in das kollektive Gedächtnis einer Nation als auch in die individuelle Erinnerung tief eingegraben haben. Wenn man herumfragt: Was hast Du getan, als dieses oder jenes geschah, werden die meisten umgehend eine Antwort parat haben. Also: In jenen Augusttagen des Jahres 1988, um die es hier geht, war der Verfasser dieses Artikels 14 Jahre alt und mit seinen Eltern in Südtirol im Urlaub. In dem Hotel hatte nicht jedes Zimmer einen Fernseher; man versammelte sich nach dem Abendessen im Fernsehraum, um gemeinsam die Tagesschau anzugucken, so war das nun einmal.

Man sah die Bilder dessen, was bis heute nur noch Das Geiseldrama von Gladbeck heißt, man sah die Gesichter von Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski, ihre Posen vor den Kameras, jene Szene, in der Rösner sich die Pistole in den Mund schob, um zu zeigen, dass ihm alles egal ist, auch das eigene Leben; man sah Interviews, die Fernsehjournalisten mit den Geiselnehmern führten, in einem Bus, in einer Fußgängerzone.

Und man sah die Gesichtszüge der bei der späteren Befreiungsaktion getöteten Silke Bischoff, einer attraktiven jungen Frau im schwarzen Pullover; Gesichtszüge, die so viel ausstrahlten: Angst, Verwirrung, Fassungslosigkeit. In Südtirol, im Fernsehraum des Hotels, fragten die Menschen die deutschen Touristen: „Seid Ihr da in Deutschland eigentlich verrückt geworden?“ Noch heute, ziemlich genau 25 Jahre nach der Gladbecker Geiselnahme, muss die Antwort darauf noch immer lauten: Ja.

Drei Tage lang rasten Rösner und Degowski durch das Land, von Gladbeck nach Bremen, von dort in die Niederlande, zurück nach Köln, verfolgt von einem wachsenden Tross außer Rand und Band geratener Journalisten, bis sie schließlich auf der A 3 in der Nähe von Bad Honnef von einem Polizeifahrzeug abgedrängt und festgenommen wurden. Dabei starb Silke Bischoff durch einen Schuss aus Rösners Waffe. (…)

Literaturkritik: Der beste Leser | ZEIT ONLINE.

James Wood, der berühmte amerikanische Literaturkritiker, erklärt auf grandiose Weise sein Handwerk.

James Wood ist der berühmteste Literaturkritiker der Welt. Als berühmtester Literaturkritiker der Welt ist man kein Star (es ist also nicht schlimm, wenn Sie, lieber Leser, von seinem Namen noch nie gehört haben), aber doch eine Autorität, deren Wort in vielen Ländern Gewicht hat. Wood schreibt für den New Yorker , und sein Ansehen ist deshalb grenzüberschreitend, weil man eben nur als anglofoner Literaturkritiker über die Sprachgrenzen hinweg sich einen solchen Ruf erwerben kann. Vielleicht sitzt der geistreichste Literaturkritiker der Welt in São Paulo – wir werden es vermutlich nie erfahren.

Es ist ausgesprochen reizvoll zu beobachten, wie in anderen Ländern und Sprachen über Literatur geredet wird. Sind unsere eigenen Maßstäbe möglicherweise provinziell? Gibt es tatsächlich auch im Werturteil so etwas wie Weltliteratur oder sind unsere Geschmacksurteile kulturrelativ? Hat das Ausland einen anderen Blick auf die deutsche Literatur? Was heißt es für unser eigenes kritisches Selbstverständnis, dass der Rest der Welt die deutsche Literatur vor allem durch die drei Namen Thomas Bernhard , W. G. Sebald und Peter Handke verkörpert sieht? Aber auch: Gibt es woanders eine andere Art der Lektüre und Sprachbeobachtung?

James Wood, Jahrgang 1965, hat ein Buch geschrieben, das jetzt auch auf Deutsch vorliegt: Die Kunst des Erzählens. (Die deutsche Ausgabe ist mit einem Vorwort von Daniel Kehlmann versehen.) Das Buch hat es in sich, weil es wirklich am Text arbeitet und die großen Fragen der Literatur an der einzelnen konkreten Textstelle überprüfbar macht. Man könnte auch sagen: Nachdem man James Wood gelesen hat, beschleicht einen als Literaturkritiker das ungute Gefühl, bisher aus Düsenjet-Perspektive über die Textlandschaften hinweggeflogen zu sein, weshalb die Reiseeindrücke vor allem aus Achttausendern bestehen, die einem auch aus der Ferne und bei hoher Geschwindigkeit ins Auge springen. James Wood hingegen ist mit einem kleinen, wendigen Helikopter unterwegs. Er kann nah heranfliegen und uns genau berichten, über welchen Felsvorsprung der Wasserfall der Worte in die Tiefe stürzt. Die Kunst des Erzählens ist eine Schule des close reading . Es gemahnt uns daran, mehr über die Form als über den Inhalt nachzudenken.

 

Eine normale Literaturrezension liest sich ungefähr so: »Der Autor XY greift in seinem neuen Roman das Thema des internationalen Terrorismus auf, und indem er eine Geschichte über eine Einwandererfamilie erzählt, ist sein Buch auch ein bewegendes Plädoyer für eine Welt, in der die Kulturen miteinander ins Gespräch kommen.« Das ist literaturkritisch natürlich völlig irrelevant. Groß ist die Literatur nämlich nicht, weil sie dieses oder jenes Thema aufgreift, sondern weil ihr in ihrem sprachlichen Ausdruck ein Moment der Intensität, der Überraschung, der Verfremdung oder der Schönheit gelingt.

Intuitiv sind wir uns alle einig, dass James Joyce’ Erzählung Die Toten mit einem tollen ersten Satz loslegt: »Lily, die Tochter des Verwalters, musste sich buchstäblich die Beine ablaufen.« Aber was macht diesen Satz so körnig, so lebendig? James Wood zeigt an ihm den raffinierten Einsatz der Figurenrede. Wirklich »buchstäblich« kann sich ja niemand die Beine ablaufen, weshalb das Adverb eben keines der Erzählerstimme ist, sondern direkt von Lily souffliert wurde, von der man sich vorstellen kann, wie sie ihren Freundinnen berichtet: »Ich musste mir buch-stäb-lich die Beine ablaufen.« Hier findet also ein höchst beiläufiger, äußerlich nicht markierter Wortaustausch zwischen dem Autor und seiner Figur statt. Während der Satz sonst dem Erzähler gehört, meldet sich mit diesem Adverb Lily selbst zu Wort.(…)

 

Juli Zehs Poetikvorlesung: Vom Nur-So zum Roman – Autoren – FAZ.

08.07.2013 ·  Juli Zeh verteidigt in ihrer Frankfurter Poetikvorlesung Literatur als einen Rückzugsraum der Anarchie, eingefangen zwischen zwei Buchdeckeln. Und beschreibt damit zugleich ihre eigenes Verfahren.

© Fricke, Helmut Animierend: Juli Zeh

Am Ende der dritten Vorlesung war Juli Zeh bei ihren Kritikern angelangt. Versammele sie alle Stimmen, die seit je versicherten, die Autorin Zeh tauge nichts, dann klinge das in etwa so: „Zuerst das Gute: Der neue Roman von Juli Zeh ist weniger lang als seine Vorgänger.“ Die Konstruktion der Rahmenerzählung aber sei ebenso bemüht wie die Sprachfähigkeit der Autorin begrenzt. Juli Zeh sei eine „Schwallmadame“, „Quatschnudel“, „Dauerpowerfrau“, und „apokalyptisch altkluge Angeberin“. Glücklicherweise wolle sie sich nun ihrer juristischen Doktorarbeit zuwenden. „Da kann sie weiter Thesenklappriges aufeinanderstapeln. Und das Beste: Lesen muss es nur einer.“

Das, sagte Juli Zeh anschließend, stamme nicht von ihr, sondern sei eine kleine Zitatencollage aus Rezensionen ihrer Bücher der letzten Jahre. Ihre Frankfurter Poetikvorlesung kam damit der Literaturdefinition der Romantiker relativ nah: dass ein Werk nämlich immer auch seine Kritik enthalten solle. Das galt auch jenseits ironischer Anklänge. Denn Zehs Poetikvorlesung, einige Tage vor Beginn bereits unter dem Titel „Treideln“ im Schöffling Verlag erschienen, war mit nahezu jedem Satz eine Wiederbelebung romantischen Literaturverständnisses. Wenn sie schreibe, hatte Zeh in der zweiten Vorlesung erklärt, dann in Form des „Nur-So“: „Das Nur-So ist eine Textart, die jederzeit gelöscht werden kann. Sie dient keinem Leser, sondern ausschließlich dem Autor. Das Nur-So besteht aus Textfetzen, Szenen, Kurzdialogen, einzelnen Sätzen oder auch kleinen, in sich geschlossenen Episoden. Ein Nur-So kann zu beträchtlicher Länge anwachsen.“ Etwa so seien fast alle ihre Romane entstanden. (…)