Jean-Philippe Toussaint: Im Fußball steckt die ganze Welt

Seine Liebe zu diesem Spiel ist die eines Kinds. Nun hat der Essayist Jean-Philippe Toussaint eine wunderbare Huldigung an den Fußball geschrieben.
Der Rasen, der die Welt bedeutet
Der Rasen, der die Welt bedeutet © Paul Gilham/Getty Images

Dieses Fußballbuch endet mit Goethe. Als sich Jean-Philippe Toussaint im Sommer 2014 vom Halbfinale Argentinien gegen Holland von der Arbeit am neuen Bestseller abhalten lässt, wüten über seinem Wohnsitz Korsika Stürme, Regen und Blitze. Erst verliert sein Internet die Verbindung, dann sein Radio den Strom. Nach nervöser Suche findet er im Keller ein Transistorradio mit Batteriebetrieb, gerade rechtzeitig, um sich am entscheidenden argentinischen Elfmeter zu beglücken.

Ergriffen tritt er auf den Balkon und blickt auf das Unwetter. Eine Anspielung auf eine Szene in Die Leiden des jungen Werther. Dort stehen Lotte und der jugendliche Held am Fenster und betrachten ein Frühlingsgewitter. Sie sagt nur ein Wort: Klopstock, der verehrte Hymnendichter. Dann gehen den beiden unglücklich Verliebten die Augen über. Toussaint lässt sich vom Naturereignis Fußball rühren und bewegen. Seine Frau, noch eine profane Abweichung von Goethe, liegt im Bett und fragt: „Ist der Fußball vorbei?“

Das ist die typische Ironie des gefeierten belgischen Autors Toussaint. Doch die Huldigung des Fußballs in seinem neuen Büchlein Fußball ist ihm ernst. In biografischen Begebenheiten schildert er in Miniaturen seine tiefe Liebe zu diesem Spiel. Es ist eine kindhafte Liebe, ratlos und unergründlich. Es ist auch die Welt- und Selbstbeschreibung eines willentlich naiven Liebhabers über das, was der Fußball mit ihm macht, wohin er ihn treibt, was er dank ihm erkennt.

Der belgische Autor und Regisseur Toussaint wurde durch Romane wie Sich lieben oder Fliehen einem internationalen Leserkreis bekannt. Nach dem Berliner WM-Finale 2006 widmete er Zinédine Zidanes Kopfstoß gegen den italienischen Bösewicht Marco Materazzi ein ganzes, kleines Buch (Zidanes Melancholie). Mit Zidane, dem Kreativen, fühlt der Schriftsteller mit. „Unfähig, sich mit einem weiteren Tor zu verewigen, verewigte er sich in unserer Erinnerung.“

„Ich schaue nicht mehr mit den Augen des Kindes“, schreibt Toussaint leitmotivisch nun in seinem Essay, „aber ich nehme immer noch mit der unschuldigen Unbefangenheit der Kindheit den Zauber des Fußballs wahr.“ Der Fußball sei der „zarte Faden“, der ihn mit der Welt verbinde.

Wie kindlich staunend sich Toussaint den Fußball erschließt, zeigt das Kapitel über die Weltmeisterschaft 2006. Schon Stunden vor dem Spiel Schweden gegen Paraguay spaziert er um das Berliner Olympiastadion, wo Hitlers Größenwahn seine Spuren bis heute hinterlässt. Als er auf Fans mit australischen Mützen, Mexikotrikots, Hollandschals trifft, das globale multinationale Fußballvolk also, wendet er sich ab von den Nazibauten.

Schweigende Schweden

Einem Mann im peruanischen Trikot möchte er am liebsten die Hände schütteln, um ihm seine Sympathie zu versichern. Nach dem Siegtor fällt ihm ein schweigender Schwede um den Hals, „wie ich nur selten im Leben umarmt wurde“. Dabei, schreibt Toussaint, sei er für Paraguay gewesen.

Ein Schlüsselerlebnis seiner Sozialisation als Fan ist für ihn die Weltmeisterschaft 2002, die er in Japan verbringt. Toussaints Blick auf Land und Leute ist so fremd wie liebevoll. Würde sein Buch verfilmt, müsste er von Bill Murray gespielt werden. Er vergnügt sich an hysterischen Fans, tauscht mit Tausenden Japanern Lächeln aus, bringt in der U-Bahn ein verängstigtes Mädchen zum Lachen. Es muss ein glücklicher, sinngesättigter Monat gewesen sein.

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