„Wenn du überwacht wirst, bist du politisch kastriert“

Warum protestieren die Menschen nicht in Scharen gegen die massive Überwachung? Warum sollten sie? Autor Daniel Suarez und andere Intellektuelle suchen nach Antworten.

We are data

„We are data“ des Games-Publishers Ubisoft ist eine Website, die öffentlich gemachte Daten über Paris, London und Berlin zusammenstellt.   |  © Ubisoft

Von Daniel Suarez, Schriftsteller

Dieses allumfassende Spionagesystem ist auf hinterlistige Art genial. Denn wir haben selbst darin investiert. Wir haben Zeit und Geld, ja sogar Liebe in unsere schicken Abhörwanzen – unsere Smartphones – gesteckt, in unsere Apps und in unsere sozialen Netzwerke. Aber wir bezahlen noch einen weiteren heftigen, unsichtbaren Preis – die massive Überwachung.

Menschen hassen es, auf handfeste Vorteile zu verzichten, nur um eine unsichtbare Schandtat zu stoppen. Besonders deutlich wird das immer dann, wenn wir irgendwelchen Nutzungsbedingungen von Apps zustimmen, die Zugriff auf unser Adressbuch, unsere Anrufliste oder unseren Standort haben wollen – nur damit wir aktuelle Restaurant-Bewertungen oder so etwas bekommen.

Wir scheinen täglich einen solchen Pakt mit dem Teufel einzugehen. Für manche ist die Überwachung durch Geheimdienste wohl nur eine weitere skandalöse Lizenzvereinbarung, und sie sind darauf konditioniert, ihr zuzustimmen.

Zudem versagen die meisten Mainstream-Medien dabei dabei, dem Durchschnittsbürger zu erklären, warum das Thema wichtig ist. Kein Wunder, Apps und das mobile Internet sind für die Medienkonglomerate ja selbst wertvolle Einnahmequellen, weil sie dort Werbung verbreiten und Nutzerdaten erheben können.

Daniel Suarez
Daniel Suarez

Daniel Suarez, Jahrgang 1964, arbeitete zunächst als Softwareentwickler und Systemberater. 2006 erschien sein Science-Fiction-ThrillerDaemon. Darin entwirft er das Bild einer Gesellschaft, die zunehmend von Computern entmündigt wird. Im vergangenen Jahr erschien die Fortsetzung Darknet  im Rowohlt Verlag – und im April 2013 erschien Kill Decision, ein Thriller über autonome Drohnen und Cyberwar.

Deshalb dreht sich die Debatte immer nur um lächerliche Argumente wie „Wenn du nichts zu verbergen hast, sollte dir die allgegenwärtige Überwachung keine Sorgen bereiten.“

Dabei gibt es keine unabhängigen Beweise dafür, dass dieses System wirklich hilft, Terroristen zu finden. Aber es ist unglaublich nützlich, um die Kritiker von Regierung und Big Business zu identifizieren und zu diskreditieren. Deshalb untergräbt permanente Überwachung den politischen Aktivismus – und damit das Herz der Demokratie.

Irgendwann wird die Öffentlichkeit erkennen, dass all diese von Unternehmen und Regierungen gesammelten Daten einen saftigen Preis haben – den Verlust politischer Macht. Es gibt einen Grund, warum diese Daten für Wirtschaft und Politik wertvoll sind: Information ist Macht. Und wenn jemand anderes deine Daten hat, du aber keine von ihm, dann hast du gerade einen großen Teil deiner politischen Macht geopfert.

Es stimmt ja, ein Großteil der Daten wird für kommerzielle Zwecke genutzt, zum Beispiel, um Werbung zielgerichtet auszuspielen. Aber diese Daten sind Dual-Use-Güter. Sie können ebenso gut verwendet werden, um das Zentrum einer sozialen Bewegung im Netz zu identifizieren, die eine Kampagne gegen Korruption bei den Mächtigen anführt.

Wenn du überwacht wirst, bist du politisch kastriert.

Von Viktor Mayer-Schönberger, Professor für Internet Governance and Regulation

Die amerikanischen Behörden erfassen und speichern Milliarden von Metadaten über die elektronische Kommunikation von Menschen in aller Welt. Das erinnert Datenschützer an Big Brother – an einen Staat, der die Menschen umfassend überwacht und ihnen damit die Privatsphäre raubt. Vor fast 30 Jahren übten sich in Deutschland für weitaus weniger Daten Hunderttausende Menschen in zivilem Ungehorsam, brachten die Volkszählung vor das Bundesverfassungsgericht, das wiederum das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zum Grundrecht erklärte. Der Protest gegen Prism hingegen hält sich (noch) in Grenzen.

Viktor Mayer-Schönberger
Viktor Mayer-Schönberger

Mayer-Schönberger studierte Jura in Salzburg, Cambridge und Harvard. Während seines Studiums gründete er eine Firma für Datensicherheit und Antivirussoftware, blieb letztlich aber in der Wissenschaft, unter anderem an der John F. Kennedy School of Government in Harvard und als Director of the Information Policy Research Center an der National University in Singapur. Derzeit ist er am Oxford Internet Institute Professor für Internet Governance and Regulation. Er hat mehrere Bücher geschrieben, zuletzt Big Data – A Revolution That Will Transform How We Live, Work, and Think, das im Oktober auf Deutsch erschienen ist.

Manche haben wohl einfach ihren Kampf aufgegeben, im Angesicht der immer gigantischeren Sammlungen persönlicher Daten, die Unternehmen und Behörden vorrätig halten. Der jungen Generation wird unterstellt, sie schere sich spätestens seit Gmail und Facebook ohnehin nicht mehr um den Datenschutz, sondern konsumiere lieber unentgeltliche Internet-Dienste im Austausch gegen persönliche Daten. Vielleicht passt aber schlicht die Metapher vom Überwachungsstaat nicht mehr auf Big Data, vielleicht hat sich das Bedrohungsszenario gewandelt.

Big Data ist die Fähigkeit, unzählige Einzelinformationen nicht bloß zusammenzufügen, sondern zur Vorhersage menschlichen Verhaltens zu verwenden, das gar nicht offenkundig mit den Einzelinformationen in einem Zusammenhang steht.

Mit Big Data lassen sich diese Korrelationen erkennen: aus kleinsten Veränderungen des Einkaufsverhaltens erkennt etwa die Firma Target in den USA mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass eine Kundin schwanger ist (sogar der Geburtstermin lässt sich relativ genau vorhersagen). Ein amerikanischer Finanzinformationsdienstleister ermittelt aus vordergründig völlig banalen soziodemografischen Daten die Wahrscheinlichkeit, wie verlässlich jemand seine Medikamente einnimmt. Lediglich aus dem Freundeskreis auf Facebook lässt sich vorhersagen, ob jemand wahrscheinlich homosexuell ist, oder ein Scheidungskind. 30 Bundesstaaten in den USA nutzen empirische Datenanalyse um vorherzusagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Häftling, der einen Antrag auf vorzeitige Entlassung stellt, in den nächsten zwölf Monaten wieder in eine Schießerei verwickelt wird.

Immer geht es um das Gleiche: aus riesigen Mengen scheinbar uninteressanter Daten lassen sich immer genauere Vorhersagen über andere, sehr sensible Bereiche unseres Seins treffen – insbesondere wie Menschen sich verhalten werden. Die Richtung ist klar. Es geht nicht mehr um das Ausspähen der Gegenwart, sondern um einen Einblick in die Zukunft. Das ist der Kern von Prism. Präsident Obama hat schon recht, wenn er sagt, die von Prism gesammelten Daten seien doch für sich genommen recht harmlos. Er verschweigt freilich, dass sich daraus statistische Vorhersagen gewinnen lassen, die viel tiefere, sensiblere Einblicke gewähren.

Wenn uns nun der Staat verdächtigt, nicht für das was wir getan haben, sondern für das was wir – durch Big Data vorhersagt – in der Zukunft tun werden, dann drohen wir einen Grundwert zu verlieren, der weit über die informationelle Selbstbestimmung hinausgeht. Im Schatten von Prism ist nichts Geringeres in Gefahr als der freie Wille – die essenzielle Freiheit des Menschen auch in der Zukunft über sein Handeln selbst zu bestimmen. Das muss uns klar werden! Wenn die Menschen verstehen, was durch Prism auf dem Spiel steht – die menschliche Freiheit zu handeln – werden sie diese zentrale Grundfreiheit verteidigen. Das jedenfalls hoffe ich.

Von Byung-Chul Han, Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft

Die digitale Vernetzung verwandelt die Welt selbst in ein digitales Panoptikum. Das Eigentümliche dieses Panoptikums besteht darin, dass jeder jeden beobachtet und überwacht. Nicht nur Geheimdienste sind mit dem Ausspähen beschäftigt. Unternehmen wie Facebook oder Google arbeiten selbst wie Geheimdienste. Sie spionieren letzten Endes unser Leben aus, um aus den ausgespähten Informationen Kapital zu schlagen.

Google und Facebook, die sich als Räume der Freiheit präsentieren, sind gleichzeitig digitale Panoptiken. Facebook betreibt eine Ausleuchtung und Ausbeutung des Sozialen. Firmen überwachen ihre Angestellten. Banken durchleuchten potenzielle Kreditkunden. Der entscheidende Punkt ist aber: Heute verhalten wir uns alle selbst wie ein Geheimdienstler. Wir googlen uns gegenseitig oder kommen in Versuchung, bestimmte Personen auszuspähen.

Byung-Chul Han

geboren in Seoul, ist Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Im September erscheint von Byung-Chul Han bei Matthes und Seitz Im Schwarm. Ansichten des Digitalen.

Die Überwachungssoftware „Riot“ des US-Rüstungskonzerns Raytheon, auch „Google für Spione“ genannt, erstellt sowohl Bewegungsprofile als auch Prognosen für das zukünftige Verhalten der Zielpersonen, indem sie unter anderem für jeden zugängliche Daten aus sozialen Netzwerken auswertet. Mit ein paar Klicks wird das ganze private Umfeld der Zielperson auf dem Bildschirm ausgebreitet.

Es besteht kein grundsätzlicher Unterschied zwischen einer Person, die jemanden googelt und beobachtet, und einem Geheimdienst, der die Welt überwacht. Jeder von uns übt heute eine Tätigkeit aus, die ursprünglich die Tätigkeit eines Geheimdienstlers wäre.

Überwachung und Ausspionieren sind ein inhärenter Teil der digitalen Technik. Sie sind ein allgemeiner Habitus in der Welt, die ein digitales Panoptikum geworden ist. Jeder ist Big Brother und Insasse zugleich. Jeder ist Täter und Opfer zugleicht.

Es gibt keine reinen Opfer mehr, die gegen Täter vorgehen könnten. Wir protestieren nicht gegen Geheimdienste, weil wir selbst alle ein Geheimdienst sind. Der Übergang von der Transparenz- und Informationsgesellschaft zur Kontroll- und Überwachungsgesellschaft ist ein konsequenter Schritt, er folgt der Logik des digitalen Mediums. Die Freiheit, die uns die digitale Kommunikation versprach, schlägt in Kontrolle um. Darin besteht die Dialektik der Freiheit. Die Überwachung ist in der Welt als digitalem Panoptikum ein Normal- und kein Ausnahmezustand.

Überwachung: Wer blickt da durch? | ZEIT ONLINE. (3.11.13)

Niemand weiß, ob er überwacht wird. Und genau dieses Nichtwissen macht uns zu Sklaven des Internets. von 

So zynisch es klingt: Der NSA-Skandal hat auch sein Gutes. Seitdem Edward Snowden den Kontrollwahn der US-Geheimdienste ans Tageslicht gebracht hat, ist es mit der Internet-Lobhudelei vorbei. Die denkfaule intellektuelle Begleitlobby von Google, Facebook und Co. ist kleinlaut geworden. Wer bislang gegen ihre digital correctness verstoßen und es gewagt hatte, dem Jubelchor der Techno-Evangelisten zu widersprechen, der wurde per Mausklick als „Kulturkritiker“ aussortiert. Er war ein analoger Altmensch, der in der Besenkammer seiner Vorurteile die Morgenröte der Zukunft verschläft.

Tatsächlich ist nun eine konkrete Utopie zerplatzt, nicht irgendeine luftige Spinnerei, sondern ein ganz handgreifliches und sehr menschenfreundliches Versprechen. Mitten in dieser kontrollsüchtigen Gesellschaft, so lautete das Versprechen, schaffe das Internet eine Zone radikaler Freiheit. Hier könne sich der Bürger unbeobachtet bewegen; fern von den Argusaugen des Staates, ohne Polizei, Gesinnungskontrolle und den sanften Terror der Mehrheit, kurz: ohne den Großen Anderen, all die unsichtbaren Disziplinarmächte, die den Bürger unter Beobachtung stellen, die sein Reden und Denken regulieren und ihn auf Linie bringen. Das Netz sei ein Geschenk des Himmels, ein machtfreier Raum in der übermächtigen Moderne.

Nachdem sogar die Bundeskanzlerin ins Fadenkreuz der Schnüffler geriet, ahnen auch die Wohlmeinenden: Es war ein Irrtum. Das Internet ist zwar immer noch ein Medium der Freiheit, aber zugleich eine Technologie der Macht; es mag das jüngste Kapitel in der Geschichte der menschlichen Emanzipation sein, doch zugleich ist es auch das allerneueste Werkzeug in der langen Geschichte des Kontrollierens und Überwachens.

(…)

Nun wird es ziemlich gemein. Die Beobachtungsmächte – Internetindustrie und Staatsspäher – sammeln nämlich nicht bloß Daten, sondern verbinden und „konfigurieren“ die Informationen, die sie durch automatisierte Abschöpfung über eine Person gewonnen haben. Auf diese Weise entsteht ein digitaler Zwilling, ein beliebig aushorchbarer Doppelgänger im Netz, eine Chiffrenexistenz, die auch dann noch weiterlebt, wenn der Datenspender längst tot ist.

Dieser „persönliche“ Datenzwilling hat für den Originalmenschen etwas zutiefst Unheimliches, und zwar nicht nur deshalb, weil man ihn nicht sieht, sondern weil er zugleich aus Eigenem wie auch aus Fremdem besteht. Sein „Datenkörper“ verdankt sich der lebendigen Ausgangsperson und ihren Suchbewegungen; doch sein „Charakter“ und seine „Seele“ werden von der Internetindustrie definiert – von fremden Blicken, fremden Interessen, fremden Profilern.

Mit einem Wort: Das Ebenbild im Netz ist ein Wesen, das anonyme Beobachter aus Datenmaterie geformt und mit ihrer paranoiden Fantasie „beseelt“ haben. Das Ich ist wieder ein anderer, doch diesmal ist es kein freies Spiel mit wechselnden Masken, sondern es ist Ernst. Niemals wird man wissen, was das eigene Netzdouble so treibt, und niemals wird man erfahren, was die Beobachter alles erspäht, erkundet und gehortet haben. Es ist so, als habe man seinen Schatten verkauft. Der Ausdruck Entfremdung ist dafür ein recht harmloses Wort.

„Ich habe nichts zu verbergen.“ Das ist die Standardphrase, mit der viele achselzuckend auf den Speicherwahn reagieren, auf all die schmutzigen Geheimnisse, die nun aufgeflogen sind. „Ich fühle mich unbeobachtet. Ich denke nicht einmal dran.“

Aber stimmt das? Kann man sich vornehmen, einen Gedanken erst gar nicht zu denken – oder hat man ihn dann bereits gedacht? Die Perfidie der Überwachung besteht ja gerade darin, dass sich die Beobachter nicht identifizieren lassen; man weiß von ihnen nur, dass man nichts von ihnen weiß. Sie müssen gar nicht drohen und fuchteln, es reicht, wenn sie Ungewissheit erzeugen. „Nie sollst du wissen, wann wir dich beobachten, damit du dich nie unbeobachtet fühlen kannst.“ Die Späher sind einfach „da“, sie schleichen durchs Imaginäre und setzen das Leben des Einzelnen in den Konjunktiv: „Es könnte ja sein …“

Das reicht schon. Es könnte sein, dass man beobachtet wird – schon dieser Gedanke ist eine Nötigung, er macht unfrei und zwingt den Internetbenutzer dazu, sich in daueralarmierter Wachsamkeit mit dem Auge des Beobachters zu beobachten. Was weiß er, was ich nicht weiß? Bin ich verdächtig? Bin ich schuldig? Mit der fröhlichen Naivität des Maskenspiels, mit der oft gefeierten Wiederkehr des „Theatralischen“ im Netz, ist es vorbei. Nichts mehr scheint unschuldig und die gespielte Unschuld schon gar nicht.

Natürlich gibt es jederzeit die Möglichkeit, die Flucht nach vorn anzutreten, alle Masken fallen zu lassen und nichts mehr zu verschlüsseln. „Ich habe nichts zu verbergen, und genau das ist mein Geheimnis.“ Man zeigt sich dem anonymen Auge nackt und verbirgt sich durch Enthüllung. Doch seine alte Souveränität erhält man dadurch nicht zurück, denn schließlich tut man es nicht freiwillig.

„Sein ist Gesehenwerden.“ Dieser Satz des irischen Philosophen George Berkeley (1685 bis 1753) ist in der europäischen Kulturgeschichte eine heilige Formel, und in der Digitalmoderne scheint sich seine Einsicht zu erfüllen, wenngleich ganz anders, als sie einmal gemeint war. Für Berkeley ist es der Blick des Gegenübers, der als verlängerter Blick Gottes den Menschen anerkennt und in seinem Sein bestätigt. Ganz anders im Netz: Der Blick des „Gegenübers“ kann nicht erwidert werden, der weltliche Beobachtergott bleibt anonym, voller Argwohn und Rachsucht. Sein Blick ist panoptische Kontrolle, und der Gesehene wird in seinem „Sein“ durch ihn nicht geschaffen, sondern fragmentiert, gespalten, verunsichert.

Die Kulturgeschichte hält übrigens für einen Beobachter, der sich selbst nicht beobachten lässt, ein schönen abendländischen Ausdruck bereit: Es ist der Teufel. Natürlich könnte man den Teufel aus dem Netz austreiben. Man müsste es nur wollen.

Roman \“Ein deutscher Sommer\“: Roman einer Ausnahmesituation | ZEIT ONLINE.

Eine sehr exakte Beschreibung bundesrepublikanischer Milieus: Peter Hennings Roman „Ein deutscher Sommer“ erzählt das Geiseldrama von Gladbeck im Sommer 1988. von 

Geiseldrama von Gladbeck

 

Der Entführer Hans-Jürgen Rösner (links) beantworter mit mit einer Pistole in der Hand Fragen von Journalisten (Archivbild vom 17.8.1988).  |  © dpa

Es gibt Ereignisse, die sich sowohl in das kollektive Gedächtnis einer Nation als auch in die individuelle Erinnerung tief eingegraben haben. Wenn man herumfragt: Was hast Du getan, als dieses oder jenes geschah, werden die meisten umgehend eine Antwort parat haben. Also: In jenen Augusttagen des Jahres 1988, um die es hier geht, war der Verfasser dieses Artikels 14 Jahre alt und mit seinen Eltern in Südtirol im Urlaub. In dem Hotel hatte nicht jedes Zimmer einen Fernseher; man versammelte sich nach dem Abendessen im Fernsehraum, um gemeinsam die Tagesschau anzugucken, so war das nun einmal.

Man sah die Bilder dessen, was bis heute nur noch Das Geiseldrama von Gladbeck heißt, man sah die Gesichter von Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski, ihre Posen vor den Kameras, jene Szene, in der Rösner sich die Pistole in den Mund schob, um zu zeigen, dass ihm alles egal ist, auch das eigene Leben; man sah Interviews, die Fernsehjournalisten mit den Geiselnehmern führten, in einem Bus, in einer Fußgängerzone.

Und man sah die Gesichtszüge der bei der späteren Befreiungsaktion getöteten Silke Bischoff, einer attraktiven jungen Frau im schwarzen Pullover; Gesichtszüge, die so viel ausstrahlten: Angst, Verwirrung, Fassungslosigkeit. In Südtirol, im Fernsehraum des Hotels, fragten die Menschen die deutschen Touristen: „Seid Ihr da in Deutschland eigentlich verrückt geworden?“ Noch heute, ziemlich genau 25 Jahre nach der Gladbecker Geiselnahme, muss die Antwort darauf noch immer lauten: Ja.

Drei Tage lang rasten Rösner und Degowski durch das Land, von Gladbeck nach Bremen, von dort in die Niederlande, zurück nach Köln, verfolgt von einem wachsenden Tross außer Rand und Band geratener Journalisten, bis sie schließlich auf der A 3 in der Nähe von Bad Honnef von einem Polizeifahrzeug abgedrängt und festgenommen wurden. Dabei starb Silke Bischoff durch einen Schuss aus Rösners Waffe. (…)

Philosophie: Alles eilt. Wie wir die Zeit erleben | Kultur | ZEIT ONLINE.

Die neoliberale Politik hat sämtliche Zeitformen zerstört, die der Logik der Effizienz und des Kapitals im Wege stehen. Dies macht krank und zerstört die Seele. Deshalb brauchen wir eine andere Zeit: Die Zeit als Gabe. Von Byung-Chul Han

Den Menschen sind jene Zeitformen abhandengekommen, die eine Erfahrung der Dauer möglich machen.

Den Menschen sind jene Zeitformen abhandengekommen, die eine Erfahrung der Dauer möglich machen.

„Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heißt die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in großem Maße zu verstärken.“

(Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches )

Nicht jede Zeitform lässt sich beschleunigen. Es wäre ein Sakrileg, eine rituelle Handlung beschleunigen zu wollen. Rituale und Zeremonien haben ihre Eigenzeit, ihren eigenen Rhythmus und Takt. Alle Handlungen, die an die Jahreszeiten gebunden sind, entziehen sich ebenfalls der Beschleunigung. Liebkosungen, Gebete oder Prozessionen lassen sich nicht beschleunigen. Alle narrativen Vorgänge, zu denen auch Rituale und Zeremonien gehören, haben ihre eigene Zeit. Im Gegensatz zum Zählen lässt das Erzählen keine Beschleunigung zu. Die Beschleunigung zerstört die narrative Zeitstruktur, den Rhythmus und den Takt einer Erzählung.

Die Geschwindigkeit des Prozessors lässt sich beliebig erhöhen, weil er nicht narrativ, sondern bloß additiv arbeitet. So unterscheidet sich der Prozessor von der Prozession, die ein narratives Ereignis ist. Heute werden alle Rituale und Zeremonien abgeschafft, weil sie hinderlich sind für die Beschleunigung der Kreisläufe der Information, der Kommunikation und des Kapitals. So werden alle Zeitformen beseitigt, die nicht der Logik der Effizienz gehorchen.

 

Philosoph Michael Sandel: „Gute Fragen sind einfach“ | Lebensart | ZEIT ONLINE.

Der amerikanische Philosoph Michael Sandel ist durch seine Vorlesungen über Gerechtigkeit zum Weltstar geworden. Er versteht das Fragen als die eigentliche Aufgabe der Philosophie. Und dennoch war er hier bereit, auch zu antworten: Und zwar auf alle Fragen dieses Heftes und auf noch ein paar mehr.

Kurz bevor in einem Berliner Hotel das Gespräch mit Michael Sandel beginnt, trifft, purer Zufall, die Mail einer jungen Philosophin ein. Sie schreibt aus den mazedonischen Bergen, aus dem Trainingszentrum einer Bank, die dort ihre Jungmanager aus den Balkanländern und aus Afrika schult. Dort werden die Ethik-Vorlesungen von Michael Sandel, dem Harvard-Philosophen, für Seminare über Ethik und Kapitalismus verwendet. Ich erzähle Michael Sandel zuallererst von dieser Mail: von den Sandel-Schülern in den mazedonischen Bergen. Er freut sich erkennbar und interessiert sich prompt für die Arbeit der jungen Philosophin. Aber ebenso zweifellos macht er nicht zum ersten Mal Bekanntschaft damit, dass seine Gedanken sich seit Jahren wie ein Lauffeuer bis in die entlegensten Ecken herumsprechen. Er äußert sich kurz freundlich über die Banker in den Bergen. Und dann überlegen wir, womit wir unser Gespräch über die großen alten Fragen beginnen wollen, die wir den Philosophen der Gegenwart für dieses ZEIT-Heft gestellt haben. Sandel ist einverstanden damit, auf jede dieser Fragen seine eigene Antwort zu geben, auch wenn er für eine einzelne nur wenige Minuten Zeit hat, während die anderen Autoren für nur eine Frage viel Zeit hatten. Doch wir kommen schnell überein, dass wir zunächst mal beim Fragen möglichst vorn anfangen sollten.

Prism-Affäre: „Stoppen Sie das, Mister Obama!“ | Kultur | ZEIT ONLINE.

Der große Wissenschaftler Noam Chomsky über den amerikanischen Überwachungsskandal und die Angst des Staates vor dem Bürger.

Der amerikanische Linguistik-Professor Noam Chomsky im August 2010 in Peking

Der amerikanische Linguistik-Professor Noam Chomsky im August 2010 in Peking

Eine halbe Stunde bevor Noam Chomsky eintrifft, sind im ehemaligen Bonner Bundestagsgebäude nur noch Stehplätze frei. Eingeladen hat die Deutsche Welle, die ihren 50. Geburtstag feiert und (auch) aus diesem Anlass einen internationalen Kongress ausrichtet: „Die Zukunft des Wachstums und die Medien„. Chomsky ist der Star der Veranstaltung. Nach seiner Rede kommt es zu tumultartigen Szenen. Kongressteilnehmer stürmen mit Kameras auf ihn zu, andere bedrängen ihn mit Autogrammwünschen. Chomsky muss von Bodyguards geschützt werden. Wir treffen ihn in einem ruhigen Nebenraum.

William T. Vollmann: Wie schreibt man ein Meisterwerk? | Kultur | ZEIT ONLINE.

Der amerikanische Schriftsteller William T. Vollmann hat ein grandioses Epos über den Zweiten Weltkrieg verfasst: „Europe Central“. Wie ihm das gelungen ist, erläutert er im Gespräch mit seinem Übersetzer Robin Detje und einem seiner größten Bewunderer, dem deutschen Schriftsteller Clemens Setz. Das Werkstattgespräch moderierte Ijoma Mangold.

William T. Vollmann ist ein literarischer Berserker. Sein Roman „Europe Central“ hat über 1.000 Seiten, und in das Werk sind Berge an Archivmaterial eingegangen. Der Anmerkungsapparat gibt einen spannenden Einblick, wie Vollmann aus historischen Quellen heraus seine literarischen Phantasmagorien entwickelt. „Europe Central“ erzählt von jenem Europa, das im Zweiten Weltkrieg verwüstet wurde. Das absurde Mahlwerk der Geschichte wird am Beispiel historischer Künstlerfiguren wie Käthe Kollwitz und Schostakowitsch oder der Militärs Wlassow und Paulus erzählt. Dabei springt der Roman hin und her zwischen deutscher und sowjetischer Perspektive. Ein Buch, das den Schrecken scharf herausarbeitet, aber ein großes Erbarmen mit all seinen Figuren hat. (…)