John Warner stellt mit Blick auf ChatGPT die Frage, was am aktuellen Schreibunterricht eigentlich erhaltenswert ist und was wir getrost über Bord werfen können. Beitrag in Deutsch und Englisch (post in German and English).

Quelle: Was erhaltenswert ist, wird bleiben – ChatGPT und das Schreiben im Unterricht (Gastbeitrag John Warner) – Unterrichten Digital

Dass es ein künstliches Bewusstsein geben wird – daran zweifelt der Philosoph Metzinger nicht. Doch was bedeutet das für die Menschheit? Im Podcast Ethik Digital spricht der Philosoph über Leiden, Digitalisierung und die Kraft der Meditation.

Quelle: Philosoph Thomas Metzinger über die Klimakrise und die Erforschung unseres Bewusstseins | Sonntagsblatt – 360 Grad evangelisch

In welcher Art von Krise befinden wir uns?
Corona ist vorbei. Oder tobt gerade in China und verändert dabei die Weltwirtschaft. Millionen von Containern hängen auf den Weltmeeren fest. Produktionsketten, die uns jahrzehntelang zuverlässig Regale, Mägen und Müllkippen füllten, zerbröseln. Und nun ist auch noch Krieg, ein brutaler Eroberungskrieg – wie soll man das jemals lösen, ob mit oder ohne schwere Waffen?

Vor zwei Monaten sah es noch so aus, als ob Europa durch die Wahl in Frankreich in den Zerfall getrieben werden kann. Morgen kann KRISE schon wieder etwas anderes sein: Preisexplosionen, Inflation, Nahrungsengpässe, Verarmung, Bürgerkrieg in Amerika, Tornados in Mecklenburg-Vorpommern…
Ach ja, und dann ist da noch die Klimakrise.
Könnte es sein, dass wir nicht einfach nur in „einer Zeit vermehrter Krisen“ leben?
Sondern in EINER Krise mit verschiedenen Ausformungen?
In einer Krise des Übergangs? (…)

Corona hat das Hamsterrad des Lebens gebremst, trotzdem sind wir rastloser. Soziologe Hartmut Rosa sagt, warum die Krise die Jungen besonders trifft.

Quelle: Soziologe Hartmut Rosa im Gespräch: „Die Umwege fehlen jetzt“

Ist es auch für Sie neu, dass die Rastlosigkeit von innen kommt und nicht aus dem äußeren Hamsterrad des Lebens?

Das ist der Zwiespalt der Moderne: Der Beschleunigungsdruck kommt nicht einfach nur von außen und das Resonanzverlangen nicht nur von innen. Sofern der Kapitalismus am Hamsterrad schuld ist, ist er auch in uns. Theoretisch war mir das klar, aber ich habe es nie so deutlich erfahren wie jetzt. Aber es gibt einen anderen Aspekt, den ich früh thematisiert hatte: Es entsteht nicht nur Aggressivität, sondern eine Art von Lethargie und Erschöpfung. Ich habe gerade ein Seminar gemacht über die Frage: Wo kommt Energie her? Ich beziehe mich da stark auf den Soziologen Randall Collins. Wir haben immer geglaubt, Energie sei eine individuelle und psychische Eigenschaft.

Ist nicht so?

Inzwischen glaube ich: Die Energie, die wir haben und in soziale Interaktion umsetzen, kommt aus der dichten Interaktion selber. Auch aus der irritierenden Interaktion, wenn mich zum Beispiel jemand anrempelt.

Auch geistig?

Genau. Wir sehen jetzt, wie sehr wir das Irritierende, das Überraschende, die erfreuliche oder unerfreuliche soziale Interaktion brauchen, um aus unseren Routinen, auch den gedanklichen, herauskommen zu können. Dieser digitale Austausch, den wir jetzt machen, ist gut, um schnell Informationen auszutauschen. Aber Kultur, sagt Hans Blumenberg, entsteht durch das Gehen von Umwegen – und diese Umwege fehlen jetzt. Ich kann nicht schnell auf einen Kaffee irgendwo hin, ins Kino oder jemanden treffen. Es ist nicht nur so, dass viele Menschen unruhig sind und ihre Resonanzachsen nicht so gut funktionieren, wie sie dachten, sondern dass ihnen eigenartigerweise – ich habe dafür keine empirischen, aber ganz gute anekdotische Evidenzen – sogar der Impuls zu sozialen Kontakten fehlt, wo sie sie haben könnten. Aber dazu fehlt die Energie, und dieser Energieverlust kommt aus der fehlenden sozialen Interaktionsdichte.

Siehe auch folgendes Interview in der Talkshow „Precht“ vom 30.1.2022:

https://www.zdf.de/gesellschaft/precht/precht-236.html

Was bedeutet eigentlich Überwachungskapitalismus und wer profitiert davon – die User*innen oder die grossen Unternehmen des Silicon Valley? Vermutlich letztere, die aus dem „sozialen Dilemma“ der ersteren Kapital schlagen – facebook ist nicht nur ein Netzwerk unter Freund*inen, Google weit mehr als eine Suchmaschine. Die amerikanische Ökonomin, Philosophin und Sozialpsychologin Shoshanna Zuboff (die auch in der Dokumentation „The Social Dilemma“ zu Wort kommt) hat den Begriff des Überwachungskapitalismus geprägt. Was genau ist das – und vor allem, was bedeutet es für die User*innen sozialer Netzwerke? Der Überwachungskapitalismus ist ein Verfahren, in dem nicht mehr Gewinn durch Umwandlung von Ressourcen mit Hilfe von Arbeit in neue Produkte generiert wird, sondern die menschliche Erfahrung selbst zum Rohstoff gemacht wird. Hierbei werden durch informationsverarbeitende Technologien menschliche Erfahrungen in Verhaltensdaten umgewandelt und verkauft, was Konzerne zu Profit führt und ihnen mehr Kapital einbringt. Das Verhalten der Menschen im Netz und in den sozialen Netzwerken liefert Erkenntnisse. Die großen Unternehmen machen diesen Verhaltensüberschuss zu Gewinn, indem sie aus freiwillig gelieferten Daten Prognosen zum Verhalten in der Zukunft tätigen – und außerdem die User*innen manipulieren. Gert Scobel setzt sich mit Fluch und Segen der sozialen Medien auseinander – auch und grade hier, auf youtube.

Interview mit dem Philosophen Markus Gabriel

„Moralischer Fortschritt lässt sich nur global bewältigen“

23. Juni 2020 von Michael Roesler-Graichen

Der Bonner Philosoph Markus Gabriel sieht in der Corona-Krise einen Weckruf für die gesamte Menschheit. Im Börsenblatt-Gespräch über sein neues Buch fordert er eine erneuerte Aufklärung, die für universale Werte eintritt und moralischen Fortschritt im 21. Jahrhundert ermöglichen soll.

Ihr neues Buch ist als Grundlegung des moralischen Fortschritts in einer Welt nach Corona gedacht. Hat die Pandemie die Notwendigkeit einer neuen moralischen Aufklärung verschärft?

Die Corona-Pandemie legt die Systemstrukturen, in denen wir uns als Menschheit organisieren, frei, und lässt sie wie vor einem Spiegel deutlich konturierter hervortreten. Dabei wird das Aufklärungsdefizit, das wir im 21. Jahrhundert nach wie vor haben, sichtbar. Wir sehen einerseits Rückschritte, etwa in der Präsidentschaft von Donald Trump, andererseits gibt es moralischen Fortschritt, zum Beispiel bei den Fridays for Future.

An wen richtet sich Ihr Buch?

Es geht mir darum, philosophische Theoriebildung – hier auf dem Gebiet der Ethik –  transparent darzustellen. Der philosophische Laie soll sich darüber informieren können, wie der ethische Forschungsstand unsere Gegenwart sieht, wobei das Buch natürlich auch die Absicht verfolgt, die gesellschaftliche Entwicklung in die moralisch wünschbare Richtung zu lenken.

Sie postulieren einen moralischen Realismus, der universale Geltung beansprucht? Würde der auch außerirdische Zivilisationen mit einschließen?

Ja. Im Prinzip gelten moralische Tatsachen für jedes Lebewesen mit vergleichbaren kognitiven Standards, also zum Beispiel auch für Aliens, die es gewohnt wären, andere Planeten zu unterjochen. Auch sie müsste man über die universalen Grundlagen der Moral aufklären, wozu gehört, dass Kolonialismus moralisch verwerflich ist.

Wenn moralische Tatsachen unabhängig von Gott, der Metaphysik und der Evolution existieren, wie Sie schreiben, worin gründen sie dann überhaupt?

Es gibt Tatsachen, die unbestreitbar sind und keiner weiteren Begründung bedürfen, wie etwa, dass man Kinder nicht foltern darf. Die Suche nach Gründen für das moralisch Offensichtliche würde zu nichts führen. Jeder Grund, den man angäbe, würde die Frage nach dem nächsthöheren Grund aufwerfen und so weiter.

In einer Welt von Fake News und Verschwörungstheorien geben meist Werte-Nihilisten und -Relativisten den Ton an. Wie kann es gelingen, dem universalen Ansatz einen argumentativen Vorteil zu verschaffen?

Im postmodernen Medienspektakel gibt es immer ein nihilistisches und relativistisches Hintergrundrauschen. Mir geht es darum, den universalistischen, werterealistischen Ansatz in die Debatte einzuführen. Dazu gehört auch die kritische Beleuchtung der Tradition. Auch Kant, der Vater des kategorischen Imperativs, hatte Gegner – zum Bespiel Herder, der Moralvorstellungen an Kulturen und Völker knüpfte. Und Kant selbst hat ethische Fehler begangen (er glaubte etwa trotz seines Universalismus an Menschenrassen).

Wie könnte moralischer Fortschritt im 21. Jahrhundert gelingen?

Indem wir bei uns selbst anfangen. Es ist eine weit verbreitete Einstellung, moralische Defizite im Fremdverhalten auszumachen. Insofern kann man etwa beim Thema Rassismus nicht mit dem Finger auf die USA zeigen, ohne einzugestehen, dass es auch in Deutschland einen Alltagsrassismus gibt, der gleichwohl andere Erscheinungsformen hat. Wir müssen den Blick auch immer auf uns selbst richten.

Sie behaupten in einer Passage Ihres Buchs, das 21. Jahrhundert sei selbst eine Pandemie. Was heißt das?

„Pan-demie“ stammt aus dem Griechischen und heißt im Wortlaut „alle Völker betreffend“. Weil Kommunikation und Warenwege im 21. Jahrhundert global vernetzt sind, könnte man es in diesem Sinne als Pan-demie bezeichnen. Das bedeutet: Alle Fragen moralischen Fortschritts lassen sich nur global bewältigen. Jeder Rückzug auf das Nationale oder einen Sonderweg erzeugt eine gefährliche Schieflage. Es bringt beispielsweise nichts, wenn in Deutschland Windparks gebaut werden, und gleichzeitig deutsche Unternehmen in China Autofabriken für fossile Fahrzeuge bauen.

Müssen sich Wirtschaft und Konsumverhalten radikal verändern, um das Überleben der Menschheit zu sichern?

Unbedingt. Die ökonomisch-politischen Teilsysteme und das Verhalten jedes einzelnen müssen so miteinander koordiniert werden, dass insgesamt ein moralischer Fortschritt erzielt werden kann. Es kann nicht oberstes Gebot des Staates sein, etwa Betrieben der Fleischindustrie den größtmöglichen Profit zu garantieren. Gleichzeitig sollte der Staat nicht generell den Fleischkonsum verbieten, weil dieser unter bestimmten Bedingungen moralisch vertretbar ist.

Wie gehen Sie damit um, dass viele Menschen einem neuen Aufklärungsprojekt gleichgültig gegenüberstehen?

Das ist natürlich ein ständiger Quell der Depression. Dafür, dass er moralische Tatsachen und die Existenz des Guten in die altgriechische Demokratie eingebracht hat, wurde Sokrates ja sogar hingerichtet. Als Philosoph frage ich mich ständig: Wie schaffe ich es, möglichst viele für den moralischen Fortschritt zu interessieren? Da müsste man schon in der Schule ansetzen: Jedes Kind lernt Rechnen und Schreiben, aber Grundlagen der Ethik werden nicht vermittelt. Das hat auch mit der Randständigkeit der Philosophie in unserer Gesellschaft zu tun. In dieser Hinsicht hat uns Frankreich einiges voraus.

Dieses Interview – das erste über sein neues Buch – erscheint auch leicht gekürzt im Börsenblatt Spezial Sachbuch, das sich unter anderem mit der aktuellen Situation des Sachbuchmarkts und mit Büchern über die Corona-Krise beschäftigt. Das Heft (Börsenblatt 26/2020) erscheint am 25. Juni (auch als E-Paper verfügbar).

Bibliographie:
Markus Gabriel: Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert, Ullstein, 384 S., 22 €, ET: 3.8.2020

Zur Person
Markus Gabriel, geboren 1980, studierte in Bonn, Heidelberg, Lissabon und New York. Seit 2009 hat er den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie. Er ist Direktor des interdisziplinären Center for Science and Thought und regelmäßiger Gastprofessor an der Sorbonne (Paris 1).

Artikel von: Michael Roesler-Graichen

Markus Gabriel „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“ (2020)

„Unsere hochmoderne Wissensgesellschaft des 21 Jahrhunderts hat auf der Basis naturwissenschaftlich-technologischen Fortschritts Systeme produziert, die unseren moralischen Fortschritt blockieren, indem sie per Fake News, digitaler Überwachung, Propaganda und Cyberkrieg dazu führen, dass wir das Vertrauen in Wahrheit, Wissen, Wirklichkeit und unser Gewissen verlieren. Das ist das Paradoxon unserer Zeit.“ (S.267)

Dirk Helbing, Professor für Computational Social Science an der ETH Zürich, spricht über die Ära der Digitalisierung und die Herausforderung, deren Möglichkeiten zum Vorteil der Zivilgesellschaft zu nutzen.

Dirk Helbing im Interview mit Manuela Lenzen, Februar 2020

https://www.wiko-berlin.de/wikothek/koepfe-und-ideen/issue/15/das-kalte-paradies/

UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer: „Vor unseren Augen kreiert sich ein mörderisches System“. von Herbert Ludwig / FASSADENKRATZER Der UN-Sonderberichterstatter über Folter (englisch UN Special Rapporteur on Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment), Nils Melzer, warnt erneut eindringlich davor, dass investigativer Journalismus, der Kriegsverbrechen und andere Straftaten von Regierungen aufdeckt, von den USA…

Nils Melzer: „Vor unseren Augen kreiert sich ein mörderisches System“. — KRITISCHES NETZWERK – Subversiv & ablehnend gegenüber Imperialismus, Neoliberalismus, Ausbeutung Sozialdarwinismus, Überwachungsstaat, Desinformation